Grundschule im Corona-Modus "Normales Spielen und Lernen ist nicht"

Bisher durften vor allem Viertklässler wieder in die Grundschulen kommen. An diesem Montag beginnt der Unterricht in einigen Bundesländern auch für die Jüngeren - wie an der Hamburger Grundschule An der Haake. Eine Zwischenbilanz.
Unterricht in Zeiten von Corona: An der Grundschule An der Haake gelten neue Regeln

Unterricht in Zeiten von Corona: An der Grundschule An der Haake gelten neue Regeln

Foto: Roman Pawlowski/ DER SPIEGEL

Große Pause - aber kein Gedränge, kein Gerenne, kein Lärm: Nur knapp zehn von sonst 400 Kindern spielen auf dem Schulhof der Grundschule An der Haake im Hamburger Stadtteil Hausbruch. Alle halten Abstand voneinander, und alle tragen eine Maske, einen Mund-Nase-Schutz, bis auf einen Jungen, der seinen leider zu Hause vergessen hat. Kindern passiert so etwas. Aber die Lehrerin, die Aufsicht führt, stürzt das in ein Dilemma.

Soll sie für das Kind schnell eine Ersatzmaske aus dem Lehrerzimmer holen? Dann muss sie die Gruppe allein lassen und kann nicht aufpassen, ob sich die Kinder zu nah kommen. Oder soll sie den Jungen für knapp 30 Minuten ohne Maske mit den anderen Schülern spielen lassen? Das verstößt gegen die Corona-Regeln. In den Pausen gilt zwecks Infektionsschutz Maskenpflicht, auch für Kinder. Die Lehrerin wirkt ratlos.

Verständlich, denn Szenen wie diese sind an Deutschlands Schulen für alle neu. Für Lehrkräfte, Kinder und Eltern. Anfang Mai haben die meisten Schulen nach einem wochenlangen Shutdown zwar wieder ihren Betrieb aufgenommen, aber bisher durfte nur ein kleiner Teil der Schüler für wenige Stunden pro Tag zum Unterricht kommen. Von Normalität kann dabei keine Rede sein, wie sich an der Grundschule An der Haake zeigt, die der SPIEGEL in ihrem neuen Corona-Alltag begleiten darf.

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Den Einbahnstraßen folgen, bitte!

Lehrerinnen und Lehrer müssen sich hier zwecks Infektionsschutz ebenso wie an vielen anderen Schulen Deutschlands in einem engen Korsett von Abstandsregeln, Hygienevorschriften und Notstundenplänen bewegen - und sind dadurch gezwungen, immer wieder gegen ihre pädagogischen Prinzipien zu verstoßen. "Wir möchten Kindern kein Übermaß an Regeln überstülpen, aber zurzeit geht es leider nicht anders", sagt Schulleiterin Gudrun Wolters-Vogeler. "Normales Spielen und Lernen ist nicht."

Wolters hat das Schulgebäude so umgestaltet, dass sich die rund 80 Viertklässler, die bisher als einziger Jahrgang wieder zum Unterricht kommen dürfen, nur auf festgelegten Routen bewegen. Im Foyer flattert Absperrband. Auf Stellwänden sind Schilder angebracht: Einbahnstraße. Sie markieren die Laufrichtung, damit sich die Gruppen nicht begegnen. Pausen liegen zeitversetzt. Zwei eigens engagierte Honorarkräfte passen auf, dass Kinder nur einzeln zur Toilette gehen.

Foto:

Silke Fokken/ DER SPIEGEL

Wolters hat die Viertklässler ebenso wie ihre Lehrkräfte außerdem in Team A und B eingeteilt. Beide lernen jeweils in vier Gruppen von knapp zehn Kindern, und zwar abwechselnd. Jedes Team darf für eine Woche für rund vier Stunden pro Tag, inklusive Mittagessen, in die Schule kommen. Danach ist das andere Team dran. Die Idee: Mit dem Schichtsystem lässt sich die Ansteckungsgefahr reduzieren und im Falle eines Falles die Infektionskette gut zurückverfolgen.

Ärger wegen der Abstandsregeln

"Die Kinder machen das inzwischen sehr gut mit", erzählt die Lehrerin Valeska Aksungar. Aber einige pandemiebedingte neue Regeln habe sie mit den Viertklässlern erst mal üben müssen, zum Beispiel, dass nur drei Kinder mit Abstand voneinander am Waschbecken im Klassenraum warten und sich dann einzeln gründlich die Hände waschen. Erst dann sind die nächsten dran.

"Die Kinder freuen sich riesig, dass sie endlich wieder in der Schule sind und ihre Freunde treffen dürfen", erzählt die Lehrerin. "Gerade am ersten Schultag kamen sie total freudig an, und da gab es leider prompt Ärger, weil sie den Abstand nicht eingehalten haben. Klar, das sind Kinder, da überwiegen die Emotionen, da wird der Kopf ausgeschaltet."

