Schulchaos wegen Corona Fernunterricht, Noten - oder gar nichts?

Unterricht aus einem leeren Klassenzimmer (Symbolbild)
Foto: Kay Nietfeld / dpa"In dieser Zeit wollen wir die Schüler nicht bestrafen mit schlechten Noten", sagt Nilgün Özkan. Sie unterrichtet an einer Realschule in Nordrhein-Westfalen. Wie überall in Deutschland sind auch hier die Schulen seit Mitte März geschlossen. Drei Wochen lang bekamen Özkans Schützlinge Aufgaben für zu Hause, bevor in dieser Woche die Osterferien begannen.
Die Schülerinnen und Schüler hatten laut Bildungsministerium NRW die "Pflicht, daran mitzuarbeiten, dass die Aufgabe der Schule erfüllt und das Bildungsziel erreicht werden kann". Noten, so die Linie in NRW, seien für die Aufgaben in der Corona-Zeit in aller Regel nicht vorgesehen.
Noch klarer formuliert das Bildungsministerium in Baden-Württemberg: "Es gibt während der Zeit der Schulschließung keine Noten."
Doch wie gut lassen sich die Schülerinnen und Schüler im Fernunterricht motivieren, wenn Noten in der Situation nicht vorgesehen sind? Auch Lehrer sind sich in der Frage uneins. Keine Noten zu geben, halte er "für völlig unsinnig, belohne ich doch die Schülerinnen und Schüler, die sich drei Wochen Corona-Ferien gegönnt haben", sagt etwa Detlef Rübel, der an einem Gymnasium in Baden-Württemberg unterrichtet.
Das Thema weist zudem weit über die aktuelle Phase hinaus. Auf welcher Grundlage bekommen die Kinder und Jugendlichen dann ihre Jahreszeugnisse? Wie wird entschieden, wer versetzt wird oder eine Klasse wiederholt? Die Debatte hat schon begonnen - und zeigt wieder einmal, wie unterschiedlich die einzelnen Bundesländer bisher vorgehen.
Leistungsbewertung versus Chancengleichheit
Die meisten Länder haben sich vorerst entschieden, die Aufgaben im Heimunterricht nicht zu bewerten. Die Überlegung dahinter: "Wenn wir jetzt benoten, benoten wir auch gutes WLAN, dann benoten wir die Sachkompetenz der helfenden Eltern und die Hardware-Ausstattung", sagt Arne Ulbricht, Lehrer an einer Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Eine Leistungsbewertung würde der Chancengleichheit widersprechen, stellt das Bildungsministerium in Baden-Württemberg deshalb auch klar.
Niedersachsen geht sogar noch weiter: "Der Unterricht entfällt ersatzlos." Die Lehrkräfte sind nicht verpflichtet, Aufgaben zur Bearbeitung zu übermitteln, so das Credo des Bildungsministeriums in Hannover.
Allerdings: "Lernen ist nicht verboten", heißt es im FAQ zur Schulschließung . Die Schulen durften die Schülerinnen und Schüler bis zu den Osterferien mit Aufgaben versorgen. Sie zu lösen habe aber "freiwilligen Charakter". Noten waren also tabu - zumindest in der Theorie. Der Landesschülerrat berichtete vor den Ferien, Schülerinnen und Schüler hätten schulformübergreifend dennoch verpflichtende Aufgaben bekommen – und einige Lehrkräfte hätten angekündigt, diese Arbeiten auch zu benoten.
Der Landesschülerrat bezeichnete das als "erschreckend". Und argumentiert ebenfalls mit der Chancengleichheit: "Ein Freund von mir muss auf seine kleinen Geschwister aufpassen, weil die Eltern arbeiten. Und eine Freundin muss sich den Familiencomputer mit drei weiteren Geschwistern teilen. Beide haben nicht die Möglichkeit, jetzt in vollem Umfang Online-Aufgaben zu bearbeiten", sagte Henriette Jochens, Mitglied im Vorstand des Landesschülerrats.
Niedersachsen konnte sich diese Haltung, auf Freiwilligkeit zu setzen, allerdings auch besser als andere Bundesländer leisten: Hier waren zwischen Corona-Lockdown und Osterferien nur zwei Wochen zu überbrücken.
Hamburg steht aktuell vor ganz anderen Herausforderungen, weil es hier keine klassischen Osterferien gibt: Die Schülerinnen und Schüler waren direkt vor der Schulschließung zwei Wochen in den Ferien und haben mindestens fünf Wochen Fernunterricht zu bewältigen.
Um die unterschiedlichen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler zumindest ein bisschen aufzufangen, dürfen die Schulen bei Bedarf nun Hardware verleihen, wenn die Familien zu Hause keine geeigneten Laptops, Tablets oder Computer haben. Und im Einzelfall dürfen Prüflinge, die zu Hause keinen ruhigen Ort zum Lernen haben, ab jetzt auch in die leeren Schulen kommen und dort die Klassenräume nutzen.
Noten sind bisher aber auch nur für die Abiturientinnen und Abiturienten vorgesehen, deren Leistungsstand aufgrund der schon vorliegenden Leistungen vor der Schließung nicht verlässlich beurteilt werden könne oder die sich noch verbessern könnten, heißt es im FAQ der Hamburger Schulbehörde .
Doch was ist, wenn die Schulen nach dem 19. April nicht öffnen, wenn für die Schülerinnen und Schüler in ganz Deutschland die Ferien enden, und sie weiter zu Hause sind? Oder nur eingeschränkt wieder die Schulen besuchen dürfen? Wie soll es dann mit der Benotung weitergehen?
