Medizinstudenten in der Coronakrise Arbeitseinsatz statt Staatsexamen

In drei Wochen steht für Tausende Medizinstudenten das zweite Staatsexamen an. Doch daraus könnte nichts werden - in den Kliniken wird jede Hilfe gebraucht.
Von Silvia Dahlkamp und Miriam Olbrisch
Junge Mediziner in Hamburg lernen, ein Beatmungsgerät zu bedienen

Junge Mediziner in Hamburg lernen, ein Beatmungsgerät zu bedienen

Foto: Axel Heimken/ dpa

Das mulmige Gefühl kam Mitte vergangener Woche. Katharina Epe, 25, saß in ihrer Küche in Münster und büffelte - Tag 73 ihres 100-Tage-Lernplans. Noch 27 Tage bis zum Ziel: die Prüfung für ihr zweites Staatsexamen in Medizin. Es ist der Abschluss an der Universität, bevor es in die Klinik geht.

Seit November steckt Epe schon im Tunnel: aufstehen, lernen, schlafen. Hunderte Themen müssen die Mediziner in drei Monaten reinpauken: Innere, Chirurgie, HNO, Orthopädie. "Ich lag gut in der Zeit", sagt Epe. Bis zu Tag 73, dem 18. März, einem Mittwoch. Da verbreiteten sich über Facebook die ersten Gerüchte: Das Staatsexamen werde verschoben, alle Nachwuchsmediziner sollten sofort in die Klinik, um in der Corona-Pandemie zu helfen. 

DER SPIEGEL 14/2020
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Die Studentin saß allein zu Hause, weil die Bibliothek schon seit Tagen geschlossen war. Sie konnte es nicht glauben: War alles umsonst? Eigentlich wollte sie sich an Tag 73 mit Rechtsmedizin befassen, mit Strangulationen, Ertrinken und Schussverletzungen. Doch die Konzentration war weg.

Auf Facebook poppten entsetzte "Aufschreie" auf: "Das ist unfair." "Es geht doch nur um ein paar Tage." "Was soll jetzt werden?"

Bundestag und Bundesrat verabschieden Gesetz

Das Gerücht blieb nicht lange ein Gerücht. Am vergangenen Mittwoch, genau eine Woche nach den ersten Meldungen in Fachkreisen, beschloss der Deutsche Bundestag das "Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite". In einer Sondersitzung am Freitag stimmte nun auch der Bundesrat zu.

"Um einer Destabilisierung des gesamten Gesundheitssystems vorzubeugen, wird die Bundesregierung in die Lage versetzt, schnell mit schützenden Maßnahmen einzugreifen", heißt es in der Beschlussvorlage. Infektionsschutz ist eigentlich eine Angelegenheit der Länder. Mit dem neuen Gesetz kann nun das Bundesgesundheitsministerium Maßnahmen zur Versorgung mit Arzneimitteln, aber auch "zur Stärkung der personellen Ressourcen" ergreifen. 

Es ist dieser Punkt, der viele Medizinstudierende in den vergangenen Tagen so in Aufruhr versetzt hatte. Denn in ihrem Fall bedeutet die "Stärkung der personellen Ressourcen" einen herben Einschnitt in ihre Zukunftsplanung. 

Praxis statt Prüfung

Vom 15. bis zum 17. April sollten rund 4600 angehende Mediziner zum zweiten von drei Staatsexamina antreten, dem sogenannten M2. Die meisten von ihnen bereiten sich seit Monaten auf diese wichtige Prüfung vor. 

Doch daraus wird wohl nichts: Statt die Examensprüfung abzulegen, sollen die Studierenden direkt ins Praktische Jahr starten und damit das medizinische Personal in den Krankenhäusern im Kampf gegen die Corona-Pandemie unterstützen, so der Plan der Bundesregierung.

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Das M2 sollen die Studierenden dann später, im Anschluss an ihren Einsatz, nachholen, zeitgleich mit dem dritten Staatsexamen. Dieses "Hammerexamen" war in der Vergangenheit in Deutschland gängige Praxis, bis es 2014 abgeschafft wurde.

Das nun verabschiedete Gesetz erlaubt es dem Gesundheitsministerium, die Approbationsordnung für angehende Mediziner kurzfristig entsprechend zu ändern, möglicherweise schon in den nächsten Tagen."Insgesamt soll ein Rahmen für Fakultäten und Länder geschaffen werden, um das Medizinstudium an die erforderlichen Maßnahmen für den Krisenfall anzupassen", heißt es dazu in der Vorlage.

