Lehrermangel an Schulen Bildungsforscher hält Berechnungen der Kultusminister teilweise für »unseriös«

Julian Stratenschulte / picture alliance / dpa
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Die Rechnung an sich mag stimmen, aber einige Zahlen sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu hoch gegriffen; manche Faktoren wurden nicht berücksichtigt; das Gesamtergebnis ist deshalb falsch und beschönigt die künftige Personalnot an Deutschlands Schulen – auf ungefähr diesen Nenner lässt sich das Ergebnis einer Studie des Bildungsforschers Klaus Klemm bringen. Der hat (mal wieder) die Berechnungen der Kultusministerinnen und -minister zum Lehrerbedarf und -angebot überprüft und stellt diese infrage.
In seiner Analyse kommt Klemm (ebenfalls mal wieder) zu dem Schluss, dass die Kultusministerkonferenz (KMK) mit ihren Modellrechnungen daneben liegt und der Lehrermangel hierzulande in den kommenden Jahren noch viel größer werden wird als bisher befürchtet.
Während die KMK davon ausgeht, dass 2030 rund 14.000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen werden, sieht der Bildungsforscher ein deutlich höheres Saldo: 81.000.
Die Personalnot wird nach Klemms Prognosen nicht an allen Schulformen und für alle Fächer gleichermaßen zu Buche schlagen. So werde es an Gymnasien tendenziell sogar ein Überangebot an Lehrkräften geben. Gleichzeitig dürfte der Lehrermangel vor allem an anderen weiterführenden Schulen von Klasse fünf bis zehn besonders gravierend sein und in den sogenannten MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) ein »dramatisches Ausmaß« annehmen.
Eine Analyse für Nordrhein-Westfalen, die laut Klemm auf die übrigen Bundesländer tendenziell übertragbar ist, zeige, dass 2030 nur für ein Drittel der neu zu besetzenden MINT-Stellen neu ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer verfügbar sein werden. Die übrigen Stellen könnten nur fachfremd besetzt werden oder gar nicht.
Die Kritik im Überblick:
Auf knapp 30 Seiten erklärt Klemm, wie er vorgegangen ist und wo seiner Ansicht nach die Fehler bei den Modellrechnungen der KMK liegen. Der Bildungsforscher hält zwar die Annahmen der Kultusminister zur Entwicklung der Schülerzahlen und den daraus abgeleiteten Lehrkräftebedarf für belastbar. Er kommt hier zu ähnlichen Ergebnissen wie die KMK. Nach Klemms Ansicht rechnen die Kultusminister aber an anderer Stelle mit Zahlen, die er mit Blick auf die Zukunft für unrealistisch hält.
Die Zahl der künftigen Lehramtsabsolventen wurde laut Klemm zu hoch eingeschätzt. Die Annahmen zum Neuangebot ausgebildeter Lehrkräfte seien »im hohen Ausmaß unseriös«, schreibt der Forscher. Sie seien durch die neuere Entwicklung bei den Zahlen der Lehramtsstudierenden ebenso wenig gedeckt wie durch die Zahl der Studienberechtigten, die in den nächsten Jahren die Schulen verlassen würden.
Klemm hat in seine Modellrechnung unter anderem einbezogen, dass sich die Zahl der Abiturienten verändern wird und nicht alle, die Lehramt studieren, ihr Studium auch zu Ende bringen. Er geht in seinem Szenario auf dieser Grundlage von nur 286.000 ausgebildeten Lehrern aus, die bis 2030 auf den Arbeitsmarkt kommen werden. Die KMK nimmt an, dass es rund 63.000 mehr sein werden.
Wie viele Menschen am Ende tatsächlich ihr Studium beenden und ein Referendariat abschließen, bleibt letztlich ungewiss.
