Nach dem IQB-Bildungstrend Schriller Streit um Ursachen für desaströse Schülerleistungen

»Pädagogischer Abgrund«? Viertklässler in Neumünster (Schleswig-Holstein)
Foto: Frank Molter/ dpaLeseschwierigkeiten bei rund einem Fünftel der Viertklässler, Orthografie-Versagen bei einem Drittel: Die Ergebnisse des in der vergangenen Woche vorgestellten IQB-Bildungstrends sind desaströs. Klar ist: Die Coronapandemie ist dafür nur teilweise verantwortlich.
Die Debatte darüber, wer sonst noch Schuld hat am schlechten Abschneiden der deutschen Grundschulkinder, ist knapp eine Woche nach Vorstellung der Ergebnisse schärfer geworden – und manchmal regelrecht schrill.
Sie sei »entsetzt« über die vom Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen erhobenen Ergebnisse, sagt etwa Cornelia Schwartz, Landesvorsitzende des Philologenverbands Rheinland-Pfalz. Die Verantwortung dafür sieht sie bei einer inhaltlich fragwürdigen Ausbildung der angehenden Lehrerinnen und Lehrer an den Unis.
»Man kann die derzeit von den Hochschulen propagierte Grundschuldidaktik fast schon als eine Didaktik der Verwahrlosung bezeichnen«, zürnt Schwartz. »Fehler werden nur noch ansatzweise korrigiert und setzen sich daher in den Köpfen der Kinder fest, von der Lehrkraft angeleitete gemeinsame Erarbeitungsphasen geißelt diese Didaktik als lehrerzentriert, und automatisiertes Üben beim Rechnen – davon will man gar nichts mehr wissen.«
Pädagogischer Abgrund und Pseudopädagogik?
Dieser Ansatz, sagt Schwartz, führe das deutsche Bildungssystem »schon seit Jahren an den pädagogischen Abgrund«. Sie fordert daher für die Klassen 5 und 6 in den weiterführenden Schulen zwei Stunden pro Woche verpflichtenden Förderunterricht, um »Versäumtes aus der Grundschule zumindest teilweise« aufholen zu können.
Auch Jürgen Böhm, Vorsitzender des Deutschen Realschullehrerverbands, teilt massiv in Richtung Grundschulen aus. Ein wesentlicher Grund für die schlechten Schülerarbeiten sei die mangelnde Leistungsorientierung in den Grundschulen und ein immer weiteres Einebnen der Anforderungen in den Basisfächern, schimpft Böhm: »Wenn man zunehmend von Grundschulen ohne Noten sinniert, sich in pseudopädagogischen Vermittlungsstrukturen und Experimenten ergeht, Förderschulen abschafft, muss einen das Ergebnis nicht verwundern.«
Ein Erklärungsansatz, der bei Udo Beckmann den Puls spürbar nach oben treibt. Die Schuldzuweisungen von Gymnasial- und Realschullehrerverbänden an die Adresse die Grundschullehrerinnen und -lehrer sei »völlig daneben«, sagt der Vorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), der auch zahlreiche Lehrkräfte an Grundschulen vertritt. Den Kollegen von den weiterführenden Schulen attestiert er seinerseits, »dass man nach wie vor in Denkmustern von Schule aus dem letzten Jahrhundert verharrt und nicht mitbekommen hat, dass es der gemeinsame Auftrag aller Schulen ist, Kinder in ihrer gesamten Persönlichkeit zu fördern«.
Die größte Verantwortung für die schlechten Testergebnisse sieht Beckmann bei der Politik: »Wer seit Jahren die personelle Unterdeckung an den Grundschulen – bei gleichzeitig wachsenden Aufgaben und zunehmender Heterogenität in den Lerngruppen – ignoriert, muss sich nicht wundern, wenn das messbare Leistungsniveau sinkt«, sagt der Lehrervertreter. Seit Jahren würden den Grundschulen die notwendigen Ressourcen vorenthalten. Dass die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz erst seit wenigen Wochen nach Wegen suche, um den dramatischen Lehrkräftemangel abzufedern, sei ein Beleg für »bildungspolitische Kurzsichtigkeit«.
Den Willen zu umfassenden Reformen vermisst Beckmann jedoch – nicht nur in der Politik, sondern teilweise auch bei den anderen Lehrergewerkschaften. Deshalb gibt sich der VBE-Chef ausgesprochen skeptisch für die nähere Zukunft an den Grundschulen: »Es ist ein Leichtes, bereits jetzt vorherzusagen, dass die nächste IQB-Studie noch verheerender ausfallen wird, wenn die Politik nicht bereit ist, den Grundschulen das zu geben, was sie brauchen.«