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Atomangst in Japan: Tanken, packen, abwarten

Foto: AP/ Kyodo News

Augenzeugen in Japan "Oooh, es bebt wieder!"

Sie fliehen aus den Ruinen, stehen stundenlang an für Wasser, machen Hamsterkäufe. Zehntausenden Japanern steckt der Schock des Erdbebens in den Knochen - und der Alptraum nimmt kein Ende: Während sie am Telefon von ihren Erlebnissen berichten, bebt die Erde wieder.
Von Simone Utler

Hamburg - Sie haben Vorräte gekauft, den alten schwarzen Mercedes betankt und die wichtigsten Dokumente zusammengepackt - ihre deutschen Pässe, die für Japan nötigen Aufenthaltskarten und die Rentenpapiere für beide Länder. Wilhelm Ahrens, 60, und seine Frau können jederzeit in ihr Auto steigen und sich Richtung Süden aufmachen. Das Ehepaar lebt in Tsuchiura in der japanischen Präfektur Ibaraki, rund 200 Kilometer von dem Unglücks-Atommeiler Fukushima entfernt.

Wenn es nach ihrem Sohn ginge, säßen die Eltern schon längst im Auto nach Tokio, aber Wilhelm Ahrens beschwichtigt. "Jetzt keine Panik, wir warten erst mal ab", sagt er am Samstagnachmittag im Telefonat mit SPIEGEL ONLINE. "Welche Wahl hab ich denn? Würden wir tatsächlich nach Tokio fahren und es gäbe ein weiteres heftiges Beben, säßen wir in der Falle." An anderen Orten im Land könne man sich auch nicht viel länger als ein paar Tage aufhalten.

"Wenn sich herausstellt, dass uns eine Entwicklung wie in Tschernobyl droht, dann würde ich hier ohnehin alles abwickeln und nach Deutschland abreisen", so Ahrens. Aber darüber müsse er mal ein paar Stunden nachdenken.

Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe

Nach der verheerenden erlebt Japan nun einen der schwersten Atomunfälle seiner Geschichte. In der Anlage Fukushima 1 wurde durch eine Explosion ein Reaktorgebäude zerstört, es wurde eine massiv erhöhte Radioaktivität gemeldet. Die Regierung sprach von einer "nie dagewesenen Katastrophe" - dementierte aber eine Kernschmelze. In einem Umkreis von 20 Kilometern wurde die Gegend evakuiert.

Ahrens verfolgt die Entwicklung in Fukushima im Fernsehen und im Internet. Ihm und seiner Frau steckt noch das Erdbeben in den Knochen. "Das war schon sehr hart. Aber das eigentlich psychisch Belastende sind die Nachbeben." Die ganze Nacht hindurch habe es kräftig gewackelt, so der Unternehmer, der mit seiner Familie seit rund 22 Jahren in Japan lebt.

Zwar seien in Tsuchiura kaum schwere Schäden zu erkennen und seit dem Morgen gebe es wieder Strom. "Aber es gibt kein Wasser, und die Menschen machen Hamsterkäufe", so Ahrens. In den Geschäften seien die meisten Regale leer, jeder Kunde bekomme maximal sechs Flaschen Wasser. "Die Menschen stehen 100 bis 200 Meter in der Schlange für zwölf Liter Wasser. An der Tankstelle bekommt jeder nur sieben Liter Benzin, das Heizöl ist auf zwölf Liter pro Person beschränkt."

"Am Bahnhof stehen Menschen Schlange - mit Koffern"

Wilhelm Ahrens' Sohn Matthias hält sich zurzeit im Westen Tokios, in der Stadt Tachikawa, auf - aus beruflichen Gründen, aber auch, weil er sich in Tokio gerade nicht wohl fühlt. Er habe von ausländischen Bekannten gehört, dass Botschaftsmitarbeiter aus der Millionenmetropole nach Kyoto gebracht werden sollen. Auch große deutsche Firmen zögen ihre Manager ab. "Im japanischen Fernsehen wird die Situation meiner Ansicht nach heruntergespielt", sagte Ahrens SPIEGEL ONLINE.

