Kitafinanzierung in der Coronakrise Auf dem Rücken der Erzieherinnen

Vera Mohn* spricht von einer "Frechheit". Sie leitet eine Kindertagesstätte in einer Stadt in Baden-Württemberg, hält dort mit Kolleginnen abwechselnd die Notbetreuung aufrecht - und ärgert sich über ein Schreiben, das sie vom Träger ihrer Einrichtung bekommen habe. "Er hat uns nahegelegt, Kurzarbeit für die Mitarbeiter zu beantragen", empört sich Mohn.
Kurzarbeit heißt: Menschen sollen zumindest vorübergehend ihre Arbeitszeit reduzieren oder ganz auf null fahren. Ein Teil des Lohns, der ihnen dadurch entgeht, wird von der Bundesagentur für Arbeit gezahlt. Sie ersetzt 60 Prozent des entgangenen Nettolohns, bei Erwerbstätigen mit Kindern sind es 67 Prozent. Wer in Kurzarbeit geht, muss also finanzielle Einbußen hinnehmen - sofern der Arbeitgeber das Kurzarbeitergeld nicht noch freiwillig aufstockt.
"Erzieherinnen haben ohnehin geringe Gehälter und arbeiten oft in Teilzeit", sagt Mohn. "Wenn sie jetzt in Kurzarbeit gehen sollen, bringt das einige an den Rand des Ruins." Das sei "nicht in Ordnung", zumal, weil Kitas in Coronazeiten als "systemrelevant" eingestuft worden seien. Erzieherinnen leisteten unverzichtbare Arbeit und riskierten in der Notbetreuung ihre Gesundheit. "Sie können nicht ein Kind trösten", sagt Mohn, "und dabei anderthalb Meter Abstand halten."
Eltern sollten entlastet werden
Während sich manche Erzieherin um Kurzarbeit sorgt, will die Politik Mütter und Väter finanziell entlasten. Hamburg, Bremen, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Baden-Württemberg und andere Bundesländer haben Ende März entschieden, den Eltern die Kitabeiträge zu erlassen, erst mal für den Monat April.
Wegen der Corona-Einschränkungen bieten Kitas bis mindestens kurz nach Ostern nur Notbetreuung an. Eltern sollen nun nicht für eine Leistung zahlen, die sie nicht in Anspruch nehmen können, zumal bei vielen gerade das Einkommen einbricht. Nur woher soll das Geld zur Finanzierung der Kitas dann kommen?
Wie Kitaplätze finanziert werden, ist in Deutschland nicht einheitlich geregelt. Den größten Teil der Kosten übernimmt in der Regel das Land, außerdem steuert die Kommune Geld zu, und in vielen Ländern zahlen zudem Eltern monatliche Beiträge, meist gestaffelt nach Einkommen. Fällt dieses Geld weg, entsteht eine Lücke.
Politik sichert die Finanzierung
Mehrere Bundesländer, darunter Hamburg, hatten deshalb angekündigt, das Land werde seine Zuschüsse für Kitaplätze wie gehabt weiterzahlen und obendrein die Elternbeiträge mindestens für den Monat April übernehmen. "Für uns alle ist diese Situation fordernd. Für Hamburgs Eltern gilt das aber in besonderem Maße", teilte Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) mit.
Sachsen und andere Länder springen ebenfalls bei den Elternbeiträgen ein, Baden-Württemberg legte ein Hilfsprogramm in Höhe von 100 Millionen Euro auf, mit denen fehlende Beiträge kompensiert werden können.
"Damit wäre die Finanzierung der Kitas in vielen Regionen eigentlich gesichert", sagt Björn Köhler von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). "Aber es herrscht große Unsicherheit." Kleine, private Träger müssten ohnehin mit wenig Geld wirtschaften und hätten kaum Rücklagen. "Da neigen manche nun vielleicht zur Überreaktion und setzen auf Kurzarbeit."
Köhler weiß aber auch von Kommunen, die in Coronazeiten sparen wollen - und die freien Träger deshalb auffordern, ihre Angestellten auf Kurzarbeit zu setzen. "Einige Kommunen erwarten massive Einbußen, da versucht mancher Lokalpolitiker offenbar vorsorglich, den Etat zu sanieren."
Boris Palmer, Oberbürgermeister in Tübingen
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer verschickte Ende März ein Schreiben an die freien Kitaträger der Stadt, das dem SPIEGEL vorliegt. Darin fordert der Grünen-Politiker dazu auf, Erzieherinnen und Erzieher, die nicht in der Notbetreuung eingesetzt seien, zur Kurzarbeit zu bewegen.
"Dadurch können Sie den städtischen Haushalt in dieser schwierigen Zeit erheblich entlasten", heißt es in dem Schreiben. Leider sei absehbar, dass "unsere Stadtgesellschaft auch nach der Überwindung der akuten Coronakrise vor nie gekannten Herausforderungen stehe."
In einem weiteren Schreiben von Anfang April sichert Palmer zu, nach Verhandlungen mit Gewerkschaften werde nun allen Beschäftigten der freien Träger, die Kurzarbeitsgeld in Anspruch nähmen, von der Stadt ein Zuschuss gewährt. Der sichere ein Nettoentgelt von 95 Prozent des regulären Lohns.
Der Politiker verweist darauf, dass viele Erzieherinnen und Erzieher derzeit ohne Aufgabe seien. Mit Tätigkeiten, die sich im Homeoffice erledigen ließen, etwa pädagogische Konzepte oder Entwicklungsberichte über Kinder schreiben, sollten die Pädagogen in der dritten Woche der Kitaschließzeit wohl fertig sein, nimmt Palmer an.
