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Graffiti »Bilder statt Bomben«

Die Graffiti-Kunst boomt: In Frankfurt vermittelt die erste rein kommerzielle Sprüheragentur Untergrundkünstler an Werbewirtschaft und private Auftraggeber. Zugleich versuchen Polizei und Bürgerinitiativen, gegen wilde Sprayaktionen vorzugehen - doch selbst anerkannte Graffiti-Artisten brauchen den Reiz des Illegalen.
aus DER SPIEGEL 32/1995

Im Bankenviertel des Frankfurter Westends sind auch nachts jede Menge Polizisten und Wachleute unterwegs. Und doch bleiben die drei schwarzen Gestalten unentdeckt, die auf leisen Turnschuhsohlen von Schatten zu Schatten huschen, immer gebückt und einen Rucksack voller Farbdosen auf dem Buckel; nur die Stahlkugeln darin klappern verräterisch.

Auf einer kleinen Rasenfläche in der Nähe der U-Bahn-Station Westend verschwindet das Trio endgültig aus dem Blickfeld. Mit einem Vierkantschlüssel hat der Graffiti-Sprüher mit dem Künstlernamen Grey den Notausgang des U-Bahn-Schachtes geöffnet, und ein paar Sekunden später balanciert er mit seinen Freunden auf einem 30 Zentimeter breiten Vorsprung neben dem Gleis entlang. Eine lange Nacht voller ermüdender Arbeit steht ihnen bevor.

Auffälligerweise kommt auch Helge Steinmann, 25, morgens nur mühsam aus dem Bett und taucht erst nach Mittag im Büro auf. Manchmal beschwert sich sein Chef Kuros Rafii, 25, der schon seit Stunden am Computer schwitzt, über die Verspätung, während die beiden zur Begrüßung die Handflächen gegeneinanderklatschen lassen. Vor einem halben Jahr haben Steinmann und Rafii »Oxygen« gegründet, die erste rein kommerzielle Graffiti-Agentur in Europa, »wahrscheinlich sogar weltweit«, so Rafii.

Rund zwei Dutzend der besten Sprayer Deutschlands, der Schweiz und Frankreichs werden von den beiden Jungunternehmern vermittelt; ihre Kunden aus Industrie und Werbung lassen sich Fassaden und Brandmauern, Leinwände oder Vorführwagen besprühen. Während sich Agenturchef Rafii um die Geschäfte kümmert, bürgt Aerosolkünstler Steinmann als Art Director mit seinem Künstlernamen »Bomber« für Qualität.

Schon seit Jahren malt er Auftragswerke für BMW oder Mercedes, entwirft Plattencover für Konzerne wie Sony und besprüht Leinwände auf dem Bundeskanzlerfest oder in Fernsehshows. Mit der Agentur im Rücken, glaubt Steinmann, müßten sich die Graffiti-Künstler nicht mehr über den Tisch ziehen lassen. »Viele Auftraggeber wollen nur das Klischee kaufen, möglichst billig, egal wie schlecht«, sagt der Mann, den sie Bomber nennen, und schüttelt verärgert das schon leicht gelichtete Haupt.

Auch der illegale Sprayer Grey trägt einen hohen Haaransatz und hat sich seinen europaweiten Ruf unter dem Pseudonym »Bomber« ersprüht. Der gemeinsame Name bescherte Helge schon viel Ärger und eine Hausdurchsuchung. »Die Graffiti-Fahnder halten uns wegen Namen und Stil doch glatt für eine Person«, sagt Steinmann mit ironischem Lächeln. Auf jedes in Graffiti-Magazinen und Fanzines veröffentlichte Grey-Bild allerdings sei er mindestens genauso stolz wie auf seine eigenen.

Beide Bomber kosten die Deutsche Bahn AG viel Geld: Während Bomber-Grey in seiner Laufbahn schon Reinigungskosten in Millionenhöhe verursacht hat, ließ sich die Bahn eine von Bomber Steinmann besprühte Unterführung in Rüsselsheim 20 000 Mark kosten.