Lehrerin Valska Aksungar: "Das sind Kinder, da überwiegen die Emotionen, da wird der Kopf ausgeschaltet"

Lehrerin Valska Aksungar: "Das sind Kinder, da überwiegen die Emotionen, da wird der Kopf ausgeschaltet"

Foto: Silke Fokken/ DER SPIEGEL

Aksungar sagt, sie könne das sehr gut verstehen. "Ich habe den Kindern auch gesagt, ich selbst würde sie alle am liebsten erst mal drücken, nachdem wir uns so lange nicht gesehen haben, aber es geht ja leider nicht." Ihr tue es immer leid, wenn sie die Kinder zum Abstand halten auffordern muss. Denn Freunde haben, soziales Verhalten miteinander lernen, sei schließlich genau das, worauf es normalerweise in der Schule ankomme.

"Unterricht wie vor hundert Jahren"

Wegen der Corona-Pandemie ist der Alltag nun auf Abstand ausgerichtet. Die Kinder sitzen an Einzeltischen, gut zwei Meter voneinander entfernt. Sie lernen nicht mehr zu zweit oder in Gruppenarbeit, sondern, sagt Aksungar, sie mache notgedrungen meist Frontalunterricht, "wie vor hundert Jahren". Die pädagogischen Herausforderungen dagegen sind aktuell.

Die Pandemie und die damit verbundenen Einschnitte beschäftigen die Kinder, persönlich und allgemein. Die Hälfte der Klasse fehlt, die Klassenreise wurde abgesagt. Einige Kinder hätten zudem von Verschwörungstheorien gehört. "Die haben zu Hause viel Zeit mit ihren Handys auf YouTube verbracht und krudes Zeug aufgeschnappt", sagt Aksungar. "Ich erkläre ihnen, was zuverlässige Quellen sind."

Klassenraum: Die moderne Ausstattung mit runden Formen ist in Zeiten von Corona nicht angesagt

Klassenraum: Die moderne Ausstattung mit runden Formen ist in Zeiten von Corona nicht angesagt

Foto: Roman Pawlowski/ DER SPIEGEL

Vor allem aber versucht die Lehrerin soweit irgend möglich, Normalität herzustellen. Im Sachunterricht dürfen die Viertklässler Stromkreise mit Drähten, Schaltern und Glühbirnen bauen. "Das macht den Kindern viel Spaß, die sind insgesamt total heiß auf Unterricht." Daneben haben sie Deutsch- und Mathematikunterricht.

Fächer dagegen wie Englisch, Kunst, Musik und Sport fallen weg. "Kinder haben einen starken Bewegungsdrang", sagt Aksungar, "nun müssen sie leider lange auf ihren Stühlen sitzen". Sie versuche den Unterricht mit Bewegungsspielen am Platz aufzulockern. Kommt bei einer Matheaufgabe mehr als 50 heraus, sollen sie aufstehen. Ist es weniger, sollen sie in die Hocke gehen.

Nähe geht nur mit "Sprechschutz"

Ist ein Kind im Unterricht mal traurig oder hibbelig, kann die Lehrerin ihm nicht einfach die Hand zur Beruhigung auf die Schulter legen, so wie sonst. "Aber diese körperliche Nähe ist in der Grundschule noch ganz wichtig", sagt Aksungar, und sei es, dass ein Kind nur eine Frage habe und sie sich mit ihm über eine Aufgabe beugen und etwas erklären müsse.

Der Ausweg: Schulleiterin Gudrun Vogeler-Wolters hat durchsichtige Masken von einer Praxis für Kieferorthopädie bekommen. Diesen "Sprechschutz" tragen die Lehrkräfte, wenn sie sich zu einem Kind setzen. Aber sind echte Nähe und Unbefangenheit unter solchen Umständen möglich?

Foto: Silke Fokken/ DER SPIEGEL

"Ich versuche, jedes Kind mit einem Lächeln oder Witz anzusprechen", sagt Aksungar, "irgendwie müssen wir die Stimmung auflockern". Die Lehrerin versucht Mut zu machen, auch den Kindern, die sie zusätzlich zu den Viertklässlern noch beim Lernen zu Hause betreut. "Einige sind sehr fleißig und werden von den Eltern gefördert, andere sind traurig, weil sie keine Ansprechpartner haben. So werden die Leistungsunterschiede immer größer, das ist schon ungerecht."

