Umfrage zur Schulpolitik
Lehrer fühlen sich mit Inklusion alleingelassen
Kaum Fortschritte trotz klarer Rechtslage: Die Inklusion von Kindern und Jugendlichen in der Schule stagniert. Lehrkräfte strafen die Landesregierungen in einer Umfrage deshalb mit der Note 4 minus ab.
Gerade mal 16 Prozent der Schulen sind komplett barrierefrei: Inklusive Gemeinschaftsschule in Stuttgart (Archivbild)
Foto: Inga Kjer/ picture alliance / dpa
Zu wenig Fachkräfte, zu wenig Zeit, zu wenig Vorbereitung – und dazu noch massiv verschärfte Probleme durch die Coronakrise: Die Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf tritt auf der Stelle. Zu diesem Ergebnis kommt eine am Montag veröffentlichte Umfrage des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) unter Lehrkräften an allgemeinbildenden Schulen.
Im März 2009 hatte Deutschland die Uno-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, die Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf einen Rechtsanspruch auf Unterricht in einer Regelschule einräumt. Eine Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer von 56 Prozent findet der Umfrage zufolge diesen Rechtsanspruch grundsätzlich richtig – aber nur 27 Prozent der Lehrkräfte glauben, dass er bei den derzeitigen Bedingungen in den Schulen auch praktisch sinnvoll umgesetzt werden kann. 69 Prozent dagegen sagen: Zurzeit ist ein gemeinsamer Unterricht von allen Kindern mit oder ohne Behinderung nicht sinnvoll.
Schlechte Noten für die Ministerien
Die Inklusionspolitik der Landesregierungen erhielt bei der Umfrage lediglich die Note 4,5 – in der Schule wäre damit die Versetzung ernsthaft gefährdet. Zwar werde der Inklusion in bildungspolitischen Sonntagsreden eine hohe Bedeutung eingeräumt, sagt VBE-Vorsitzender Udo Beckmann. In der Praxis fehlten jedoch die notwendigen Ressourcen: "Deshalb können die Schulen ihren Inklusionsauftrag unter den gegebenen Rahmenbedingungen nach wie vor nicht erfüllen."
Die wichtigsten Ergebnisse:
29 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer berichten, dass die Klassengröße von inklusiven Klassen im Vergleich zu anderen Lerngruppen an ihrer Schule verringert wurde; bei 65 Prozent gab es keine Veränderung. In 4 Prozent der Schulen dagegen wurden die Inklusionsklassen sogar noch vergrößert.
Nur 16 Prozent der Schulen in Deutschland sind komplett barrierefrei. Und es gibt weitere bauliche Mängel: "Kleingruppen- und Differenzierungsräume gibt es nicht einmal an der Hälfte der Schulen", stellen die Autorinnen und Autoren der Studie fest.
Gefragt wurde auch nach zusätzlichem Personal an den Schulen: Sozialpädagogische Fachkräfte im Kollegium (neben dem sonderpädagogischen Personal) hatten demnach 78 Prozent der Befragten. 21 Prozent berichteten von Erzieherinnen und Erziehern an ihrer Schule. In 18 Prozent der Schulen sind Schulpsychologinnen oder -psychologen vertreten, in 6 Prozent der Schulen gibt es eine medizinische Assistenz. In 8 Prozent aller Schulen gibt es keinerlei zusätzliches Fachpersonal.
Lediglich 12 Prozent der Lehrkräfte berichten, dass es an ihrer Schule Unterstützung bei Belastungen durch den inklusiven Unterricht gibt. Dieser Wert hat sich in den vergangenen fünf Jahren immerhin fast verdoppelt.
Mit dem Fortbildungsangebot in Sachen Inklusion in ihrem Bundesland ist nur jede vierte Lehrkraft zufrieden, 44 Prozent bewerten die Angebote dagegen als "mangelhaft" oder "ungenügend".
Die Umfrage
Auftraggeber der Studie ist der Verband Bildung und Erziehung (VBE), eine der großen Lehrergewerkschaften in Deutschland. Mit der Datenerhebung und der Auswertung wurde das Meinungsforschungsinstitut forsa beauftragt.
Für die Umfrage wurden bundesweit 2127 Lehrerinnen und Lehrer an allgemeinbildenden Schulen befragt. 745 von ihnen unterrichten derzeit selbst in inklusiven Klassen. Die Daten wurden im September und Oktober 2020 in Telefoninterviews erhoben.
Die Ergebnisse sind nach Angaben von forsa repräsentativ für Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland. Die Fehlertoleranz der Stichprobe liegt bei +/- 3 Prozentpunkten.
VBE-Chef Beckmann findet die Zahlen enttäuschend. Er wundere sich nicht, "wenn sich vor diesem Hintergrund eine deutliche Mehrheit der Befragten (83 Prozent) für den mehrheitlichen Erhalt der Förderschulen ausspricht", so der Gewerkschafter. Dies sei, elfeinhalb Jahre nach Inkrafttreten des Rechtsanspruchs auf inklusiven Unterricht, "ein fatales Zeugnis".
Kinder mit Förderbedarf "nahezu vergessen"
Die Umfrage wurde vom VBE bereits zum dritten Mal nach 2015 und 2017 in Auftrag gegeben. Klare Verbesserungen gibt es dabei nur in wenigen Bereichen. "So unterschiedlich die sonderpädagogischen Förderbedarfe sind, so unterschiedlich muss die Förderung sein", sagt Udo Beckmann, "doch dafür bleibt kaum Zeit". In jeder Inklusionsklasse sei eine Doppelbesetzung aus Lehrkraft und Sonderpädagogin oder -pädagoge als Standard notwendig. Eine Forderung, die von 97 Prozent der Befragten unterstützt wird.
In der Praxis sieht das jedoch anders aus: Zwar gibt es an vier von fünf Schulen mit inklusiven Lerngruppen auch zusätzliche Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen im Kollegium – "eine deutliche Steigerung seit 2015", stellt der VBE fest. Doch diese Fachkräfte sind an fast einem Viertel der Schulen nur zeitweilig an einzelnen Schultagen verfügbar.
In der Umfrage ging es auch um die Auswirkungen von Corona auf den inklusiven Unterricht. Demnach gaben 70 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer an, dass während der Schulschließungen die Kinder und Jugendlichen nicht ausreichend gefördert werden konnten. Und als die Schulen wieder geöffnet wurden, bemängeln 63 Prozent, seien die Förderschüler von den Ministerien "nahezu vergessen" worden. In den meisten Fällen habe es dadurch Rückschritte bei der Inklusion gegeben.