Berlin und Sachsen-Anhalt bewerten Heimunterricht
Dafür gibt es in den meisten Bundesländern noch keine offiziellen Szenarien. In Berlin und Sachsen-Anhalt ist zumindest schon klar, dass die Leistung aus dem Fernunterricht durchaus benotet werden kann - und sogar in die Zeugnisse einfließen darf. Allerdings bürdet die Behörde den Lehrkräften in Berlin dabei viel Eigenverantwortung auf: Es liegt nämlich im Ermessen der Schulen, ob sie den Heimunterricht benoten oder nicht.
Für die gymnasiale Oberstufe gibt die Behörde den Lehrkräften noch eine Warnung mit auf den Weg: Bei den Hausaufgaben sei nicht auszuschließen, dass Eltern und andere helfen. "Jede Lehrkraft berücksichtigt bei der Bewertung, ob auf einmal eine Leistung erbracht wird, die den sonst gezeigten Leistungen eher nicht entspricht."

Um die unterschiedlichen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler zumindest ein bisschen aufzufangen, dürfen Schulen in Hamburg nun Computer und Laptops verleihen
Foto: Sebastian Gollnow/ dpaPluspunkt in Berlin: Schülerinnen und Schüler können ihre Lehrkräfte demnach auch darum bitten, sich durch eine Projektarbeit zu verbessern. Bisher hat die Hauptstadt ihren Kurs in Versetzungsfragen bei längerer Schulschließung noch nicht ausgegeben, doch gibt das zumindest schon mal eine Richtung vor. Berlin und Sachsen-Anhalt stehen damit allerdings zurzeit noch allein da: Auch in Corona-Zeiten kann es schulform- und klassenübergreifend weiter Noten geben.
Klare Szenarien in Rheinland-Pfalz
Rheinland-Pfalz hat sich in dieser Frage ganz anders entschieden - und Noten aus dem Heimunterricht und weiteren Prüfungen eine klare Absage erteilt. Das Bundesland listet für jede Schulform dezidiert auf, wie die Schülerinnen und Schüler im Falle einer längeren Schulschließung zu einem Zeugnis kommen. Und die Lösung lautet überall: "Im Extremfall sind die Noten des Halbjahreszeugnisses die Noten des Jahreszeugnisses."
Eine Ausnahme gilt dabei für die letzten Klassen: Sind angestrebte Schulabschlüsse aufgrund der bisherigen Leistung gefährdet, bietet die Schule den Prüflingen zusätzliche Testmöglichkeiten an.
Ein ähnliches Vorgehen zeichnet sich auch in Sachsen ab. "An den Gymnasien ist eine Benotung mit Blick auf höhere Klassenstufen zunehmend möglich", heißt es vom Bildungsministerium zu der Bewertung der Aufgaben im Heimunterricht.
Unterschiedliche Maßstäbe für Versetzungen
Offen ist noch, wie sich das vielerorts auf die Versetzungen auswirkt. Rheinland-Pfalz gibt da schon eine klare Linie vor und verlängert die Frist, in der Eltern und Schüler über Versetzungen informiert werden können. Sollte in diesem Jahr jedoch kein Unterricht mehr stattfinden, sollen die Eltern bei der Frage, ob ihr Kind versetzt wird oder nicht, stark mitreden dürfen. Das soll dann auch für die Gymnasialempfehlungen gelten.
In Sachsen-Anhalt verweist die Behörde hingegen auf die bisher geltende Versetzungsordnung aufgrund der Jahresnoten. Und die sollen sich weiterhin auf "alle Leistungen des Jahres" beziehen, allerdings die Zeit vor der Schulschließung "insbesondere" berücksichtigen.
Verbände bringen sich in Stellung
Die Bildungsminister der Länder wollen sich im Rahmen der Kultusministerkonferenz noch in dieser Woche über mögliche Szenarien abstimmen, wie es nach dem 19. April an den Schulen in Deutschland weitergeht. Die Verbände bringen sich bereits in Stellung und geben zwei Richtungen vor: Schülerinnen und Schüler mit schlechten Leistungen sollten wegen der Coronakrise nach Ansicht des Deutschen Lehrerverbands freiwillig die Klasse wiederholen, statt mit großem Rückstand die nächste Klassenstufe zu beginnen.
Wenn die bisherigen Leistungen sehr schlecht waren, sollte ernsthaft geprüft werden, "ob nicht ein freiwilliges Wiederholen sinnvoller ist, als mit massiven Wissenslücken aufzurücken", sagte Verbandspräsident Heinz-Peter Meidinger der "Bild"-Zeitung. Gleichzeitig forderte Meidinger ein "großzügiges Vorrücken auf Probe, gegebenenfalls sogar für alle, die nach bisherigem Stand sitzen geblieben wären".
Letzteres entspricht auch dem Kurs der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW): "Im Zweifel soll die Bewertung zugunsten des Schülers ausfallen", sagte die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Entscheidend sei, dass den Schülerinnen und Schülern kein Nachteil entstehe.
Doch egal, wie sich die Kultusministerinnen und Kultusminister der Länder letztlich entscheiden: Von der Notengebung bis zur Schulöffnung muss laut Tepe gelten, "dass die Regelungen einvernehmlich vereinbart werden, bundesweit gelten und von allen Ländern anerkannt werden".
Davon allerdings ist aktuell noch wenig zu sehen.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, die sogenannten blauen Briefe seien in NRW zwingend Voraussetzung fürs Sitzenbleiben; und da in diesem Jahr keine verschickt werden, müsse folglich niemand eine Klasse wiederholen. Das war falsch, denn auch ohne vorherigen blauen Brief können Schüler sitzenbleiben, wenn ihre Leistung im Halbjahreszeugnis schon entsprechend schlecht war. Wir haben die entsprechende Passage entfernt.