Defizite in Deutsch und Mathe bei Viertklässlern »Es wird schwierig, das aufzuholen«

Matheaufgaben: Im Rechnen sind Viertklässler im Mittel ein Vierteljahr im Rückstand im Vergleich zu 2016
Foto: Erik Tham / Getty ImagesDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Immer mehr Viertklässlerinnen und Viertklässler in Deutschland schaffen die Mindestanforderungen im Mathe- und Deutschunterricht nicht. Das geht aus ersten Daten des IQB-Bildungstrends 2021 hervor, der seit 2011 alle fünf Jahre erhoben wird. Dies seien traurige Nachrichten, die er mit Besorgnis betrachte, sagte Hamburgs Bildungsminister Ties Rabe (SPD) bei der Vorstellung des Kurzberichts.
In beiden Fächern haben die Schülerinnen und Schüler demnach im Durchschnitt deutlich weniger gelernt als bei der Erhebung 2016.
Im Bereich Orthografie entspricht der Kompetenzrückgang einem Viertel eines Schuljahrs,
beim Lesen etwa einem Drittel eines Schuljahrs,
im Zuhören einem halben Schuljahr,
in Mathematik etwa einem Viertel eines Schuljahrs.
In den Bereichen Lesen und Zuhören, für die aus dem Jahr 2011 bereits vergleichbare Daten vorliegen, verschlechtern sich die Schülerinnen und Schüler damit erstmals beziehungsweise noch stärker, als es zwischen der ersten und zweiten Erhebung 2011 und 2016 der Fall war. Auch in Mathematik zeigt die Lernkurve erneut nach unten, allerdings ist der Anstieg nicht so stark wie beim Lesen und Schreiben.
Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die Mindestanforderungen in den vier untersuchten Bereichen verfehlen, ist deutlich zwischen sechs und acht Prozent gestiegen.
Im Bereich Orthografie können gut 30 Prozent nicht mithalten,
beim Lesen erreichen fast 19 Prozent die Mindeststandards nicht.
Beim Zuhören sind es gut 18 Prozent,
in Mathematik liegt der Anteil bei knapp 22 Prozent.
Corona nur teilweise für Kompetenzrückgang verantwortlich
Das Forschungsteam um Petra Stanat, Direktorin des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Berliner Humboldt-Universität, geht davon aus, dass die coronabedingten Schulschließungen »teilweise« für den Misserfolg verantwortlich sind. Die Daten wurden zwischen April und August 2021 erhoben, zu diesem Zeitpunkt konnten viele der teilnehmenden Viertklässler erst seit wenigen Wochen wieder regelmäßig ihre Schule besuchen, wie es in der Studie heißt.
Information zur Studie
Im IQB-Bildungstrend 2021 hat das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) im Auftrag der Kultusministerkonferenz zum dritten Mal untersucht, inwieweit Viertklässlerinnen und Viertklässler die bundesweit geltenden Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK) in den Fächern Deutsch und Mathematik erreichen. Durch einen Vergleich mit den Ergebnissen des IQB-Ländervergleichs 2011 und des IQB-Bildungstrends 2016 ist es möglich, zu prüfen, inwieweit sich das Kompetenzniveau der Kinder in den letzten fünf beziehungsweise zehn Jahren verändert hat.
Allerdings hätten sich bereits zwischen 2011 und 2016 die Leistungen deutlich verschlechtert. Demnach könnte es sich »in Teilen um eine Fortsetzung dieser Trends handeln, die auch ohne die Pandemie stattgefunden hätten«. Eindeutig lasse sich das mit den vorliegenden Daten nicht beantworten.
Zusammenhang zwischen Elternhaus und Leistung steigt weiter
Neben Corona sei davon auszugehen, dass sich auch die weiter gewachsene Zahl von Schülerinnen und Schülern mit Migrationsgeschichte auf das Kompetenzniveau ausgewirkt habe. Ihr Anteil an der Schülerschaft sei auf 38 Prozent gestiegen, weil viele Kinder neu zugewandert seien. Bei Schülerinnen und Schülern dieser ersten Generation zeige sich ein Zusammenhang zwischen mangelnden Kompetenzen und der Zuwanderungsgeschichte besonders deutlich.