Das Rüsselsheimer Projekt ist der erste Annäherungsversuch zwischen den Bahn-Managern und den bislang als Vandalen geächteten Sprühwerkern. Denn auch die Eisenbahner wissen mittlerweile, daß die Sprüherehre es verbietet, gelungene Arbeiten eines Konkurrenten zu übermalen. »Wir wollen testen, ob die Szene legal gesprayte Fußgängertunnel respektiert«, sagt DB-Sprecherin Christine Geißler-Schild.

Bislang scheint das Konzept zu funktionieren: Seit Ende Mai blieb das Bild von Helge Steinmann und zwei Kollegen unangetastet. Die legale Bemalung weiterer Unterführungen im Rhein-Main-Gebiet wird diskutiert. Nur an die Freigabe der begehrten Züge denken die Bahn-Verantwortlichen noch nicht - dabei könnten sie auf diese Weise sparen: Die Reinigung eines Zuges kostet bis zu 100 000 Mark. Wird ein Sprayer ertappt, dann geht die Rechnung an den Täter. Das schreckt jedoch kaum ab.

Im Frankfurter Raum fahren derzeit die meisten »Whole Trains« (so werden in ganzer Länge besprayte Züge genannt, die den Graffiti-Künstlern maximalen Ruhm bescheren) in Deutschland - so viele, daß die Bahn nur noch mit nächtlichen Reinigungsaktionen nachkommt, weil die Züge rollen müssen.

Nächtliche Anstrengungen nehmen allerdings auch die illegalen Sprüher in Kauf: Grey und seine Freunde etwa müssen bei ihrem Ausflug ins Frankfurter U-Bahn-Netz erst mal einen Kilometer durch den Tunnel hasten, bis sie aus dem Schienengraben steigen und im toten Winkel der Überwachungskameras durch die Station Alte Oper robben. Noch einmal 500 Meter Tunnel, und sie sind am Ziel ihrer Expedition: eine frisch getünchte Wand in der Station Hauptwache - die wichtigste Nahverkehrskreuzung in Frankfurt. Das bedeutet: viele Züge, viele Menschen, viel Ruhm.

»Wir könnten auch Bomben installieren, aber wir malen nur Bilder«, sagt Grey. Bis die erste U-Bahn fährt, wird er zehn Dosen geleert haben und bei jedem Geräusch erschrecken - alles nur für ein wenig Bewunderung in der Szene.

Am Nachmittag des folgenden Tages ringt Helge Steinmann im Oxygen-Büro mit allerlei Grundsatzfragen: ob die Agentur Aufträge für Parteien oder die Bundeswehr übernehmen dürfe, über Formulierungen in Geschäftsbriefen und wer mit Kaffeekochen dran ist. Die vielen Kompromisse bei der Arbeit an legalen Graffiti schmerzen: »Die Wünsche der Kunden schränken unsere kreativen Möglichkeiten oft ein«, klagt Steinmann, und auch die Chance, langsam zu arbeiten, ohne Hektik und Improvisationsdruck, beenge die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten.

Vor allem in Berlin, wo die an den Traditionen der New Yorker Graffiti-Pioniere geschulten Puristen den Ton angeben, lehnen viele Künstler aus der Sprayerszene jede legale Arbeit ab. Steinmann widersetzt sich zwar solchen Grundsätzen, allerdings gibt er zu: »Um neue Buchstaben-Stile zu kreieren, muß man zwischendurch einfach illegal auf die Straße oder die Schienen.«

Der illegale Sprüher Grey gilt in der Frankfurter Sprayergemeinschaft mit seinen 25 Jahren schon als Opa. Angefangen hat er mit 16, viermal wurde er auf frischer Tat erwischt. Vor Gericht landete er nur einmal - und traf dort auf eine verständnisvolle Richterin. Die staunte über die kunstvollen Bilder auf den Beweisfotos ("Das haben Sie alles frei Hand gesprüht?"), und er kam mit ein paar Arbeitsstunden davon.

Die wilde Kunst aus den New Yorker Ghettos wurde erstmals Anfang der achtziger Jahre von amerikanischen Galeristen und Kunsthändlern als Ware entdeckt. Sie verklärten die Werke aus dem Untergrund kurzerhand zur zeitgenössischen Alltagskunst. Jeder, der mit einer Sprühdose einen geraden Strich ziehen konnte, witterte damals das große Geld, der Kunstmarkt wurde von besprühten Leinwänden geradezu überschwemmt. Schnell fielen die Preise wieder, und nur wenige Künstler wie der 1990 verstorbene Graffiti-Star Keith Haring konnten sich durchsetzen - für ein Werk erzielte Haring bis zu 250 000 Mark. Die meisten Sprayer verschwanden jedoch wieder in den U-Bahn-Schächten und konzentrierten sich auf den Ruhm in der illegalen Szene. Immer neue Generationen wuchsen nach und entwickelten ausgefeilte Schriften und Sprühtechniken.

