
Machtmissbrauch in der Wissenschaft Er fragte immer wieder, mit wem ich geredet hatte


Wissenschaftler Baldwin im Max-Planck-Institut in Jena 2006
Foto: Sven Döring / laifZahlreiche Doktoranden und Postdocs hatten mir erzählt, wie der Direktor des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie in Jena, Ian Baldwin, ihnen das Leben zur Hölle gemacht habe. Wie er sie beschimpft habe, zur Arbeit angetrieben, manipuliert. Manche schilderten, die Arbeit mit Baldwin habe sie krank gemacht.
Ich hatte zahlreiche E-Mails und andere Dokumente gesichtet, mit Kolleginnen und Kollegen Baldwins geredet. Nach allem, was ich hörte, erschien er mir gefühlskalt und narzisstisch.
Bevor ich ihn anrief, war ich aufgeregt. In den vergangenen Jahren war Baldwin vor allem von Journalisten kontaktiert worden, weil sie über seine Erfolge in der Wissenschaft berichten wollten; über seinen mutmaßlichen Machtmissbrauch hatten die Medien noch nicht berichtet. Wie würde er reagieren?
Ich hatte ihm vorher bewusst nicht mitgeteilt, worüber ich mit ihm reden wollte, doch als wir über Skype verbunden waren, sagte ich klar heraus, welche Vorwürfe manche seiner Doktoranden und Postdocs ihm machten.
Baldwin war überrascht. Immer wieder fragte er mich, mit wem ich geredet hatte. Er ermahnte mich, die Fakten besser zu prüfen: Er sei das Opfer, er fühle sich verleumdet. Ich musste aufpassen, welche Details ich nannte – denn ich musste meine Quellen schützen. Fast alle wollten aus Angst vor Konsequenzen anonym bleiben. Baldwin ist immer noch ein einflussreicher Wissenschaftler.
Bedürfnisse der Kolleginnen und Kollegen aus dem Blick verloren
Ich betonte: »Ich kenne nur die eine Seite, möchte aber gern erfahren, wie Sie die Dinge sehen.« Wir redeten eine Stunde miteinander und Baldwin verstand, dass dies eine Gelegenheit war, sich zu erklären. Er erzählte, er sei davon angetrieben, wissenschaftliche Exzellenz zu erreichen, und die Menschen um sich herum auch dazu zu ermutigen. Ehemalige Weggefährten bestätigten mir, wie sehr Baldwin sich der Wissenschaft verschrieben hatte und dabei offenbar die Gefühle und Bedürfnisse seiner Kolleginnen und Kollegen, die nicht allein für die Forschung lebten, aus dem Blick verloren hatte.
Baldwin und ich tauschten nach dem Gespräch noch ein paar E-Mails aus, in denen er sich rechtfertigte, aber auch für sein Fehlverhalten entschuldigte. Unser Telefonat half mir, Baldwins Handeln besser zu verstehen und auch, wie es zu den Vorwürfen kam. Das schlug sich in meinem Text nieder. Baldwin meldete sich nach dem Erscheinen des Artikels nie wieder. Manche meiner Quellen warfen mir vor, zu viel Verständnis für ihn gezeigt zu haben.
Vielleicht habe ich das sogar. Ich bin trotzdem froh, mir seine Darstellung ausführlich angehört zu haben. Es ist nicht nur journalistischer Standard, es hilft, ein komplettes Bild zu bekommen. Ich hoffe, dass die Berichterstattung gezeigt hat, was Vorgesetzte durch ihr Verhalten bei Mitarbeitenden anrichten können.