Sexistische Crash-Test-Dummies: Warum Frauen in Unfällen öfter sterben
Dieser Beitrag wurde am 12.11.2019 auf bento.de veröffentlicht.
Autounfälle können tödlich sein, das weiß Corina Klug, 32. Sie ist Forscherin für Trauma-Biomechanik an der TU Graz und untersucht, wie Verletzungen im Straßenverkehr verhindert werden können. Dazu entwirft sie virtuelle Menschen: Digitale Stapel aus Millionen kleiner Elemente, die Biegsamkeit und Brüchigkeit von Knochen, Haut, Hirn imitieren. Also deren mechanisches Verhalten. Auf Corinas Rechner prallen sie in simulierten Unfällen aufeinander, auf Motorhauben, auf die Straße. Sie explodieren und sterben. Wie im Straßenverkehr.
Dass Frauen im Auto schlechter geschützt sind als Männer, lernte Corina erst vor ein paar Jahren. Auf einer Konferenz erzählte ein Professor, wie er ein besonders sicheres Auto kaufen wollte. Aber das sicherste Auto für ihn war gar nicht das Sicherste für seine drei Töchter.
Seitenairbags, Nackenstützen, Gaspedale – alles ist normiert für einen sogenannten 50-Perzentil-Mann.
Er wiegt 78 Kilogramm und misst 1,75 Meter. Die Hälfte der europäischen Männer sind größer, die Hälfte kleiner.
Dieser Norm-Dummy wird heute für die meisten Crashtests verwendet. Viele Insassen deckt die Puppe nicht ab: Kinder, große Männer, Dicke – und die meisten Frauen. "Der Dummy ist größer als Frauen im Durchschnitt", sagt Corina. "Vereinzelt werden auch Tests mit einem weiblichen Dummy durchgeführt, das ist allerdings ein 5-Perzentil-Dummy. Das heißt: Nur 5 Prozent der Frauen sind kleiner. Er ist also sehr klein und sehr leicht und wird nicht bei allen Tests vorgeschrieben."
Oft ist auch gar nicht klar, warum Frauen schneller verletzt werden, sagt Corina. "Es gibt viele Unbekannte und nicht alle Forscher sind sich einig: Warum ist das bei Frauen ausgeprägter? Die Unfallforschung ist komplex und wir brauchen mehr Grundlagenforschung."
Sicherheit im Auto hat also ein Sexismusproblem.
Das zeigt sich, ganz massiv, auch in den Zahlen. Auf den ersten Blick werden in Deutschland nur etwas mehr Männer in Verkehrsunfälle mit Verletzten verwickelt. Aber Frauen fahren auch deutlich seltener im Auto. Im Schnitt legten Männer 2017 am Tag 29 Kilometer am Tag mit dem Auto zurück, Frauen nur die Hälfte (14 Kilometer). (Verkehrsministerium)
Dass Frauen seltener Auto fahren, aber häufiger verunglücken, wurde schon 1972 berichtet. Der SPIEGEL hatte damals als Erklärung parat: Das sei "vermutlich vor allem auf die größere Fahrpraxis zurückzuführen" (SPIEGEL)
Heute zeigt sich: Nicht die Frauen sind das Problem – sondern die Autos.
Darauf hingewiesen – zumindest im englischsprachigen Raum – hat kürzlich Caroline Criado Perez. In ihrem Buch "Invisible Women" zählt die britische Journalistin technische Entwicklungen auf, bei denen Frauen einfach nicht mitgedacht wurden. Criado Perez nennt das den "Gender Data Gap".
Sie ist wütend: Über die "weiblichen" Dummies, die winzig sind und noch dazu oft nur auf dem Beifahrersitz fahren dürfen. Und über die fehlenden Sicherheitsgurte für Schwangere. Autounfälle sind die häufigste Todesursache für ungeborene Kinder. Rutscht der Gurt über den Bauch, könnte sich bei einem Unfall die Plazenta ablösen. Studien dazu sind aber spärlich. (Criado Perez im Guardian )
Wie funktionieren Crash Tests?
Bei Crashtests wird genau vorgeschrieben, in welcher Geschwindigkeit die Objekte aufeinanderprallen sollen, wie viel Prozent der Oberfläche sich berühren muss – und welcher Dummy im Wagen sitzen muss.
