Beschlüsse zu Schulöffnungen Dann halt jeder, wie er will

Unterricht in Kleingruppen: Schrittweise wollen einige Länder Schulen wieder öffnen (Symbolbild)
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Bei den Kitas und Schulen sparte sich die Kanzlerin dieses Mal lange Streitereien. Die Frage, wann die Einrichtungen wieder öffnen, stand bei der Runde mit den Ministerpräsidenten am Mittwoch ursprünglich zwar ganz oben auf der Agenda, wurde dann aber gar nicht beantwortet, sondern schlicht an die Länder weitergegeben: Sie sollen jeweils selbst entscheiden. Merkel hält sich, anders als bei den Treffen im Dezember und Januar, raus.
»Ich habe bestimmte eigene Vorstellungen zum Öffnen von Kindertagesstätten und Schulen gehabt, die eher auf eine Öffnung um den 1. März gingen«, sagte sie in der anschließenden Pressekonferenz. Aber Föderalismus sei die bessere Ordnung als Zentralismus, »selbst wenn es manchmal etwas mühsam ist«. Es gebe tief verankerte Länderzuständigkeiten bei Kitas und Schulen, »da ist es einfach nicht möglich, dass ich mich als Bundeskanzlerin so durchsetzen kann, als hätte ich da ein Vetorecht.« Aber man liege »ja nicht Meilen auseinander«.
Die Beschlüsse verweisen nun ausdrücklich auf die »Kultushoheit«. Die Frage der Kita- und Schulöffnungen ist vertagt und bleibt in der Verantwortung der 16 Ministerpräsidenten und ihrer Kultusminister, von denen mehrere ihre Schulen noch im Februar öffnen wollen. Schulpolitik ist in Deutschland Ländersache. Ausrufezeichen.
Mit diesem »Nichtbeschluss« hatten einige Bildungsakteure trotzdem nicht gerechnet. Manche lässt das Manöver nun erleichtert, andere besorgt – oder auch wütend zurück.
»Bankrotterklärung«
Den von der Politik viel zitierten Satz, wonach Kitas und Schulen bei den Corona-Lockerungen Priorität hätten, kann Dario Schramm, Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, nicht mehr hören: »Das macht mich nur noch sauer.« Dass die Bund-Länder-Runde offenbar nicht mit der Haltung in das Treffen gegangen sei, eine einheitliche Linie für die Schulen, und damit eine verlässliche, klare Ansage für Schülerinnen und Schüler sowie Eltern und Lehrkräfte zu finden, hält er für »stark bedenklich«.
Schramm spricht von einer »Bankrotterklärung«, zumal Kanzlerin und Länderchefs die gemeinsamen Beschlüsse der Kultusministerkonferenz (KMK) von Montag, die immerhin unter anderem einen groben Fahrplan für Schulöffnungen umreißen, schlicht ignoriert hätten. Der Stufenplan der KMK, der Distanz-, Wechsel- oder Präsenzunterricht abhängig vom Infektionsgeschehen vorsieht, sei allerdings auch nichts wirklich Greifbares. Obwohl Eltern-, Lehrer- und Schülerverbände seit Monaten konkrete Fallzahlen für die einzelnen Szenarien fordern, spart das gemeinsame Papier diese nach wie vor aus.
»Genau das wäre aber wichtig, um mal verbindliche Regeln zu haben, die dann auch bundesweit gelten«, findet der 20-jährige Schramm. »So macht nun jedes Land sein eigenes Ding. Das ist an sich nicht neu, wird politisch aber nicht mal mehr infrage gestellt.«
Bitte kein »Öffnungswettbewerb«
Schramm kritisiert, für die Schülerinnen und Schüler führe die Situation zu Ungerechtigkeiten. Einige Länder würden früher, andere später öffnen. Dadurch entstehe eine »verzerrte Bildungssituation« in Deutschland. Schon unmittelbar nach der Bund-Länder-Runde gaben mehrere Länder ihre teils unterschiedlichen Pläne bekannt.
