ifo-Studie zur Schulreform Beeinflusst Ethikunterricht, wie religiös und konservativ Menschen sind?

Religions- oder Ethikunterricht – Schülerinnen und Schüler konnten öfter wählen. Hat das ihre Haltung zu Religion, Ehe und Arbeitsmarkt verändert? Ja, sagen ifo-Forscher.
Leere Kirchenbänke: Laut einer ifo-Studie hat Religiosität durch Ethikunterricht abgenommen

Leere Kirchenbänke: Laut einer ifo-Studie hat Religiosität durch Ethikunterricht abgenommen

Foto: Pressefoto Rudel / IMAGO

Welchen Effekt hatte die Einführung des Fachs Ethik als Alternative zum Religionsunterricht? Etwa auf religiöse und gesellschaftliche Vorstellungen im Erwachsenenalter?

Forscherinnen und Forscher des Münchner ifo-Instituts sind diesen Fragen nachgegangen und wollen einen Zusammenhang festgestellt haben: Ethikunterricht in der Schule habe, statistisch betrachtet, zu einer geringeren Religiosität im Erwachsenenalter beigetragen. Zugleich habe die Einführung des Fachs traditionelle Geschlechterrollen zurückgedrängt sowie die Arbeitsmarktbeteiligung und Löhne erhöht.

Das geht aus einer an diesem Dienstag veröffentlichten Mitteilung des ifo-Instituts zu den Studienergebnissen  hervor. »Neben allgemeiner Religiosität nahm auch die Wahrscheinlichkeit ab, am Gottesdienst teilzunehmen, zu beten oder Mitglied einer Kirche zu sein«, so ifo-Forscher Ludger Wößmann. Diese Folgen seien vor allem in katholischen Regionen zu beobachten.

Wie solide ist die Studie?

Grundlage für die Studie waren Umfragedaten von mehr als 58.000 Erwachsenen, die zwischen 1950 und 2004 in Westdeutschland eingeschult worden sind. Die meisten westdeutschen Bundesländer ersetzten den verpflichtenden Besuch des Religionsunterrichts zu unterschiedlichen Zeitpunkten durch eine Wahlmöglichkeit zwischen Religions- und etwa Philosophie- oder Ethikunterricht – von 1972 in Bayern bis zum Jahre 2004 in Nordrhein-Westfalen.

Vor der Reform sei der verpflichtende Religionsunterricht intensiv gewesen, heißt es von dem Forscherteam. Während der gesamten Schulzeit umfasste er demnach rund tausend Unterrichtsstunden, etwa viermal so viel wie der Physikunterricht.

Der Ethikunterricht habe nicht die Lebenszufriedenheit oder ethisches Verhalten wie etwa ehrenamtliches Engagement beeinflusst: »Die Einführung der Wahlmöglichkeit zwischen Religions- und Ethikunterricht ging also nicht auf Kosten allgemeiner ethischer Einstellungen«, sagte ifo-Forscherin Larissa Zierow. Nach der Einführung des Ethikunterrichts wurden jedoch den Angaben zufolge traditionelle Einstellungen zur Aufgabenverteilung der Geschlechter und zur Notwendigkeit der Ehe zurückgedrängt.

Dies schlage sich nieder

  • in der Anzahl der geschlossenen Ehen (−1,5 Prozentpunkte)

  • und der Geburten (−0,1 Kinder).

Dafür stiegen

  • die Arbeitsmarktbeteiligung (+1,5 Prozentpunkte),

  • die Arbeitszeiten (+0,6 Wochenstunden)

  • und das Lohnniveau (+5,3 Prozent).

Die Studie wirft durchaus Fragen auf. Die Annahme liegt nahe, dass weniger die Einführung des Ethikunterrichts als vielmehr allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen die Religiosität, traditionelle Denkweisen oder Trends auf dem Arbeitsmarkt verändert haben könnten. Zudem bewegen sich die meisten vom ifo-Institut gemessenen Veränderungen im Rahmen nur kleiner Veränderungen. Diese seien aber statistisch signifikant, sagte ifo-Forscher Benjamin Arold auf SPIEGEL-Nachfrage.

Föderalismus als »Glücksfall« für die Wissenschaft

Das Forscherteam habe die Auswirkungen des Ethikunterrichts auf die Religiosität von der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung wie folgt getrennt: Es berücksichtigte, dass die westdeutschen Bundesländer die Unterrichtsreform zu verschiedenen Zeitpunkten eingeführt hatten. »Aus wissenschaftlicher Sicht war der Bildungsföderalismus für uns ein Glücksfall«, sagt Arold.

So habe man erstens die verschiedenen Altersgruppen innerhalb eines Bundeslandes betrachten können. Die Älteren seien unter der alten Regelung zur Schule gegangen, die Jüngeren unter der neuen. Zweitens hätten die Forscherinnen und -forscher den Unterschied in der Religiosität dieser Altersgruppen mit den Unterschieden zwischen den gleichen Altersgruppen in anderen Bundesländern verglichen, quasi als »Kontrollgruppe«, wie Arold sagt, bei der es zu dem jeweiligen Zeitpunkt keine Reform gab.

Aber vielleicht gab es keine Reform in den jeweiligen Bundesländern, weil etwa Religiosität dort eine höhere Bedeutung hat – und deshalb wurde am Religionsunterricht festgehalten? »Auch diese Möglichkeit haben wir in Betracht gezogen«, sagt Arold. Aber man habe gesellschaftliche Trends in der Bevölkerung in den jeweiligen Bundesländern ohne Reform oder vor der Reform in der Studie berücksichtigt.

Für den Forscher steht fest, dass die Einführung des Ethikunterrichts die genannten Auswirkungen hatte.

fok
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