Die Dummies können dabei ganze Körper sein, manche Dummies bestehen aber auch nur aus einem Rumpf, einem Kopf oder einem Oberschenkel. Sie sind mit Sensoren und teilweise integrierten Datenerfassungssystemen ausgestattet. Sie übertragen die Beschädigungen an eine Software, die dann ausgewertet wird.
Woran liegts?
Crash-Tests sind teuer. Manche der Dummies kosten bis zu einer Million Dollar. Und mehr Dummies bedeutet auch mehr Tests – und mehr kaputte Testwagen. Dazu kommt: Für die Zulassungen in den USA, Japan, China gibt es ganz andere Test-Szenarien, andere Dummy-Vorgaben.
Dabei produziert Humanetics, der größte Hersteller eine Reihe an Dummy-Größen. Seit 2014 gibt es sogar besonders dicke Puppen. "Die Chance, dass Übergewichtige bei einem Autounfall sterben ist 78 Prozent höher", sagte CEO Chris O'Connor damals dem Fernsehsender CNN .

Wer ist für Crash Tests verantwortlich?
Bevor ein neues Automodell auf den Markt kommt, muss es in mehrere Runden Crash-Tests bestehen:
Erst testet der Hersteller ein neues Auto nach internen Richtlinien. Oft erst mit virtuellen Tests, dann mit physischen Dummies verschiedener Größen. So kann beispielsweise die Höhe der Sitzgurte und Airbags noch angepasst werden.
Für die Zulassung muss der Hersteller dann bei einer staatlich zugelassenen Stelle (zum Beispiel der DEKRA) eine Runde physischer Crash Tests absolvieren. Die Richtlinien dafür legt die UNECE fest, die UN-Wirtschaftskommission für Europa.
Weil die Hürden der Zulassungstests bekanntermaßen eher niedrig sind, gibt es zusätzlich noch die Sterne-Tests nach den Euro NCAP-Standards. Die Bewertungen (1 bis 5 Sterne) tauchen dann in den Verkaufs-Broschüren der Autos auf. Hersteller absolvieren die Tests freiwillig, denn eine 5-Sterne-Wertung ist gutes Marketing.
Was ist anders an Frauen?
Sie verletzen sich anders. Beim Frontalaufprall etwas häufiger an Kopf, Oberschenkeln, Becken und Unterarmen, sagt Matthias Kühn von der Unfallforschung der Versicherer. Zum Teil liege das an der geringeren Körpergröße. Frauen sitzen näher am Lenkrad, näher am Airbag, kommen schlechter an die Pedale.
"Aber Frauen sind auch häufiger in Kleinwagen unterwegs, die bei Kollisionen aufgrund ihrer geringeren Masse eine höhere Bremsverzögerung und größere Deformationen erfahren", sagt Kühn. Außerdem hätten die UDV-Daten ein Paradox ergeben: Zum Zeitpunkt der Studie (1988 bis 2008) setzte Euro NCAP nur den 50-Perzentil-Mann ein. Trotzdem profitierten Frauen mehr von den Verbesserungen in der Fahrzeugsicherheit als Männer, sagt Kühn.
Eine andere Geschichte erzählt der "Peitschenschlag".
So nennen Experten flapsig den Rückstoß beim Heckaufprall. Bereits in den Sechziger Jahren haben Forscherinenn und Forscher festgestellt, dass Frauen dabei häufiger Schleudertraumata davontragen. Möglicherweise liege das auch an der schwächeren Nackenmuskulatur, sagt Kühn.
Die Autoindustrie handelte. Corina erzählt, nach Tests und Studien mit dem 50-Perzentil-Männer-Dummy wurden die Kopfstützen in vielen neuen Modellen verbessert und schützen beim Heckaufprall heute besser. Zumindest Männerköpfe. Schnell zeigten weitere Studien, dass das Risiko für Kopfverletzungen für Frauen gleichzeitig deutlich angestiegen war (die Forscherin Astrid Linder erklärt das eindrücklich in einem TEDxTalk ).
Das sagen die Autobauer
Wir haben die fünf größten, deutschen Autokonzerne gefragt, wie sie ihre neuen Wagen testen. VW, Audi, BMW und Daimler verwenden demnach auch intern die drei gängigsten Dummies (5%-Frau, 95%-Mann und 50% Mann). "Die genannten Perzentile werden verwendet, um die Gesamtbevölkerung möglichst gut zu repräsentieren", heißt es bei Audi. Opel hat die bento-Anfrage noch nicht beantwortet.
Viele Autobauer begrenzen ihre Crash-Tests auf die gesetzlichen Vorgaben (siehe Kasten).
