Augenzeugenberichte vom Beben "Autos sprangen über die Straße"
Tokio - "Die Fenster wackeln, das Haus knarrt, die Schränke kippeln. Alle paar Minuten gibt es neue Erschütterungen. Ich höre die ganze Zeit Sirenen und Lautsprecherdurchsagen", berichtet Diana Kirchner aus Tokio. Um 14.45 Uhr Ortszeit sei das Beben so stark gewesen, dass sie sich mit Mitbewohnern aus ihrem Apartment nach draußen begeben habe, schreibt die deutsche Austauschstudentin in einer E-Mail an SPIEGEL ONLINE. "Kurz nachdem wir wieder ins Haus gegangen waren, gab es wieder eine schwere Erschütterung und wir sammelten uns erneut vor dem Apartment."
Inzwischen ist die junge Frau alleine in ihrem Zimmer - und wird von Unsicherheit geplagt. "Ich weiß nicht so recht, wie ich mich verhalten soll. Ich hoffe nur, dass es bald aufhört zu beben", so Kirchner.
Japan wurde vom schwersten Erdbeben seiner Geschichte erschüttert. Das Epizentrum lag 130 Kilometer östlich von Sendai und knapp 400 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Tokio. Der Erdstoß der Stärke 8,8 hat einen Tsunami ausgelöst, eine gewaltige Flutwelle überspülte die Ostküste der Hauptinsel Honshu. Zurzeit ist es nahezu unmöglich, per Telefon oder Internet Kontakt in die von der Flutwelle getroffene Küstenregion zu bekommen - Telefonleitungen sind tot, Internetseiten zusammengebrochen. Aus den vom Erdbeben erschütterten Gebieten dringen hingegen vereinzelte Augenzeugenberichte durch.
Yumiko I. spielte Klavier, als sie im Radio eine Tsunami-Warnung hörte. "Die Warnung galt für die Region Miyagi rund um die Stadt Sendai", schreibt die Japanerin, die das Beben in Tokio erlebte, in einer E-Mail an eine Bekannte. "Kurz darauf bebte schon die Erde." Seither erschüttern zahlreiche Nachbeben das Land.
In der U-Bahn, im Büro, beim Einkaufen - Millionen Menschen hielten sich zum Zeitpunkt des Bebens in geschlossenen Räumen auf. "Wir waren in einem Supermarkt. Alles wackelte und fiel um, Flaschen zerbrachen", berichten Manuel Bezjak und Susanne Bauer, die gerade bei Freunden im Großraum Tokio zu Besuch sind. Größere Schäden hätten sie nicht ausgemacht. "Allerdings kommen wir jetzt nicht mehr in die Stadt und sitzen hier fest", berichten die beiden in einer E-Mail.
Eine der sichersten Konstruktionen in Nagoya ist das 14-stöckige Gebäude des staatlichen Fernsehsenders NHK. "Das Gebäude wankte mit einigen Pausen knapp über eine Stunde", berichtet Marco Köder, der zu diesem Zeitpunkt in dem Hochhaus einen Kunden besuchte. "Wir mussten die Präsentation abbrechen und wurden gerade per Video-Live-Schaltung über die Schäden in Tokio informiert, als das nächste Beben anfing. Angstschweiß stand dem Tokioter Kollegen im Gesicht", schildert der 39-Jährige seine Erlebnisse.
"Das Telefonnetz ist völlig überlastet"
"Viele Leute sind verängstigt, weil sie ein solch starkes Beben noch nie erlebt haben", schreibt Kenji Kanagawa, der das Beben in Tokio erlebte, in einer E-Mail an SPIEGEL ONLINE. "Viele Menschen halten sich draußen auf den Straßen und in den Parks auf", berichtet der 25-jährige Deutsch-Japaner, der in Tokio studiert. "Wir haben hier viele Erdbeben und die Menschen sind daran eigentlich gewöhnt. Aber dieses war wirklich heftig und beängstigend."
"In meiner Wohnung sind Gläser kaputtgegangen, und meine Bücherwand ist umgefallen", so Kanagawa. Es habe noch stundenlang kleinere Nachbeben im Minutentakt gegeben, allein in Tokio hätten Millionen Menschen keinen Strom. "Es gibt einige Feuer in Tokio und einige kleinere Schäden", so Kanagawa. Handys funktionierten nur noch eingeschränkt: Man könne SMS senden, aber jemanden anzurufen, sei fast unmöglich.

Ein SPIEGEL-ONLINE-Redakteur bekommt die kurze Nachricht einer Bekannten, die sich in der nahe Tokio gelegenen Millionenstadt Saitama aufhält. "Augenzeugen berichten, der Verkehr sei zusammengebrochen, ein Shopping-Center wurde nach einem Brand schwer beschädigt", berichtetet Kimiko Kubota, 30, am Morgen kurz per Telefon. Seither ist die Grundschullehrerin nicht mehr zu erreichen.
Tatsächlich scheinen derzeit fast alle Leitungen zusammengebrochen zu sein. Wählt man japanische Nummern, ertönt entweder ein Besetztzeichen oder es wird darauf hingewiesen, dass dieser Anschluss zurzeit nicht zu erreichen ist. Nachrichten aus Japan kommen zumeist per E-Mail.
