Schulen öffnen, Kitas bleiben geschlossen "Das ist doch Wahnsinn"

Während die Schulen bald schrittweise wieder öffnen, müssen kleine Kinder weiterhin zu Hause bleiben - wahrscheinlich sogar für Monate. Viele Eltern fühlen sich von der Politik alleingelassen.
Um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen, sollen Kitas vielleicht noch auf Monate hin geschlossen bleiben (Archivbild)

Um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen, sollen Kitas vielleicht noch auf Monate hin geschlossen bleiben (Archivbild)

Foto: Monika Skolimowska/ dpa

Alle paar Stunden feiert Leo ein bisschen Geburtstag. Dann steht der Dreijährige auf einem Hocker im heimischen Badezimmer, die kleinen Hände über den Rand des Waschbeckens in den Wasserstrahl gestreckt - und singt: "Happy Birthday to you", nicht zu schnell natürlich, so hat es Leo gelernt.

"Die neuen Hygieneregeln hat er sehr schnell verinnerlicht", sagt seine Mutter Aiga Senftleben, die diese Anekdote am Telefon erzählt: Regelmäßiges Händewaschen, mindestens 20 Sekunden lang und immer mit Seife. "Das haben sie in der Kita gelernt - vor mehr als vier Wochen."

Seit dem 17. März darf Leo seine Kita nicht mehr besuchen. Wie insgesamt 3,7 Millionen Kinder deutschlandweit - ausgenommen solche, die Anspruch auf Notbetreuung haben - muss er in diesen Tagen zu Hause bleiben, damit sich das neuartige Coronavirus nicht so schnell verbreiten kann.

Die Tage verbringt Leo nun in einer Berliner Etagenwohnung, unterbrochen von täglichen Spaziergängen um den Block mit seinen Eltern, die beide aus dem Homeoffice arbeiten und sich abwechselnd um den Dreijährigen kümmern. "Auch wenn er es toll findet, dass Mama und Papa nun immer da sind - er vermisst seine Freunde", sagt Aiga Senftleben. Erwachsene, auch wenn sie sich noch so viel Mühe geben, könnten das Herumtoben und Quatschmachen mit Gleichaltrigen nicht ersetzen.

Keine kreativen Lösungen für Kitas

So, wie es aktuell aussieht, wird das noch ziemlich lange so weitergehen. Ab dem 4. Mai, so haben es die Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten in ihrer Telefonrunde entschieden, sollen die Schulen flächendeckend wieder öffnen. Viele Bundesländer starten zum Teil sogar deutlich früher, um ihre Abschlussklassen durch die finalen Prüfungen zu lotsen.

Die Kitas hingegen sollen in den meisten Ländern noch viele Wochen geschlossen bleiben. In Berlin, wo Aiga Senftleben mit ihrer Familie wohnt, soll der Regelbetrieb erst wieder am 1. August beginnen - also in mehr als drei Monaten. "Das ist doch Wahnsinn", sagt Senftleben, Mitgründerin eines Fintech-Start-ups. Sie fühle sich von der Politik "veräppelt", so drückt sie es aus. "Überall werden kreative Lösungen gefunden, wie man die Lage für alle Beteiligten gut gestalten kann: Für Schulen, für Buchläden und Baumärkte - aber die Kitas lässt man einfach zu, ohne Kompromiss."

Eltern fühlen sich alleingelassen

Senftleben spricht aus, was viele Eltern in diesen Tagen denken. Sie fühlen sich alleingelassen mit dem Spagat zwischen Kinderbetreuung und Arbeit - und mit dem Gefühl, ihren Kindern etwas vorzuenthalten, das viele so sehr vermissen: den Kontakt zu Gleichaltrigen.

"Das geht an der Lebenswirklichkeit junger Familien vorbei", sagt Ulrike Große-Röthig, Rechtsanwältin und Bundeselternsprecherin der Kinder in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege. "Und es stürzt auch Arbeitgeber in ein Dilemma, die nicht bis in den Spätsommer oder frühen Herbst hinein auf ihre Mitarbeiter verzichten können."

Wenn das öffentliche Leben sukzessive wieder belebter würde und Geschäfte öffneten, könnten die Angestellten nicht einfach zu Hause bleiben. Besonders Alleinerziehende hätten damit schwer zu kämpfen, weil sie sich die Kinderbetreuung nicht mit einem Partner teilen können.

Wissenschaftler fordern Corona-Elterngeld

Die Regelung treffe zudem insbesondere Menschen Mitte 20 bis Mitte 40 - "die also in den meisten Fällen nicht zur Risikogruppe gehören und an ihren Arbeitsstätten gebraucht werden". Gleichzeitig könnten viele aber auch keinen unbezahlten Urlaub nehmen. "Weniger zu arbeiten, um Kinder zu betreuen, muss man sich leisten können."

Wissenschaftler des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) fordern deshalb eine Art Corona-Elterngeld. In einer Mitteilung sprachen sich die Forscher dafür aus, dass "Alleinerziehende sowie Familien, in denen beide Eltern gemeinsam mehr als 40 Stunden arbeiten, jeweils eine Reduzierung der individuellen Arbeitszeit zur Kinderbetreuung beim Arbeitgeber beantragen und dafür einen staatlichen Einkommensersatz erhalten" können.