Daneben seien insbesondere Kinder benachteiligt, deren Familie einen niedrigen sozioökonomischen Status hat – auch das bestätigen Studien bereits seit Jahren. Dieser Zusammenhang habe sich zwischen der Erhebung von 2016 und den aktuellen Befunden noch einmal »signifikant verstärkt«, schreiben die Forschenden.
Karin Prien, Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) und Bildungsministerin in Schleswig-Holstein, machte für den Anstieg die Pandemie mitverantwortlich, da Kinder aus Familien mit Zuwanderungsgeschichte oder niedrigem sozioökonomischen Status zu Hause oft weniger unterstützt werden könnten.
»Dies unterstreicht einmal mehr die Bedeutung von schulischem Lernen für die Bildungsgerechtigkeit«, sagte die CDU-Politikerin bei der Vorstellung des Kurzberichts. »Die Schülerinnen und Schüler brauchen den Präsenzunterricht in der Schule und langfristig angelegte Maßnahmen, um die pandemiebedingten Lernrückstände aufzuholen.« Prien wiederholte ihre Forderung an den Bund, das Corona-Aufholprogramm finanziell aufzustocken und zu verlängern. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) hat das bisher abgelehnt.
Wie Prien betonten auch die Wissenschaftler, dass nicht der gesamte Rückgang in den erreichten Kompetenzen den Folgen der Pandemie zuzuschreiben sei. Schon bei den vorherigen Untersuchungen hätten »zu viele Kinder nicht die Mindeststandards erreicht. Um diese Kinder muss sich das Bildungssystem systematischer kümmern«, sagte Wissenschaftlerin Stanat. Durch temporäre Unterstützung wie das Corona-Aufholprogramm lasse sich der Anteil der Betroffenen nicht dauerhaft reduzieren, heißt es im Bericht.
Benachteiligte Schülergruppen systematisch zu fördern, entspricht dem Koalitionsvorhaben der Regierungskoalition. Demnach sollen bundesweit 4000 Schulen »in besonders schwierigem Umfeld« zusätzlich unterstützt werden. Allerdings wurde dieses »Startchancen«-Programm noch nicht angeschoben. Hamburgs Bildungsminister Rabe forderte, der Bund müsse dies gemeinsam mit den Ländern zügig entwickeln und umsetzen. »Es gibt erheblichen Handlungsbedarf«, sagte Prien angesichts der Testergebnisse.
»Es wird schwierig, das aufzuholen«, sagte Wissenschaftlerin Stanat. Sie wolle keinen Pessimismus verbreiten, aber es bedürfe großer Kraftanstrengungen, dass die Kinder diese eklatanten Lücken in der Sekundarstufe noch schließen können.
Kinder schätzen die Schule
Der Deutsche Lehrerverband, die GEW und der VBE zeigten sich ebenfalls besorgt über die Ergebnisse und forderten unisono mehr Personal. Der Trend könne nur umgekehrt werden, wenn endlich konsequent auf den dramatischen Lehrkräftemangel regiert wird, sagte etwa Anja Bensinger-Stolze von der GEW.
Weitere Befunde des IQB-Bildungstrends zeigen, dass das Interesse der Viertklässler an den Fächern Deutsch und Mathematik weiter zurückgegangen ist. Die Schulzufriedenheit sei allerdings auf hohem Niveau noch mal gestiegen. Die Pandemie habe womöglich dazu geführt, dass Kinder ihre Schule noch mehr wertschätzten, schlussfolgerte Stanat. Auch den sozialen Zusammenhalt in der Klasse bewerteten die Kinder positiv. Bis zum Herbst sollen die Daten weiter ausgewertet und auch auf Unterschiede zwischen den Ländern hin untersucht werden.