"Das Telefonnetz ist völlig überlastet, E-Mails können nicht regelmäßig empfangen beziehungsweise gesendet werden", berichtet Julian Nagano aus Tokio. Im Zentrum seien alle Züge gestoppt, in vielen Orten herrsche Stromausfall. "Da es allmählich dunkel wird, wurde soeben empfohlen, Taschenlampen bereitzulegen", schreibt der gebürtige Osnabrücker, der derzeit in Japan lebt.
"Alle sind völlig aufgewühlt"
Auch Jon Ellis kann über das Handy-Netz niemanden erreichen. Der britische IT-Spezialist, der rund 20 Zugminuten westlich von Tokio lebt, kommuniziert über sein Smartphone per E-Mail. Er habe die Familie seiner Frau, die in Chiba, näher am Epizentrum lebt, über Skype und Festnetz erreicht. "Zum Glück haben wir hier noch Internet und Strom", so Ellis in einer E-Mail an SPIEGEL ONLINE. Jeder aus der Familie sei gesund. "Aber alle sind völlig aufgewühlt."
"Das Beben begann ganz langsam und baute sich dann immer weiter auf", berichtet Ellis. Nach rund einer Minute habe die Erde so stark gebebt, dass er mit seiner Frau auf die Straße gerannt sei. "Es war fast unmöglich zu stehen. Die parkenden Autos sprangen regelrecht herum", schreibt der Engländer. Rund eine Minute bebte die Erde immer stärker, dann ließen die Bewegungen langsam nach, so Ellis. Er und seine Frau seien aber trotzdem noch eine Weile draußen geblieben.
Zurück im Haus fanden sie Chaos vor. "Die Bücher waren aus den Regalen gefallen, einige Möbel waren umgekippt. Aber zum Glück war nichts zerstört." Auch Stunden nach dem ersten Beben seien regelmäßig Nachbeben zu spüren. "Einige sind ziemlich stark. Es scheint sich zu beruhigen, fühlt sich aber so an, als würde dieses Grollen die ganze Nacht weitergehen."
In dieser Notsituation beweisen die Japaner Ruhe und Pragmatismus. "Die Menschen sind ziemlich unaufgeregt und treffen Vorkehrungen", berichtet Ellis nach einem Einkauf im örtlichen Lebensmittelladen. "Der Laden war voll mit Menschen. Alle kaufen Vorräte für den Notfall: Essen, Wasser, Batterien.
Yoko Sawa war schon im Moment des Erdbebens pragmatisch. "Ich musste den Geschirrschrank festhalten", schrieb die Japanerin in einer E-Mail an die Leiterin des Japanischen Kulturvereins in Düsseldorf. Gas und Telefon funktionieren in Matsudo nicht, so Sawa, aber ihr Mann habe ein Handy, mit dem er die Familie, die in einer anderen Stadt lebt, kontaktiert habe. Am Haus ihrer Eltern seien Ziegel vom Dach gefallen, die Töpferarbeiten ihres Vaters seien zerstört - aber der Familie sei nichts geschehen.
Tausende Pendler zu Fuß auf dem Weg
Das erste Beben erschütterte auch das Büro der Deutsch-Japanischen Handelskammer im Herzen Tokios. "Die Mitarbeiter flüchteten aus dem fünften Stock über die Treppe auf die Straße", schreibt Kommunikationsleiter Pascal Gudorf. Nach zwei Stunden im Park hätten sie sich wieder ins Büro gewagt. "Inzwischen sind die meisten unserer Mitarbeiter in Gruppen Richtung Hause marschiert - mit Helm und Notfallgepäck", so Gudorf.
Das Beben hat in den Metropolen den Verkehr in weiten Teilen lahmgelegt. U-Bahnen steckten teilweise stundenlang fest. Alle Straßen, die aus Tokio herausführen, sind verstopft. Inzwischen machen sich Tausende Pendler zu Fuß auf den Weg. Entweder sie laufen nach Hause oder sie müssen in Büros und Hotels übernachten.
Auch Freunde von Ellis hängen in Tokio fest. "Sie berichten, dass die Bahnhöfe völlig überfüllt seien, die Menschen aber ruhig blieben", gibt Ellis die Informationen weiter. "Die Eisenbahn fährt nicht mehr, die Schnellbahnen sind gesperrt, die Hauptstraßen sind rappelvoll."
Irina Scheibal erlebte das Beben auf der Insel Oshima vor der Bucht von Tokyo. "Es hat gerüttelt und gewankt, bis jetzt - über ein Stunde danach - hört es nicht auf. Viele stärkere Nachbeben sind darunter", so die deutsche Auswanderin. Sie schleiche immer wieder ins Haus und renne dann hinaus. "Mit den wichtigsten Sachen unter dem Arm."
Scheibal berichtet in ihrer E-Mail von brennenden Gebäuden, Menschen, die auf Dächer geflüchtet sind und hilflos auf die Wassermassen unter ihnen schauen, ganze Anlege-Piers und Autokolonnen schwämmen losgerissen in den Straßen. "Das ist ein Ausnahmezustand - selbst für die erdbebengewohnten Japaner", so Scheibal.