Lilits Rede vor dem armenischen Parlament ging um die Welt – seitdem fürchtet sie um ihr Leben
Dieser Beitrag wurde am 03.07.2019 auf bento.de veröffentlicht.
Mit einer Rede im
armenischen Parlament löste Lilit Martirosya, 28, einen Skandal aus. Ihre Geschichte ging um die Welt, sie bekam Morddrohungen – heute ist sie untergetaucht und lebt versteckt in der armenischen Hauptstadt Yerevan.
Lilit ist trans, war mal Sexarbeiterin und führt eine kleine NGO, die sich für Prostituierte und LGBTQ einsetzt. Wir haben Lilit besucht – und uns ihre Geschichte erzählen lassen.
Lilit betet. Es ist der Morgen des 5. Aprils, der letzte Tag
ihres alten Lebens. Lilit steht vor Jesus, der als stilisierte,
gütig dreinblickende Ikone neben ihrem Bett hängt. Für das, was sie im Begriff ist zu tun, braucht sie Kraft.
Sicherheit. Doch sie zweifelt:
erinnert sich Lilit
Wort für
Wort erinnert sich Lilit heute daran. Sie erinnert sich an die
Energie, die sie plötzlich, wie sie sagt, in jedem Winkel ihres Körpers gespürt
hat. Die bei ihr war, als sie aufbrach, Richtung armenische
Nationalversammlung, dem höchsten Gremium ihres Landes. Noch nie hat dort eine transsexuelle Person gesprochen.
Lilit Martirosyan weiß, dass es gefährlich werden kann.
Stunden später steht sie auf der
Rednerkanzel, geglättete, kastanienbraune Haare mit blonden Enden, Blick nach
unten, auf ihren Zettel. Langsam liest sie ab, ihre Stimme
erfüllt den Raum.
Lilit
Sie betont jede Silbe, blickt kein einziges Mal auf. "Wir sind stigmatisiert
und diskriminiert in allen Bereichen der Gesellschaft, in Recht, Medizin." Die Rede hat Martirosyan mit dem Team ihrer NGO dutzende Male geübt. "Wir haben bis
2018 283 Übergriffe auf Transsexuelle gezählt", sagt sie.
Lilit fordert Gleichheit vor dem Gesetz und den Schutz ihrer Würde – ihre Menschenrechte.
Die erste, die darauf reagiert, ist Naira Zohrabyan, Vorsitzende
der Anhörung. Sie kneift die Augen zusammen und ruft in den Saal:
Naira Zohrabyan
Danach wirft sie Lilit Martirosyan hinaus.
In den Tagen nach der Rede hält der Hass Einzug in Lilits Leben.
"Schneidet ihr die Zunge ab", "Sie ist eine Schande für das Land", "ein Tier", "Wir sollten sie verbrennen", kommentieren Armenier auf Youtube und Facebook den Video-Mitschnitt. Dutzende drohen ihr mit dem Tod, ein Mann veröffentlicht ihre Adresse im Netz.
Einige Hundert rotten sich wenige Tage nach der Rede im Parlament zu einer Demonstration zusammen. "Ich weiß, was mit ihr zu tun ist, es steht in der Bibel: Todesstrafe", sagt ein Priester namens Ter Ghazar Petrosyan in armenische TV-Kameras, in seiner Hand ein Weihrauchfass, mit dem er die Nationalversammlung reinigen wolle. Lilit sei ein Dämon, ihre Rede habe die EU verfasst und ihr Ziel sei, das armenische Volk zu demoralisieren.
Kein Gesetz schützt Lilit Martirosyan vor dem Hass. Laut einem Ranking von 49 Ländern werden LGBTQ nur in der Türkei und Aserbaidschan stärker benachteiligt (Rainbow Europe). Armenien hat sogar ein Antidiskriminierungsgesetz – aber sexuelle Orientierung kommt darin nicht vor (Amnesty International). Viele LGBTQ versuchen deshalb die Flucht nach Europa (Heinrich-Böll-Stiftung).
Dabei hätte 2019 alles anders sein sollen.
Ein Jahr zuvor hatte das Volk in der "samtenen Revolution" die
korrupte Regierung gestürzt. Auch Lilit demonstrierte damals für den jetzigen
Premierminister Nikol Pashinjan. Der versprach mehr Demokratie,
Meinungsfreiheit und Gleichheit. Armenien sollte an Europa heranrücken. (DLF)
Aber Pashinjan schweigt zu den Vorfällen um Lilith. Er schweigt, während die Büros der EU und der UN in Armenien sowie die Botschafter der EU-Mitgliedsstaaten sich Mitte April besorgt zeigen und an die EU-Menschenrechtskonvention erinnern. Er schweigt, als der Eklat um Lilit Martirosyan weltweit Schlagzeilen macht.
Auch Lilit ist leise geworden – sie ist untergetaucht.
Sie schreibt
auf Facebook: "Bitte stellt mir keine Anfragen mehr und akzeptiert meine
psychische Verfassung." Im April schließt sie das Büro ihrer
NGO "Right Side". Nach mehreren
Anläufen gelingt ein Anruf per Skype. Lilit Martirosyan sitzt auf einer Couch
mit Blumenmuster. Statt langer Haare trägt sie eine unordentliche Kurzhaarfrisur, hat Ringe unter den Augen. Ohne Lidschatten, angeklebte Wimpern und Eyeliner
wirkt sie noch jünger als 28. Sie sei noch immer stolz, sagt sie. Aber: "Seit der Rede war ich nicht mehr draußen. Ich
weiß nicht, wann ich jemals wieder auf die Straße gehen kann, ich habe Angst."