Kita als Bildungsort

Elternsprecherin Große-Röthig ärgert sich darüber, dass die Verantwortlichen sich offenbar nicht einmal die Mühe machten, über Alternativen zur konsequenten Schließung zu beraten: Etwa kleine Bezugsgruppen von einer Handvoll Kinder, die streng getrennt voneinander spielen könnten. Oder eine Art "Schichtsystem", wie Experten es auch für Schulen vorgeschlagen hatten und viele Firmen praktizieren.

Zudem hätten Wissenschaftler und Politik auch darauf schauen müssen, dass Kinder die Kita als Bildungsort dringend benötigten, vor allem wenn sie aus bildungsbenachteiligten Haushalten stammen - weil Eltern zu Hause oft nicht ausreichend gut fördern könnten. "Die Kita dient ja nicht nur der Aufbewahrung."

Fachleute fordern deshalb, auch Kinder aus Familien in schwierigen Situationen wenigstens in die Notbetreuung aufzunehmen. "Ich denke zum Beispiel an Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil oder mit Behinderung", sagt  Björn Köhler vom Vorstand der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW).

Ausweitung der Notbetreuung

In einer Telefonschalte mit Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) einigten sich an diesem Freitag die Familienminister der Länder nun darauf, die Notbetreuung bis zum 3. Mai auszuweiten. Wie das jedoch im Detail aussehen soll, regelt jedes Land für sich - obwohl Giffey im Vorfeld auf eine einheitliche Regel gedrängt hatte.

Bisher gilt das Angebot in der Regel für Kinder ab dem Kita-Alter bis zur sechsten Klasse, wenn die Eltern dringend an ihrem Arbeitsplatz gebraucht werden - etwa in der Pflege, in Krankenhäusern aber auch in der Produktion bestimmter Güter oder bei der Polizei.

Viele Landesregierungen haben schon vor Wochen angekündigt, weitere Berufsgruppen und Alleinerziehende einzubeziehen oder die Regeln so zu lockern, dass es reicht, wenn ein Elternteil in einem sogenannten systemrelevanten Beruf arbeitet.

Leopoldina: Kleine Kinder halten sich nicht an Hygieneregeln

Die Experten der Akademie der Wissenschaften Leopoldina, auf deren Urteil sich Kanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten in vielen Teilen ihrer Maßnahmen stützen, hatte immerhin empfohlen, dass die älteren Kindergartenkinder, die Fünf- und Sechsjährigen, bald wieder in ihren Einrichtungen spielen zu lassen, maximal zu fünft in einem Raum.

Für jüngere Kinder sollte bis zu den Sommerferien nur die Notbetreuung offenstehen, da sie "sich nicht an die Distanzregeln und Schutzmaßnahmen halten, gleichzeitig aber die Infektion weitergeben können", wie es in der Stellungnahme heißt.

Aiga Senftleben, die Gründerin aus Berlin, möchte dieses Urteil so pauschal nicht gelten lassen. Ihr Sohn habe sehr schnell verinnerlicht, dass er aufpassen müsse. "Das Händewaschen erledigt er fast routinierter als ich."

Andere Eltern sind froh, dass die Politik gerade bei den Kleinsten etwas mehr Vorsicht walten lässt - obwohl das Coronavirus auch sie vor große Herausforderungen stellt. Die beiden Söhne von Andrea Nett, ein und drei Jahre alt, haben ihre Kita mit einer kurzen Unterbrechung seit Ende Februar nicht mehr von innen gesehen, genauer gesagt: seit dem 25. Februar, dem Dienstag nach Karneval.

"Möchte kein Risiko eingehen"

Andrea Nett wohnt mit ihrer Familie im äußersten Westen Deutschlands, nur einen Steinwurf von Gangelt im Landkreis Heinsberg entfernt, der vom Coronavirus besonders betroffen ist. Dass die Kita ihrer Söhne erst einmal geschlossen bleibe, nehme dem Paar eine schwere Entscheidung ab. "Ich möchte kein gesundheitliches Risiko eingehen - andererseits meinen Kindern nicht verwehren, ihre Freunde zu sehen."

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Nett, die in Teilzeit arbeitet, und ihr Mann haben ihren Alltag in einem strengen Schichtsystem organisiert. Nett beginnt morgens sehr früh mit ihrer Arbeit. Den ersten Kaffee trinkt sie im Morgengrauen, während sie ihren Laptop hochfährt.

Arbeit verlagert sich in den Abend und ins Wochenende

Um elf Uhr gibt es ein frühes Mittagessen, dann tauscht das Paar die Rollen: Andrea Nett kümmert sich um die beiden Kinder, ihr Mann verschwindet im Arbeitszimmer. Abends, wenn die Jungen schlafen, setzen sich oft beide noch einmal an den Computer, ebenso am Wochenende.

Natürlich sei das anstrengend, sagt Nett. "Aber ich möchte mich nicht beschweren." Die Familie bewohnt ein Haus mit Garten, die Kinder könnten häufig draußen spielen. Sie sei froh, dass sie und ihr Mann beide aus dem Homeoffice arbeiten und sich die Kinderbetreuung teilen könnten - und erleichtert, dass die Geschwister wenigstens einander hätten und nicht ganz allein spielen müssten.

Mit Material von dpa

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