"Es will auch niemand Lehrern das Gehalt kürzen"
Sabine Baumann*, seit mehr als 20 Jahren Erzieherin, ärgert sich über solche Aussagen: "Es kommt doch auch niemand auf die Idee, Lehrern das Gehalt zu kürzen." Und nein, sie sei mit den Tätigkeiten im Homeoffice noch nicht fertig. Normalerweise reiche die Arbeitszeit nämlich überhaupt nicht, um all die Aufgaben zu erledigen, die neben der eigentlichen Kinderbetreuung anstünden: "Es bleibt viel liegen, oder wir machen unbezahlte Überstunden, um die Arbeit zu schaffen."
Auch Baumann sollte in Kurzarbeit gehen. Sie arbeitet in Sachsen. Auch hier hat die Landesregierung versprochen, ihre Zuschüsse weiterzuzahlen und auch die wegfallenden Elternbeiträge zu übernehmen.
Zudem wurden die Kommunen ausdrücklich aufgefordert, ihren Anteil an den Kitaplätzen weiterzutragen. Alles andere widerspreche der in dieser Zeit "notwendigen solidarischen Grundhaltung", heißt es in einem Schreiben von Kultusminister Christian Piwarz an die Kommunen.
"Das war eine klare Ansage", sagt Jens Weichelt, Vorsitzender des Sächsischen Lehrerverbandes, zu dem auch der Sächsische Erzieherverband (SEV) gehört. Trotzdem weiß er von mehreren Erziehern, dass Kurzarbeit, Stundenreduzierungen, unbezahlter Urlaub oder Aufbau von Minusstunden angeordnet wurden, weil Kommunen bei den eigenen Beschäftigten sparen wollten oder freie Träger eigens dazu aufgefordert hätten.
Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.
"Das ist nicht in Ordnung", sagt Weichelt, zumal die kommunalen Arbeitgeber mit den Gewerkschaften gerade erst eine Vereinbarung zur Kurzarbeit ausgehandelt hätten, aber davon seien Mitarbeiter im Sozial- und Erziehungsdienst, sofern kommunal getragen, ausdrücklich ausgenommen worden.
Nur: Was, wenn sich Arbeitgeber nicht daran halten, die nicht an diesen Tarifvertrag gebunden sind oder als freie Träger die Kitas betreiben?
"Ich will mich wehren"
Mona Reimann* arbeitet als Krippenerzieherin in einer Stadt in Thüringen, die ihre freien Träger per Rundschreiben aufforderte, ihre Mitarbeiter zur Kurzarbeit zu bewegen. Das Papier liegt dem SPIEGEL vor. Reimanns Arbeitgeber kam der Bitte ihren Angaben zufolge nach.
Sie habe vor wenigen Tagen eine Zusatzvereinbarung zu ihrem Arbeitsvertrag unterschreiben sollen, um Kurzarbeit zu ermöglichen, sagt Reimann, die eigentlich anders heißt, aber nicht noch mehr Ärger mit ihrem Chef haben will. "Ich weiß von einigen Kolleginnen, dass sie schon unterschrieben haben, aber ich will mich dagegen wehren", sagt sie. "Ich finde es extrem ungerecht, dass wir nun in prekäre Arbeitsverhältnisse gebracht werden sollen."
In Thüringen und Sachsen beispielsweise gibt es laut SEV auch ohne Corona schon sogenannte Flexi-Verträge. Das heißt: Werden in einer Kita mal weniger oder ältere Kinder betreut als sonst und es fließen deshalb weniger Zuschüsse, darf die Arbeitszeit der Erzieher auf einen Grundsockel abgesenkt werden - und damit auch ihr Gehalt.
Reimann arbeitet 25 Stunden pro Woche, ihre Arbeitszeit kann der Arbeitgeber auf 20 Stunden reduzieren. Dann verdiene sie rund 1100 Euro netto im Monat, sagt sie. "Wenn ich auf den Grundsockel abgesenkt bin und dann durch Kurzarbeit weniger Geld bekomme, habe ich nicht mehr genug zum Leben." Reimann, die derzeit in der Notbetreuung eingesetzt ist, sorgt sich aber nicht nur ums Geld: "Ich vermisse Wertschätzung für unseren Beruf."
Björn Köhler, GEW
Wie viele Erzieherinnen und Erzieher bundesweit in ähnlichen Nöten stecken, ist derzeit unklar. Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) weiß von mehreren Fällen. Die Diakonie Deutschland, bundesweit einer der größten Kitaträger, teilt dem SPIEGEL mit, es gebe bisher nur sehr vereinzelt Meldungen, dass über Kurzarbeit nachgedacht werde.
"Durch die Notbetreuung besteht Personalbedarf", betont die zuständige Referentin Paula Döge, "auch wenn weniger Kinder in den Einrichtungen sind." Gewerkschafter Köhler mahnt: "Selbst wenn nur wenige Kollegen betroffen sind, ist es ein fatales Signal, wenn jetzt auf dem Rücken von Erzieherinnen und Erziehern Geld gespart werden soll."
In vielen Kitas herrschte vor Corona akute Personalnot. Fast überall in Deutschland ist der Arbeitsmarkt an pädagogischen Fachkräften derzeit leer gefegt. Geraten Erzieherinnen und Erzieher nun in Existenznöte, könnte das noch mehr Menschen davon abhalten, sich für diesen Beruf zu entscheiden. Und wenn die Krise vorbei ist, wird der Bedarf wieder enorm sein.
*Name von der Redaktion geändert.