Wenige Tage später beschließt Lilit, das "Right Side"-Büro wieder zu öffnen – trotz der Todesdrohungen. "Was soll ich sonst tun?", schreibt sie mir auf Facebook.
Ich besuche Lilit in ihrem versteckten Büro.
Dorthin gelangt man durch eine metallene Eingangstür, die nur öffnen kann, wer den
Zahlencode kennt. Wo "Right Side" sich befindet, ist
geheim und soll es bleiben. Es gibt kein Schild, dafür Kameras
vor dem Gebäude, im Treppenhaus, im Flur.
Im Arbeitszimmer sitzen vier Mitarbeiter an Computern. Einer davon ist Max, 24, ein junger Mann mit akkurat gestutztem Vollbart und dunklen Schatten unter den Augen. Er schaut auf und seufzt. "Die Morddrohungen", sagt er und schlägt einen Ordner auf, darin stapelweise Akten mit Polizeistempeln. "Alle unsere Anzeigen wurden zurückgewiesen – mangels Beweisen."
Auch Max spürt seit Lilits Rede den Hass.
"Meine
Mutter und mein Bruder wissen,
dass ich homosexuell bin – und ein Aktivist", sagt er. Vor
zwei Monaten noch, als er auf offener Straße verprügelt wurde, hielten
sie zu
ihm. Nach Lilits Rede kursierte seine Adresse im Internet. Vor
einigen Tagen hätten ihn Schreie und Klopfen an der Wohnungstür aus dem
Schlaf gerissen. "Wie kann
jemand wie er hier nur leben?", "Ein Dämon, er gehört verbrannt!", "Er
will mit
seiner Krankheit unsere Kinder infizieren!" Seine Mutter habe geweint und ihn schließlich rausgeworfen. Er schläft jetzt bei Lilit auf der
Couch.
Max
Eine Tür hinter ihm wird
geöffnet. Lilit Martirosyan trägt einen
kurzen Rock, hohe Schuhe und hautfarbenen Lippenstift.
Beschwingter Gang, gerader Rücken, angehobenes Kinn. Auf Lilits rechten Arm sind die
Worte "All equal all different" tätowiert. Sie lacht.
Lilit ist nicht das, was man von einer Frau erwartet, die seit einem Monat nicht auf die Straße gegangen ist, nicht einkaufen war oder in einem Café. Die jeden Tag von einem Freund im Auto mit verdunkelten Scheiben zur Arbeit und zurück gefahren wird. Lilit führt in ihr Büro und nimmt am Schreibtisch Platz. In einer Ecke hält eine goldfarbene Justitia die Waage der Gerechtigkeit.
Früher, erzählt Lilit, hat sie als Sexarbeiterin gearbeitet.
Transsexuelle in Armenien prostituieren sich oft,
weil sie selten andere Jobs bekommen. Kein Arzt in
Armenien operiere Transsexuelle, sagt Lilit. Ihre Geschlechtsangleichungs-OP führte ein russischer Arzt durch, nachts, ohne Verantwortung für
mögliche Folgen.
Lilit holt einen Ordner aus dem Regal, eine Kladde mit 26 offenen Polizeifällen. Das Schlimmste, sagt Lilit, war der Überfall im Park vor etwa zehn Jahren. Zusammen mit anderen Transsexuellen habe sie wie jeden Abend auf Freier gewartet. Plötzlich sei ein Auto auf die Wiese gerast. Männer mit Baseballschlägern und Eisenstangen seien auf sie zugerannt und hätten auf sie eingeschlagen. "Ich war so geschockt, ich konnte nicht rennen", sagt Lilit. Der Fahrer habe Gas gegeben und direkt auf Lilit zugehalten. Endlich habe sie reagieren können. Sie entkam, verletzt und unter Schock.
Danach mietete sie sich mit anderen Transsexuellen ein Appartement, um
Freier in sicherer Umgebung zu empfangen. Lilit sammelte Geld und gründete "Right Side".
Draußen, im Büro, sind plötzlich laute
Stimmen zu hören.
Lilit eilt nach draußen, alle drängen sich vor einen Computer, sprechen durcheinander. Darauf läuft ein Live-Video: Der armenische Premier hält eine
Pressekonferenz.
Lilit
Präsident Pashinjan sagt, worauf Lilit seit Monaten wartet. "Ich werde beschuldigt, dass ich eine armenische Bürgerin nicht verbrenne. Wir werden niemanden verbrennen! Wir werden die Rechte jedes einzelnen Bürgers von Armenien verteidigen. Denn sie alle sind gleich vor dem Gesetz. Und Diskriminierung ist verboten, unabhängig von Rasse, Geschlecht, Sozialstatus oder Alter."
Lilit Martirosyan schüttelt den Kopf. "Das ist historisch."
Eine Mitarbeiterin nickt: "Es ist ein Anfang." Max sagt: "Das
war unser Werk, wir haben das gemacht. Aber ich glaube es erst, wenn wir frei leben
können." Lilit hört auf das, was Pashninjan danach sagt. Er habe bei Klerikern Rat gesucht, verkündet er und lächelt dabei sogar ein bisschen. Die Geistlichen hätten ihm gesagt, auch Transsexuelle dürften Kirchen
betreten. Sie dürften die Beichte ablegen und sie dürften beten – wie alle Gläubigen.