»Richtig Bauchschmerzen bereitet mir das beim Thema Abitur«, sagt Schramm, der selbst gerade in der Abi-Phase steckt. »Ich wohne in Nordrhein-Westfalen, war seit Dezember nicht mehr in der Schule, sondern hatte nur so halbgaren Unterricht vor dem Computer, und in Niedersachsen beispielsweise haben Abiturienten zumindest regelmäßig Präsenzunterricht, mit direktem Kontakt zum Lehrer. Das nagt schon an mir. Am Ende wird die Vorbereitung dort sicherlich qualitativer sein als bei mir«, die Prüfungen sollten laut KMK jedoch einheitlich sein. »Das ist schwer zu vermitteln.«
Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), mahnt, wenn die Länder über Schulöffnungen frei entscheiden könnten, dürfe das nicht in einen Öffnungswettbewerb münden: »Nicht die Länder werden gewinnen, die möglichst schnell alle Kinder zurück in die Schule zu bringen, sondern die, welche etwa durch höchstmöglichen Gesundheitsschutz trotz Öffnungen niedrige Neuinfektionszahlen halten.«
Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, warnt, es müsse endlich Schluss sein mit Alleingängen. Alleingänge der Länder bei Kitas und Schulen sind in der Corona-Pandemie in der Tat Alltag, und so lässt sich Merkels jüngster Verweis auf den Bildungsföderalismus auch als Lehre aus den Ereignissen der vergangenen Wochen und Monaten lesen: Am Ende macht jedes Land sowieso, was es will.
Mehrfach spielte sich das gleiche Szenario ab. Die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten legten grobe Linien fest, wobei Merkel öfter auf die Schließung von Kitas und Schulen drängte. Kurz darauf scherten einzelne Länder aus oder weichten die Regeln zumindest auf. So verkündete die Bund-Länder-Runde im Januar, Kitas und Schulen sollten mindestens bis zum 14. Februar »grundsätzlich geschlossen« bleiben, und zwar »restriktiver« als bisher.
Niedersachsen schickte Grundschüler dennoch viel früher in den Wechselunterricht. Sachsen entschied noch vor der Bund-Länder-Schalte, Schulen am Montag schrittweise zu öffnen. Auch die KMK sprach sich für schrittweise Öffnungen ab dem 15. Februar aus. In Hessen soll es am 22. Februar losgehen. Bayern reklamierte vorab einen möglichen, eigenen Weg.
»Nicht erfreut«
Merkel soll in der Videoschalte am Mittwoch gesagt haben, sie hätte sich gewünscht, dass sich Bund und Länder auf eine gemeinsame Linie zu Schulen und Kitas hätten verständigen können. Aber einige Länder hätten bereits vor der Runde Vorfestlegungen getroffen, die sie nicht aufhalten könne. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), Spitzenkandidat seiner Partie im aktuellen Landtagswahlkampf, soll von diesem Kurswechsel »nicht erfreut« gewesen sein.
Kretschmann hatte im Südwesten – entgegen Merkels Kurs – zwischenzeitlich auf schnelle Öffnungen gedrungen, hatte das nach der Entdeckung von Virusmutationen in einer Freiburger Kita aber relativiert. Beides sorgte für Kritik, das Thema polarisiert. Viele Familien empfinden die wochenlangen Schließungen seit Mitte Dezember als stark belastend, andere halten frühzeitige Öffnungen für zu riskant, letztlich so wie Merkel. Die Kanzlerin schwenkte deshalb beim Thema Impfen um. Gesundheitsminister Jens Spahn soll prüfen, ob Lehrkräfte und Erzieher in die zweite Impf-Prioritätsgruppe aufrücken können.