Wolters, die auch Vorsitzende des Allgemeinen Schulleitungsverbands Deutschland ist, findet es fragwürdig, dass die Lehrkräfte die aktuellen Leistungen benoten sollen: "Ich benachteilige Kinder, die zu Hause wenig Hilfe haben, doppelt: Sie können weniger leisten und bekommen dafür noch eine negative Rückmeldung."

Mehr Kinder bringen das System an Grenzen

Sich mit den Widrigkeiten abfinden, irgendwie doch noch das Beste aus der Situation machen, darin sind Wolters und ihre Kollegen nun noch stärker als sonst gefordert. Gleichzeitig werden die Aufgaben, die sie bewältigen sollen, immer schwieriger.

Einerseits ist wissenschaftlich nach wie vor umstritten,  welche Rolle Kinder bei der Verbreitung des neuartigen Coronavirus spielen. Deshalb soll der Gesundheitsschutz gewahrt bleiben, das enge Korsett an Vorgaben bleibt. Andererseits werden Forderungen von Eltern und Fachleuten immer lauter, Kitas und Schulen zum Wohle der Kinder und zwecks Vereinbarkeit von Beruf und Familie schneller wieder zu öffnen.

Schulleiterin Gudrun Vogeler-Wolters: "Ich benachteilige Kinder, die zu Hause wenig Hilfe haben, doppelt"

Schulleiterin Gudrun Vogeler-Wolters: "Ich benachteilige Kinder, die zu Hause wenig Hilfe haben, doppelt"

Foto: Roman Pawlowski/ DER SPIEGEL

Die Politik reagiert darauf zögerlich, unter anderem mit der Begründung, Kinder könnten nur schwer Abstandsregeln einhalten. In den meisten Bundesländern sollen jedoch alle Kinder vor den Sommerferien zumindest tageweise wieder in die Schule gehen. Ab diesem Montag sollen deshalb in Hamburg die Vorschüler täglich wieder die Grundschule An der Haake besuchen. Für die Erst-, Zweit- und Drittklässler sind laut Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD)  mindestens fünf Stunden Unterricht pro Woche vorgesehen.

Wie das unter Wahrung aller Abstandsregeln und der Vorgabe von konstanten Gruppen konkret gehen soll, müssen sich die Schulen selbst überlegen - und stoßen an Grenzen. "Ehrlich gesagt: Das bekommen wir nicht zu hundert Prozent hin, wenn wir gleichzeitig im Falle einer Infektion noch eine Nachverfolgbarkeit gewährleisten sollen", sagt Schulleiterin Wolters.

Neben den Viertklässlern und der Vorbereitungsklasse seien derzeit noch rund 55 Kinder in der Notbetreuung, darunter Erst-, Zweit- und Drittklässler. "Wenn diese Kinder alle an einem Tag pro Woche in Kleingruppen unterrichtet werden, an den übrigen Tagen aber weiter in die Notbetreuung gehen, mischen sich die Gruppen", warnt Wolters. 

"Die meisten Kinder der ersten und zweiten Klasse haben eine Aufmerksamkeitsspanne von rund 20 Minuten, danach brauchen sie eine Abwechslung", sagt die Schulleiterin. "Ich kann Kinder also nicht für fünf Zeitstunden in die Schule bestellen, sondern müsste den Unterricht auf zwei Tage verteilen." Aber wenn alle in Kleingruppen lernen, zusätzlich noch zeitversetzt beginnen, damit sie sich nicht begegnen, zieht sich das Unterrichtsangebot bis in den Abend, "und dann sind Kinder kaum noch aufnahmefähig." 

Noch ein Punkt ist das Personal: "Ich kann Grundschüler nicht von den Kindern Unbekannten beschulen lassen, sondern die brauchen ihre vertrauten Bezugspersonen." Einige Lehrkräfte gehörten zur Risikogruppe, deshalb sei das nicht immer machbar, aber doch zumindest anzustreben.

Wolters sagt, sie müsse die Vorgaben zum Unterrichtsumfang aus all diesen Gründen leicht unterlaufen. Der Gesundheitsschutz aller Beteiligten habe Priorität. Die Erst- und Zweitklässler sollen an verschiedenen Tagen zweimal pro Woche für drei Stunden, die Drittklässler einmal pro Woche für sechs Stunden zum Unterricht kommen. Weil die Kinder wieder in A- und B-Teams eingeteilt sind, gilt der Plan nur jede zweite Woche.

"Die Lehrkräfte sehnen sich danach, alle Kinder so schnell wie möglich wiederzusehen, und für die Kinder ist die Schule immens wichtig, keine Frage", sagt Wolters. "Aber ich frage mich schon, ob der ganze Aufwand gerechtfertigt ist, zumal die Sommerferien in Hamburg schon am 25. Juni losgehen und die Kinder in der Schule nicht das vorfinden, was sie erwarten: einen normalen Alltag."

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