Noch sind kaum Patienten da

Epe versteht die Eile: In Deutschland wird eine große Anzahl von Erkrankten bereits Mitte Mai erwartet, glauben Virologen. Darauf müsse man vorbereitet sein.

Trotzdem hatte sie gehofft, dass die Einladung vom Prüfungsamt vielleicht doch noch kommt. Viele Freunde, ebenfalls Medizinstudenten, haben sich freiwillig zum Dienst in einer Klinik gemeldet. Sie erzählen, dass sie im Moment noch früh Feierabend machen, weil keine Patienten da sind. 

Deshalb hatte sich Epe erst einmal weiter vorbereitet, jeden Tag, auch am Wochenende. Tag 74 des Lernplans: Antidepressiva. Tag 75: Antibiotika. Tag 76: Röntgen- und Computertomografie.

Examensprüfung wäre "große Herausforderung"

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung geht zurück auf eine gemeinsame Empfehlung des Medizinischen Fakultätentags (MFT) und des Instituts für Medizinische und Pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP), das in Deutschland die Examensprüfungen koordiniert. 

Die Landesprüfungsämter seien nach einer "ausführlichen Risiko- und Sicherheitsanalyse" zu dem Ergebnis gekommen, dass die Durchführung der Examensprüfung "zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine große Herausforderung" darstelle, sagte IMPP-Direktorin Jana Jünger dem "Deutschen Ärzteblatt". Man habe deshalb "eine Lösung vorgeschlagen, die einen Benefit sowohl für die Studierenden als auch für die medizinische Versorgung bedeutet".

Protest im Netz

Bloß: Einen "Benefit" kann ein Großteil der betroffenen Studierenden darin beim besten Willen nicht erkennen. In einer Onlinepetition hatten binnen weniger Tage knapp 15.000 Unterstützer gegen diesen Plan protestiert. "Sie behandeln uns zurzeit wie Reservisten des Gesundheitssystems, die man mal eben so verpflichten kann, sich in die erste Reihe zu stellen", so steht es in der Petition 

Vor allem fürchten sie, ihr mühsam erworbenes Wissen in einem Jahr nicht mehr abrufen zu können und mit dem Lernen wieder von vorn beginnen zu müssen. 

"Wir erkennen an, dass aufgrund der Krankenversorgungslage Änderungen im Studienablauf notwendig werden können", heißt es in einer Stellungnahme der Bundesvereinigung der Medizinstudierenden in Deutschland. "Das geplante Vorhaben stellt jedoch eine unzumutbare Härte für die Studierenden dar."

Der Studentenbund schlägt stattdessen in einer Onlinepetition  an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vor, das Zweite Staatsexamen ersatzlos zu streichen, falls die Prüfungen wegen der Corona-Pandemie nicht wie geplant im April stattfinden können.

Studenten fordern "angemessene Bezahlung"

Für das Praktische Jahr (PJ) fordern die Studierenden unter anderem, dass PJler für ihren Einsatz eine "angemessene finanzielle Vergütung" erhalten sollten, "mindestens in Höhe des Bafög-Höchstsatzes".  Bisher bekommen die angehenden Mediziner in Praktischen Jahr häufig kein Geld für ihre Arbeit. Es obliegt den Kliniken zu bestimmen, ob und wie sie die Studierenden bezahlen möchten. "Der Wille zu helfen ist groß", formulieren die Studierenden zum Schluss, "schaffen Sie die benötigten Rahmenbedingungen hierfür!"

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Wenn die Anweisung aus dem Gesundheitsministerium kommt, soll Katharina Epe nach jetzigem Stand gleich nach Ostern ihr Praktisches Jahr beginnen – ohne Abschluss und für 22,50 Euro am Tag. Nach Dienstschluss wird sie wohl lernen müssen, für das angekündigte Hammerexamen im Anschluss an den Einsatz in der Klinik.

50 Tage bleiben ihr voraussichtlich für die Vorbereitung. Ihren 100-Tage-Lehrplan wird sie wohl radikal zusammenstreichen müssen. Diese Aussicht bereitet ihr Sorge. "Natürlich will ich helfen, deshalb werde ich schließlich Ärztin." Warum könne ihr der Staat nicht ein bisschen entgegenkommen?

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