Aus Gesprächen mit japanischen Kollegen über die Explosion in dem AKW habe er den Eindruck, die Menschen wüssten im Moment nicht, was sie machen sollen: "Niemand weiß, wie ernst die Lage ist." Die meisten Menschen blieben offensichtlich zu Hause. "Die Straßen in Tokio sind leergefegt, die meisten Züge sind leer", so der 31-Jährige, der die Stadt am Samstag verlassen hat. "An den Ticketschaltern für Langstrecken am Bahnhof stehen die Menschen jedoch Schlange - mit Koffern."

Yoko Sawa sorgt sich um ihre Eltern. "Sie leben in der Präfektur Ibaraki, die an Fukushima grenzt. Und ich kann sie nicht erreichen", so die junge Frau. Sie und ihr Mann Koichi sitzen am Abend vor dem Fernseher und verfolgen gebannt die Berichte über die Katastrophe im Atommeiler Fukushima. Noch machen die japanischen Nachrichten mit den Folgen des Tsunamis auf, aber die Berichte über die Ereignisse in dem Reaktor nehmen zu, inzwischen wird auch hier von der Explosion gesprochen. "Wir haben sehr viel Angst", sagt Koichi Sawa am Telefon.

"Wenn sich die Situation so entwickelt wie in Tschernobyl, dann werden wir hier eine ähnliche Katastrophe erleben", so der Mitarbeiter eines Kraftstoffunternehmens, der mit seiner Frau in Matsudo, einer Stadt unmittelbar nördlich von Tokio, lebt. Nach Süden fliehen? Nein, das sei keine Option, sagt der 45-Jährige. "Es ist sehr schwierig, an irgendeinen anderen Ort zu ziehen."

"Die Katastrophe ist immer präsent"

"Oooh, es bebt wieder", sagt er plötzlich während des Telefonats. Es sei aber kein schlimmes Beben, die Möbel wackelten kaum. "An so etwas sind wir gewöhnt", sagt Sawa, lacht und berichtet, wie er mit 30 Kollegen die Nacht nach dem heftigen Beben in seinem Tokioter Büro verbringen musste. Erst am nächsten Abend sei er nach Hause gekommen. Da seien die Züge aber schon fast wieder planmäßig gefahren.

"Seit dem Beben am Freitag bringt das Fernsehen auf allen Sendern rund um die Uhr ausschließlich Informationen zur aktuellen Lage. Egal auf welchen Kanal man schaltet, die Katastrophe ist immer präsent", schreibt der deutsche Geschäftsmann Marco Köder in einer E-Mail. Er berichtet von einem geordneten Chaos an einer U-Bahn-Station in Tokio am Morgen. "Lokale Züge und U-Bahnen waren noch außer Betrieb, an Taxiständen standen Schlangen von bis zu hundert Personen.

"Momentan fühlt man sich in Tokio noch sicher", so Köder. Gespräche mit Japanern auf der Straße ergäben das Bild eines eher geordneten Vorgehens. "Von Panik oder Flucht kann keine Rede sein. Man stellt sich einfach darauf ein, dass es wohl etwas angespannt in den nächsten Tagen bleiben wird. Manches Überlebenspaket besteht aus mehreren Tüten Chips und einigen Dosen Bier."

Allerdings sei es schwer zu sagen, wie die Japaner die Bedrohung einer nuklearen Bedrohung einschätzen. "Manchmal scheint es, als ob die Einstellung zur Kernenergie in Japan nicht sehr hinterfragt wird", so Köder. Eine echte Anti-Atomkraft-Bewegung habe es in Japan nie gegeben - und daher auch keine große Diskussion über die möglichen Folgen im Ernstfall. "Für mich als Teil einer Generation, die mit dem Schrecken von Tschernobyl aufgewachsen ist, stellt die momentane Situation definitiv eine Bedrohung dar", schreibt Köder.

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