Volvo stößt in diese Lücke. Mit einer Kampagne namens E.V.A nutzt der Konzern das Thema Frauensicherheit für Marketing. "Wenn eine Frau in ein Auto steigt, dann muss sie eigentlich davon ausgehen können, dass sie genauso gut geschützt ist wie ein Mann", steht auf der Webseite.
Auf Instagram läuft derzeit die etwas angestrengte Aktion #SelfieForSafety, die dazu aufruft, Selfies mit Anschnallgut zu machen. Die Fotos sollen angeblich in die Weiterentwicklung und Verbesserung der Gurte einfließen. Man sehe aber vor allem, dass viele den Gurt falsch einstellen, sagt der Leiter der Volvo-Produktkommunikation, Michael Schweitzer.
Tatsächlich ist der Konzern aber engagiert, betreibt eine eigene Unfallforschung, die sich an Forschungsprojekten beteiligt und 2003 einen schwangeren Dummy entwickelt hat (Volvo ). In virtuellen Crash Tests nutze Volvo diverse Frauenmodelle, sagt Schweitzer. Am Computer werden die Maße schrittweise hochgeschraubt, um eine "Bandbreite" an Gewichten und Größen zu testen.
Brauchen wir Frauenautos?
Die Unfallforschung der Versicherer schlägt bereits seit Jahren vor, Autos generell individualisierbarer zu machen. Die Ergonomie im Auto müsse für kleine Fahrer – also vor allem Frauen – verbessert werden. Man könnte beispielsweise über Knieairbags, verstellbare Pedale und besser einstellbare Lenkräder nachdenken. (UDV ) Autowerkstätten bieten Anpassungen für besonders kleine oder große Fahrerinnen und Fahrer an. Auf Ebay gibt es Anschnallgurte für Schwangere, die zwischen den Beinen verlaufen. Zugelassen sind sie aber nicht.
Volvos Erfahrungen relativieren die Idee der Indidivualisierung allerdings. Der Autobauer hatte mit einstellbaren Kopfstützen experimentiert. Die Erkenntnis: "Kopfstützen, die in der Höhe selbst eingestellt werden können, werden in den meisten Fällen falsch eingestellt", sagt Volvo-Sprecher Schweitzer.
Als Maschinenbauerin Corina das hört, fällt ihr gleich eine Lösung ein.
Wie wäre es mit virtuellen Assistenten, die Größe und Gewicht der Person auf dem Sitz messen und sich automatisch einstellen – oder blockieren, wenn diese falsch eingestellt sind? Corina ist heute Teil des EU-Forschungsprojektes "Virtual" , das den "Gender Safety Gap" verringern soll. "Wir müssen in Zukunft mehr in Forschung investieren, damit wir das Problem angehen können."
Das Ziel der neuen Forschung ist noch groß angelegt: Die absolute Durchschnittsfrau. "Es gab die 50-Perzentil-Frau bis vor Kurzem nicht einmal virtuell", sagt Corina. Nach Abschluss des Projekts werden die Modelle kostenlos als Open Source zur Verfügung gestellt.
Die schwedische Forscherin Astrid Linde leitet das Projekt. Sie forscht schon lange zum Thema und hat bereits einen weiblichen Dummy für die Peitschenschlag-Auffahrunfälle von hinten entwickelt. Bislang wird er allerdings kaum verwendet. "Er kommt leider in keiner Richtlinie vor", sagt Corina.
Für die Typzulassung ist das Kraftfahrt-Bundesamt zuständig. Es ist dem Verkehrsministerium unterstellt, das widerum auch im Euro NCAP-Konsortium sitzt. Auf mehrfache bento-Anfrage wollte das Ministerium sich aber nicht zum Thema äußern.
Die gesetzlichen Vorgaben für Crashtests zu ändern, wäre ein langwieriger Prozess, sagt UDV-Crashtest-Experte Kühn. Will man auf neue Entwicklungen schnell reagieren, könnte man die Autobauer noch am schnellsten mit den Sterne-Tests unter wirtschaftlichen Druck setzen. Tatsächlich hat EuroNCAP für 2020 eine völlig neue Teststrategie geplant (Euro NCAP ). Es soll um die Sicherheit von E-Autos gehen, strengere Regeln für dicke SUVs und mehr Rücksichtnahme auf Unfallgegner.
Auch ein neuer Dummy wird dann vorgeschrieben: Er heißt "Thor 50th Male".