Der Bildungsforscher kritisiert zudem, dass die KMK bildungspolitisch vom Status quo ausgegangen sei. Die Berechnung des Einstellungsbedarfs basiere offensichtlich auf der Grundlage weitgehend konstant gehaltener Bedarfsparameter. Sie berücksichtige nicht,
dass künftig Klassengrößen verkleinert werden könnten,
dass Lehrerinnen und Lehrer zu weniger Unterrichtsstunden pro Woche verpflichtet werden könnten, um mehr Zeit etwa für Beziehungsarbeit oder organisatorische Aufgaben zu gewinnen,
dass mehr Lehrerinnen und Lehrer benötigt werden, wenn das Ganztagsangebot an Schulen ausgebaut wird,
dass der Personalbedarf steigt, wenn Kinder mit und ohne Behinderung öfter gemeinsam lernen, Stichwort Inklusion,
dass mehr Pädagogen als bisher eingestellt werden müssen, wenn Schulen in sozial benachteiligten Stadtteilen zusätzliche personelle Ressourcen bekommen sollen.
Die drei zuletzt genannten Maßnahmen sind erklärte, bildungspolitische Ziele.
Weil nicht alle Lehrer Vollzeit arbeiten, geht Klemm davon aus, dass allein dafür fast 75.000 Menschen zusätzlich eingestellt werden müssten. Dies gilt zumindest, wenn beim Rechtsanspruch auf ganztägige Betreuung von Kindern im Grundschulalter, der ab 2026 greift, »im Feld der außerunterrichtlichen Aktivitäten nicht nur Erzieherinnen und Erzieher tätig sein sollen«.
Dieser Mehrbedarf an Personal sei bei den 2030 nach seinen Berechnungen fehlenden 81.000 Lehrerinnen und Lehrern noch nicht berücksichtigt. Der Personalmangel wäre aus seiner Sicht damit deutlich höher als in der KMK-Prognose.
Gibt es Gegenmaßnahmen?
Während Politiker immer wieder betonen, dem Personalmangel an Schulen mit einer Ausbildungsoffensive begegnen zu wollen, ist die Zahl der Lehramtsabsolventen in den vergangenen Jahren in Deutschland im Schnitt gesunken: um sieben Prozent. Einige Bundesländer haben zwar kräftig in die Ausbildung von Pädagogen investiert und die Zahl der Absolventen teils drastisch erhöht, etwa Mecklenburg-Vorpommern, andere Bundesländer hingegen bilden heute deutlich weniger Lehrerinnen und Lehrer aus als noch vor einigen Jahren.
Die beiden Grafiken zeigen, dass gerade in den Bundesländern, in denen in den kommenden Jahren eine größere Pensionierungswelle zu erwarten ist, die Zahl der Lehramtsabsolventen tendenziell rückläufig ist. »Selbst, wenn es gelingen würde, den Anteil der Studienanfängerinnen und -anfänger, die ein Lehramt anstreben, schon 2022 deutlich zu erhöhen, würde sich dies erst am Ende der Zwanzigerjahre in einer Erhöhung des Neuangebots ausgebildeter Lehrkräfte niederschlagen«, schreibt Klemm in seiner Analyse.
Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), der die Studie in Auftrag gegeben hatte, hält die KMK-Berechnungen damit für eine »riesige Mogelpackung«. Die Politik müsse endlich aufhören, sich den tatsächlichen Lehrkräftebedarf schönzurechnen.
KMK: »Alle 16 Länder sind sich der Lage bewusst«
Karin Prien, amtierende KMK-Präsidentin und Bildungsministerin in Schleswig-Holstein, weist auf die umfangreichen Anstrengungen der KMK hin, um die Personalnot an Schulen zu lindern. Der bereits in der Vergangenheit prognostizierte Engpass werde durch die Folgen steigender Geburtenzahlen und Zuwanderung und vieles mehr noch verstärkt. »Solche Ergebnisse von Studien sind für uns also nicht neu, und wir haben die Entwicklung im Blick«, so Prien.
Zudem arbeite man »selbstverständlich kontinuierlich an der methodischen Weiterentwicklung« der Prognosen. Mit Blick auf Klemms Kritik, die KMK beziehe keine Bildungsreformen in ihre Berechnungen mit ein, sagte Prien, aktuell beschlossene oder beabsichtigte bildungspolitische Neuerungen zur Entwicklung der Lehrkräftestellen in den Ländern würden im Wesentlichen durch Berechnungen der Länder im Laufe des Jahres beziehungsweise über eine jährliche Berichterstattung aufgefangen.
Die CDU-Politikerin betonte: »Alle 16 Länder sind sich der Lage bewusst und ergreifen landesspezifische Maßnahmen.«