Die neuerdings unter Jugendlichen verbreitete Begeisterung für die amerikanische Straßenkultur, die sich vor allem über Sportarten wie Basketball oder Straßenfußball in Europa durchsetzte, bewirkte auch eine Renaissance der Graffiti-Kunst, die selbst für viele deutsche Sprayer überraschend einsetzte: »Dabei haben die Europäer den Amerikanern stilistisch längst den Rang abgelaufen«, behauptet Steinmann.

Seinen Partner Rafii interessiert mehr das Geschäft mit dem neuen Graffiti-Boom: »Die Werbewirtschaft fährt total auf Graffiti ab, aber bisher fehlte den PR-Agenturen einfach der Ansprechpartner.« In diese Lücke will Oxygen stoßen, und in Berlin, wo im Frühjahr eine Hausdurchsuchungswelle die illegale Szene in Aufregung versetzte, stehen zwei Agenturen kurz vor dem Start.

Zugleich machen die Graffiti-Gegner ebenfalls mobil: In Hamburg startete Bild jüngst eine Kampagne unter dem Motto »Stoppt die Schmierfinken« - allein in Hamburg entstehe durch Namenskrakel und die Verzierung von Bussen und Gebäuden ein Schaden von jährlich 20 Millionen Mark. In Berlin hat sich unter dem Namen »Nofitti« eine Bürgerinitiative gegen illegale Sprayer formiert. »Es gibt natürlich zu viele Stümper«, sagt Steinmann, »die bringen die ganze Kunstrichtung in Verruf.«

Der Münchner Professor Peter Kreuzer, der sich seit Jahren mit Straßenkunst und Jugendkultur beschäftigt, beobachtet in Deutschland »eine sehr dichte und höchst lebendige Graffiti-Kultur«. Er beobachtet mit offensichtlichem Bedauern, »wie die älteren Sprayer sich immer mehr zu Geschäftsleuten entwickeln und dabei nur so tun, als gehörten sie noch zur ursprünglichen Szene«. Denn von dort kämen die wirklichen Impulse für die, so Kreuzer, »letzte bildende Kunstrichtung des Jahrtausends«.

Auch bei Oxygen findet man es schade, daß Graffiti vor allem als Mittel zum Zweck gefragt sind. »Die Bereitschaft, Geld für Aerosolkunst auszugeben, hängt von der Wirkung auf die jugendliche Zielgruppe ab, nicht von der Leidenschaft für die Kunst«, sagt Rafii.

Aber vielleicht, so hofft die Oxygen-Crew, werde die verstärkte Nachfrage nach Sprüh-Gebrauchskunstwerken Graffiti auch wieder zur Sammlerkunst machen. Auf jeden Fall sind die Lieblingskunden der Agentursprayer solche, die ihnen bei der Gestaltung von Garagentoren, Autos oder Fassaden nahezu freie Hand lassen.

Rafii und Steinmann denken mittlerweile auch daran, eigene Ausstellungen zu organisieren - »aber an der Galeristen-Szene vorbei, denn die haben Graffiti schon einmal auf dem Gewissen«.

Durch den derzeitigen Graffiti-Boom motiviert, stellen sich inzwischen selbst die Lackhersteller auf die Bedürfnisse der Sprüher ein. Die Firma Sparvar etwa bietet eine spezielle Graffiti-Serie an, die Konkurrenz von Auto-K-Lack fragte bei Oxygen bereits wegen einer Zusammenarbeit an und beschriftet ihre Dosen doppeldeutig: »Mit Belton-Deko-Spray lassen sich nahezu alle Gegenstände ohne großen Zeitaufwand verschönern.« Y

»Um Neues zu kreieren, muß man illegal auf die Straße«

»Stümper bringen die Graffiti-Kunst in Verruf«

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