Anklage gegen Medizinprofessorin
Ärztin wegen NS-Euthanasie vor Gericht
Die Staatsanwaltschaft Gera hat Anklage wegen Mordes gegen eine Jenaer Medizinprofessorin erhoben. Die heute 88-Jährige soll im Dritten Reich an der Tötung Behinderter beteiligt gewesen sein. Als "Verdiente Ärztin des Volkes" machte sie in der DDR eine steile Karriere und war Dekanin an der Universität Jena.
Jena/Gera - Die frühere Medizindekanin der Jenaer Universität, Rosemarie Albrecht, war von 1940 bis 1942 laut Staatsanwaltschaft Assistenzärztin in den damaligen thüringischen Landesheilanstalten Stadtroda bei Jena und mit der Leitung der pychiatrisch-neurologischen Frauenstation beauftragt. Nach bisherigen Ermittlungen starben während ihrer zweijährigen Dienstzeit 159 behinderte und psychisch kranke Patientinnen.
Albrecht wird beschuldigt, einer psychisch kranken Patientin absichtlich eine Überdosis Schlaftabletten verabreicht zu haben. Die Anklage stützt sich dabei im Wesentlichen auf die Akte einer damals 34-jährigen Patientin, die laut Anklage "in Tötungsabsicht Schlafmittel in einer die therapeutische Dosis weit übersteigenden Menge" erhalten hatte. Dies habe zu einer Vergiftung geführt, an deren Folge sie gestorben sei.
Laut Anklageschrift galt die Patientin auf Grund der Diagnose den Nazis als "lebensunwert". Die in Archivunterlagen gefundene Akte sei "sehr sorgfältig" geführt worden, sagte der leitende Geraer Oberstaatsanwalt Raimund Sauter. Albrecht war seit März 1941 für die Versorgung der Patientin zuständig. Die Universitätsprofessorin hat jedoch die ihr zur Last gelegten Vorwürfe stets bestritten und auch verneint, Verantwortung für eine Station besessen zu haben.
Das Ermittlungsverfahren gegen die Ärztin dauert bereits seit fast vier Jahren an. In Gang gekommen waren die Ermittlungen durch eine Anzeige des Stasi-Beauftragten Jürgen Haschke im Jahr 2000. Haschke war in alten Stasi-Unterlagen auf Untersuchungen mit dem Decknamen "Ausmerzer" gestoßen. Nach Informationen der Berliner Zeitung stammt der Aktenberg aus den Jahren 1964 und 1965 und enthält Untersuchungsergebnisse über die Ermordung von Psychiatrie-Patienten im Nationalsozialismus. Die Ermittler waren dabei auch auf den Namen Rosemarie Albrecht gestoßen.
Ursprünglich jedoch richteten sich die Ermittlungen gegen den ehemaligen Klinikchef Gerhard Kloos. Der Ex-Chefarzt hatte sich unmittelbar nach Kriegsende in den Westen abgesetzt und sollte durch die Untersuchungen als Kriegsverbrecher überführt werden, um die westliche Justiz in Misskredit zu bringen.
Krankenakten verschleiern wahre Todesursache
Schon ein Jahr nach Beginn der Ermittlungen empfahl der verantwortliche Ermittler jedoch damals die Einstellung des Verfahrens. "Da Beschuldigte aus der DDR in höheren Positionen des Gesundheitswesens stehen, könnte bei der Auswertung ein unseren gesellschaftlichen Verhältnissen widersprechendes Ergebnis erreicht werden", heißt es in den Akten.
Gemeint war damit auch Albrecht: Sie war inzwischen Inhaberin des Lehrstuhls für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde an der Uni Jena und leitete die HNO-Universitätsklinik. Die DDR hatte sie sogar als "Verdiente Ärztin des Volkes" ausgezeichnet. Und so verschwanden die Akten über ihre dunkle Vergangenheit wieder im "Giftschrank" der Stasi.
Heute, fast 40 Jahre nach den ersten Ermittlungen, bleiben der Staatsanwaltschaft lediglich Krankenakten zur Auswertung. Patienten, ihre Angehörigen und andere Zeitzeugen, die zur Aufklärung des Falles beitragen könnten, sind längst tot. So muss die Staatsanwaltschaft anhand der verbliebenen Dokumente nachweisen, dass Medikamente - verabreicht oder weggelassen - zum Tod der Patientinnen führten.
Diesen Nachweis zu erbringen, dürfte den Anklägern häufig schwer fallen, denn die Krankenakten der Euthanasie-Opfer hatten nur die Funktion, die wahre Todesursache zu verschleiern. Nach den offiziellen Einträgen starben die Patientinnen Albrechts eines natürlichen Todes, wie etwa Lungenentzündung, Entkräftung oder Herzversagen.
Wie viele Behinderte dem Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten im Dritten Reich zum Opfer fielen, ist daher bis heute nicht vollständig geklärt. Schätzungen gehen von bis zu 200.000 Menschen aus, darunter mindestens 5000 Kinder.
Symbolische Entschädigung von 4240 Euro
Seit 1939 wurden alle Patienten psychiatrischer Einrichtungen jedoch systematisch erfasst und in Konzentrationslagern ermordet. Ab 1941 gingen die Mediziner dazu über, die Kranken direkt in den Kliniken zu töten. Behinderte Kinder wurden gesondert von einem eigens eingerichteten Reichsausschuss erfasst und in so genannte Kinderfachabteilungen eingewiesen. Eine von etwa 30 dieser Art war in Stadtroda.
Wie die meisten an der Euthanasie beteiligten Ärzte wurden auch dort die Mediziner bis jetzt nicht zur Verantwortung gezogen. Klinikchef Gerhard Kloos leitete später eine Klinik in Göttingen, die Leiterin der Kinderfachabteilung, Margarete Hielscher, blieb in der DDR bis zu ihrer Pensionierung auf ihrem Posten. Beide sind bereits verstorben. So bleibt Rosemarie Albrecht die einzige Angeklagte des Falles.
Rund 1800 Überlebende von pseudomedizinischen Experimenten während der NS-Zeit erhalten noch im Laufe dieser Woche eine symbolische Entschädigung von 4240 Euro aus der deutschen Bundesstiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft". Der Toten wird heute unter anderem im früheren KZ Sachsenhausen bei Berlin gedacht: Der 27. Januar ist Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus - heute vor 59 Jahren hatten sowjetische Truppen das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz befreit.
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