Arzt unter Tötungsverdacht Dauerschlaf in den Tod
Am 12. Februar 2003 hatte die Krebs-Patientin Elise H. noch mal einen Arzttermin, nicht in der Klinik, sondern draußen, bei einem Neurologen, wegen ihrer Depressionen. Der ließ sie eine Minute auf der Stelle marschieren, die Augen geschlossen, die Hände vorgestreckt, ließ sie mal auf-, mal abschreiten, alles "o.B.", ohne Befund. Und weil die 72-Jährige tat, was sie tun sollte, notierte der Facharzt: "Bewusstseinsklar, geordnet, kontaktfreudig, gesprächig." Nur von "präfinal" schrieb er nichts.
Schon am nächsten Tag aber, so steht es in der Krankenakte der Sertürner-Klinik im niedersächsischen Einbeck, wurden die Kinder erwartet, der Sohn aus der Nähe, die Tochter aus München. Und kurz danach kam noch ein Besucher: der Tod.
Offenbar auf Wunsch und genau nach Plan setzte der Krebsarzt Klaus Krist (Name von der Redaktion geändert) alle Medikamente und jede Ernährung ab. Dann begannen die Krankenschwestern mit der Infusion, wie von Krist angeordnet: eine Mischung aus Morphium und dem Schlafmittel Rohypnol, mit der die Frau sanft aus dem Leben glitt. Am 17. Februar starb Elise H., irgendwann zwischen 14 und 16 Uhr, "friedvoll", wie der Arzt vermerkte.
Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft Göttingen gegen den Mediziner. In der vorvergangenen Woche hat sie die Patientenakte beschlagnahmt; der Verdacht: Tötung auf Verlangen. Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland verboten.
Schlimmer noch: Möglicherweise war die Frau gar nicht sterbenskrank, wie sie selbst und ihre Verwandten anscheinend geglaubt hatten. Gutachter des Medizinischen Dienstes des Krankenversicherung (MDK) in Niedersachsen, die den Fall im Auftrag der Krankenkasse DAK untersuchten, schließen jedenfalls nicht aus, dass unter gewissen Umständen "selbst eine Heilung" des Krebsleidens denkbar gewesen wäre. Starb also ein Mensch, der gar nicht hätte sterben müssen, weil ein Arzt den Tod herbeiführte?
Es ist der gleiche Verdacht, der seit Monaten auch die Ermittler im Fall der Internistin Mechthild Bach aus dem niedersächsischen Langenhagen beschäftigt. Bach sitzt seit drei Wochen in Untersuchungshaft, weil sie acht Patienten in der Paracelsus-Klinik mit einem ähnlichen Morphium-Cocktail wie der Arzt in Einbeck getötet haben soll.
Bislang sah es so aus, als sei dies ein bizarrer Einzelfall, eine Heilerin, die sich möglicherweise zur Herrin über Leben und Tod erhoben hat. Der neue Fall aber führt nun zu ganz anderen Fragen: Sind Teile der deutschen Ärzteschaft schlicht überfordert und geben deshalb schwerkranke Menschen zu früh auf? Oder hat der leichte Weg zum sanften Tod im Klinikalltag längst die Grenze verschoben, die der hippokratische Eid Medizinern setzt? Ein Eid, der sagt, dass Mediziner retten sollen, und nicht den Tod herbeiführen, selbst wenn auch der Lebenswille des Patienten nur noch schwach ist?
Während sich die Ermittler bei Bach oft mit spärlichen, lückenhaften Aufzeichnungen über Diagnose und Therapie begnügen müssen, wurde in Einbeck die Chronik eines angekündigten Todes akribisch geführt. Elise H. hatte Krebsmetastasen an der Lunge; wo der eigentliche Tumor saß, hatten die Ärzte nicht feststellen können. Hinweise darauf, dass die Patientin über Schmerzen geklagt habe, die mit dem Krebs zusammenhingen, fanden die sieben MDK-Gutachter in der Krankenakte aber nicht; eine geringdosierte Chemotherapie hatte sogar gut angeschlagen. An ihrem psychischen Zustand hatte das aber offenbar nichts geändert: "Pat. ist heute sehr depressiv", heißt es am 10. Februar 2003; Elise H. hatte Angst vorm Sterben.
In einem Brief an ihren Hausarzt schreibt Krebsspezialist Krist deshalb im Februar 2003 selbst: "Die Patientin wünschte schließlich den Tod", und weiter: "Nach Absprache mit Ärzten, Schwestern und insbesondere dem Sohn, der Schwiegertochter und der Tochter versetzten wir Frau H. in einen Dauerschlaf." Inzwischen will sich der Arzt auf Anraten seines Anwalts zu den Vorgängen nicht mehr äußern.
Dafür äußert der MDK erhebliche Zweifel an der Diagnose des Medicus, die Frau sei schon seit ihrer Einlieferung Ende Dezember 2002 eine "sterbende Patientin" gewesen. Mal nämlich verließ sie die Klinik, um bei einer Goldenen Hochzeit mitzufeiern, mal fuhr sie ins Wochenende nach Hause. "Die Patientin befand sich nicht im Endstadium eines Krebsleidens", schließt der MDK daraus. Ihre Depression könne auch damit zu tun haben, dass man ihr bloß eingeredet habe, sie müsse in Kürze sterben.
Dagegen, so mutmaßen die Gutachter, sei möglicherweise die "langfristige, gesicherte Versorgung" der Frau ein Problem gewesen. "Die Patientin war zu krank für zu Hause und zu krank für das Altersheim", schrieb Krist dem MDK in einer Stellungnahme. "Uns blieb quasi nichts anderes übrig, als die Patientin hier stationär zu halten bis zu ihrem Tode." Starb Elise H., weil niemand ihr noch eine Chance gab, niemand ihr noch Lebensmut zusprechen konnte - aber auch niemand wusste, wohin mit ihr? Auch die Angehörigen äußern sich nicht, der Sohn sagt nur: "Wir haben dem Arzt nichts vorzuwerfen."