
Digitale Bildung Wir wischen uns zu Tode


Computer nicht nur bedienen, sondern eigenes Handeln reflektieren: Schülerinnen im digital gestützten Unterricht
Foto:Friso Gentsch / DPA
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Ein achtjähriges Mädchen stirbt bei einer TikTok-Challenge: Bei dem Versuch, sich möglichst lange zu strangulieren und dabei mit dem Smartphone aufzunehmen, überschätzt sie sich. In London fällt der zwölfjährige Archie ins Koma, nachdem er mutmaßlich ebenfalls an einer Internet-Mutprobe teilgenommen hatte. Das sind – leider – keine Einzelfälle mehr.
Der Ruf nach einer besseren Regulierung der sozialen Medien wird schnell laut, aber er setzt an den Symptomen an und nicht an den Ursachen. Das Problem ist nicht, dass durch digitale Medien viel Unsinn verbreitet wird – das Problem ist, dass unsere Gesellschaft bis heute geradezu naiv mit diesen Medien umgeht und euphorisch die neuen Möglichkeiten feiert. Kritiker gelten schnell als Apokalyptiker. Zu Unrecht, denn ihnen geht es vor allem darum, Möglichkeiten und Grenzen digitaler Medien sichtbar zu machen und abzuwägen.
Hinter den Todesfällen verbergen sich viele weitere Probleme: stetig zunehmendes Cybermobbing, ein besorgniserregender Rückgang der Lern- und Leseleistungen, die Zunahme von Vereinsamung – um nur einige zu nennen. Die Ursachen liegen in der Nutzungsdauer der digitalen Medien, die stetig zunimmt und immer früher im Leben einsetzt, und in ihrem Ablenkungspotenzial, das durch gekonnte Programmierung zu einer gezielten Manipulation führt.
Aus pädagogischer Sicht besteht hier Handlungsbedarf – aber weniger im Hinblick auf die Frage, wie viel digitale Medien nun im Unterricht eingesetzt werden. Wir wissen längst: Schlechter Unterricht wird durch digitale Medien nicht besser, nur guter Unterricht kann davon profitieren.
Stattdessen müssen wir uns viel stärker als bisher um die Medienerziehung kümmern. Sie ist die entscheidende Größe, damit Jung und Alt nicht nur die Technik bedienen, sondern die Technik ihnen dient. Digitale Medien verändern das Fühlen, Denken und Handeln von Menschen nachhaltig und nehmen damit Einfluss auf die Werte und Normen, die in einer Gesellschaft bestehen – und damit auch auf die Art und Weise, wie Familie, Freundschaft und Demokratie gelebt werden.
Die Digitalisierungsfalle
Natürlich bieten digitale Medien auch Chancen im Unterricht: bei der Diagnose, beim Feedback und der Differenzierung von Übungsphasen. Auch außerhalb der Schule eröffnen digitale Medien neue Möglichkeiten, etwa effizientere Kommunikation, bessere Partizipation und transparentere Prozesse.
Wer aber aus Bequemlichkeit Elternabende nur noch digital veranstaltet, mit der Freundin ein paar Häuser weiter stundenlang chattet, anstatt sie zu besuchen, und sich über Politik ausschließlich in den sozialen Medien informiert und keine Zeitung mehr liest, der tappt in eine Digitalisierungsfalle.
All diese digitalen Möglichkeiten generieren ein doppeltes Problem. Erstens können diese Optionen nur genutzt werden, wenn der Mensch sie zum Leben erweckt. Dafür ist Medienkompetenz vonnöten, die nicht nur den Umgang mit digitalen Medien umfasst, sondern vor allem ausgeprägte Kritikfähigkeit beinhaltet. Es geht um die Reflexion des Umganges mit digitalen Medien: Was macht das genutzte Medium mit mir?
Zweitens führt jede Möglichkeit, die durch digitale Medien geschaffen wird, immer auch dazu, dass eine Option aus der vordigitalen Zeit über kurz oder lang nicht mehr verfügbar ist. So sind Bibliotheken zunehmend digitalisiert und ermöglichen damit eine viel schnellere Suche. Verloren gehen damit aber das freie Umherstöbern, die Begegnung mit Kommilitonen und das zufällige Kennenlernen von Menschen. All das mag romantisch klingen – dabei sind solche Prozesse besonders bildungswirksam.
Was also muss passieren? Vor allem Schulen brauchen Konzepte einer fundierten Medienerziehung – aber auch Universitäten und andere Einrichtungen. Dabei darf nicht blindlings alles digitalisiert werden, was digitalisiert werden kann. Stattdessen sind drei Grundprinzipien zu beachten:
Medienerziehung muss jeden Medieneinsatz – ob analog oder digital – immer kritisch-konstruktiv hinterfragen. Technik ist nie nur gut oder schlecht: Wir Menschen sind es, die Technik zum Guten oder zum Schlechten einsetzen.
Medienerziehung muss die Zeitlichkeit der Erziehung im Blick haben, sie darf also nicht zu früh und auch nicht zu spät ansetzen. Das gilt etwa für die Frage, wann mit Kindern über Cybermobbing, Sexting und dergleichen gesprochen wird: Zu früh kann hier genauso folgenschwer sein wie zu spät.
Außerdem muss Medienerziehung die Balance halten: Nur wenn ein ausgewogenes Verhältnis besteht und Lernende beispielsweise die Möglichkeiten des digitalen Lesens ebenso erfahren wie die des analogen Lesens, können sie Medienkompetenz entwickeln.
Entscheidend aber ist immer die Professionalität der Lehrkräfte: Wenn Lehrpersonen während der Schulstunden private WhatsApp-Nachrichten schreiben, dann ist das nicht nur schlechter Unterricht, sondern eine pädagogische Bankrotterklärung.