»Im Prinzip vernünftig«
Dass nun die Länder über die Schulöffnungen entscheiden sollen, findet der Kieler Schulforscher Olaf Köller »im Prinzip vernünftig«. »Das ist gut für die Emanzipation der Länder und der Kultusminister und ein starkes Signal für den Föderalismus«, sagte er dem SPIEGEL. »Was wir in den vergangenen Monaten erlebt haben, dass die Kanzlerin den Ländern wiederholt diktiert, was an den Schulen passieren soll, war fast eine Bankrotterklärung der Kultusministerkonferenz«.
Die Konferenz, gemeinsames Gremium der 16 Schulminister, sei immer wieder von der Bund-Länder-Runde übergangen worden, weil sie einen Fehler gemacht habe. Sie habe keine tragfähigen, länderübergreifenden Vorschläge gemacht, wie in den Ländern in unterschiedlichen Altersgruppen Unterricht in der Pandemie ablaufen könne. »Die Länder haben viel zu lange auf den Präsenzunterricht gesetzt und es danach versäumt, gemeinsam kluge Wechselmodelle, die alle Hygieneregeln einhalten, aussehen könnten.« Das habe dazu geführt, dass sich das Kanzleramt oft durchgesetzt habe. Umso wichtiger sei nun, dass sich die KMK auf ein einheitliches Vorgehen einige.
Köller zufolge kommt es dabei nicht darauf an, dass sich die Länder – wie so oft gefordert und vom Robert Koch-Institut empfohlen – auf bestimmte Inzidenzen bei den Schulöffnungen festlegen, sondern zwecks Infektionsschutz schrittweise und unter strikten Hygienevorschriften den Präsenzunterricht aufnehmen: in Kleingruppen, mit FFP2-Masken und Mindestabstand.
»Die Schulen sind besser aufgestellt, als die Schulaufsicht oft glaubt«, sagt der Forscher. »Die meisten haben die Modelle zum Wechselunterricht noch vom Sommer in der Schublade«, also Unterricht etwa mit geteilten Klassen im Schichtsystem. Grundschüler und Abschlussklassen sollen nach diesem Modell vorrangig in die Schulen zurückkommen, das scheint unter den Ländern Konsens zu sein.
»Das ist dramatisch«
»Es hätte schlimmer kommen können«, sagt der Schulforscher Rolf Strietholt von der TU Dortmund zu den Bund-Länder-Beschlüssen, »zum Beispiel, dass Kitas und Schulen noch länger komplett geschlossen bleiben.« Trotzdem warnt er: Mit dem Wechselmodell falle immer noch »mindestens die Hälfte des normalen Unterrichts flach, außerdem müssen viele ältere Kinder erst mal weiter zu Hause bleiben, wie lange ist letztlich unklar und hängt nun stark vom Wohnort ab. Das ist dramatisch.«
Viele Kinder könnten zu Hause einfach nicht richtig lernen. Die Schüler in Deutschland hätten wegen Corona schon mindestens ein halbes Schuljahr verloren. »Das hat soziale Folgen, verschärft die Chancenungleichheit und wird langfristig auch gravierende wirtschaftliche Folgen haben«, sagt Strietholt. Er wünsche sich, dass die Politik insgesamt andere Prioritäten in der Pandemie setze. Andere Länder etwa hätten Schulen allenfalls in Hotspots geschlossen und ansonsten offen gelassen, dafür jedoch Kontakte in anderen Bereichen reduziert.
Der allgemeine Shutdown soll nach den Bund-Länder-Beschlüssen bis zum 7. März dauern. Dass Schulen und Friseure bei den Beratungen mehr oder weniger gleichgesetzt worden seien, finde er wirklich bedenklich, sagt Bildungsforscher Strietholt. Für Friseure habe die Politik gar mit dem 1. März ein konkretes Öffnungsdatum festgelegt, während Schulen unter Umständen noch länger geschlossen blieben: »Da fasse ich mir an den Kopf.«