OECD-Bildungsdirektor "Wir müssen die Schulen so lange wie möglich offen halten"

Leere Klassenzimmer: Fachleute warnen vor erneuten Schulschließungen (Symbolbild)
Foto:Fabian Sommer/ picture alliance/dpa
Niemand will, dass es so kommt, aber die Möglichkeit liegt in der Luft: Werden in Deutschland angesichts steigender Infektionszahlen erneut in größerem Umfang Schulen geschlossen?
Vereinzelt ist das längst der Fall. Aktuell ist im Corona-Hotspot Berchtesgaden in Bayern wieder Homeschooling angesagt. Der Landkreis hat Schulen und Kitas zugemacht - und damit bei vielen Schülern, Eltern und Lehrern auch außerhalb der Region böse Erinnerungen geweckt: an die bundesweiten Schulschließungen im Frühjahr, an deren Folgen viele bis heute knapsen.
Ein erneuter, flächendeckender Lockdown müsse möglichst vermieden werden, mahnten OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher und weitere Wissenschaftler an diesem Freitag. In einer Onlinedebatte mit dem Titel "Kinder brauchen Schule" schlugen sie sich in dem seit Wochen währenden Streit über Corona-Regeln und Infektionsschutz an Schulen auf die Seite der Kultusminister.
Weiteren Präsenzunterricht haben die Politiker bereits zur "obersten Priorität" erklärt. "Ob das in der Umsetzung immer so klappt, sei dahingestellt", sagte Schleicher, "aber ja, wir müssen die Schulen so lange wie möglich offen halten".
"Wer weniger gebildet ist, kann weniger produktiv sein."
Nötig seien dafür geeignete Hygienekonzepte, aber die gebe es. Wenn Kinder nicht in die Schule gingen, sondern in weniger geregelten Zusammenhängen Menschen träfen, sei die Infektionsgefahr unter Umständen sogar größer. Man habe in den vergangenen Wochen zudem gelernt, dass auch Kinder und Jugendliche sehr wohl Abstand halten und unter Umständen Masken tragen könnten.
Der Bildungsexperte rechnete vor, welche sozialen und wirtschaftlichen Folgen die bisherigen Schulschließungen und der wochenlange Unterricht im Schichtbetrieb nach sich ziehen könnten: "Wer weniger gebildet ist, kann weniger produktiv sein." Das werde sich auf die Volkswirtschaften der OECD-Länder, aber auch die Verdienstmöglichkeiten Einzelner auswirken.
"Die Lernverluste kann man wahrscheinlich mit drei Prozent verlorenem Lebenseinkommen gleichsetzen, und zwar im Durchschnitt", sagte Schleicher. Zu etwas anderen Ergebnissen kommt Nicola Fuchs-Schündeln, Professorin für Makroökonomie und Entwicklung an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Studien aus den USA zeigen demnach, dass es bei Unterrichtsausfall zu einem Prozent Einkommensverlust kommen kann.
"Wenig gelernt"
Einig sind sich die Experten: Die sozial schwächsten Kinder am unteren Ende des Leistungsspektrums würden überproportional getroffen, und zwar vor allem diejenigen, die weder zu Hause noch in der Schule Hilfe hätten. Im Zuge der Coronakrise hatten diverse Studien belegt, dass der Unterricht auf Distanz die in Deutschland ohnehin ausgeprägte Chancenungleichheit verstärkte. Das lässt sich Schleicher zufolge kaum kompensieren: "Es ist schwierig, Lernverluste wettzumachen."
Auch Soziologin Jutta Allmendinger mahnte, bei einigen Kindern sei der Fernsehkonsum deutlich gestiegen, sie bewegten sich ohne Schulweg und Schulsport weniger, motorische Fähigkeiten entwickelten sich langsam zurück, sagte die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.
Weil das Schulessen wegfällt, "muss sich manches Kind selbst eine Pizza in den Ofen schieben". Die gesunde Ernährung leide - und ohne Mitschüler und Lehrkräfte auch das soziale Lernen. Noch gravierender: Kinder seien häufiger von häuslicher Gewalt bedroht. Allmendinger verwies zudem auf die "immense Belastung" erwerbstätiger Eltern, insbesondere von Müttern und Alleinerziehenden.
Man müsse über "all diese großen Dimensionen reden, die das Thema umfasst", sagte die Soziologin und zeigte sich wenig optimistisch, was das künftige Krisenmanagement mit Blick auf Kinder, Jugendlichen und Frauen in der Pandemie betrifft: "Was mich am meisten umtreibt", sagte sie, "dass wir aus den vergangenen sieben bis acht Monaten so wenig gelernt haben".
"Kinder sind nicht der Motor der Pandemie"
Den anhaltenden Sorgen, Schulen könnten in der Coronakrise zu Virenschleudern werden, hielt Johannes Hübner, Professor für pädiatrische Infektiologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, entgegen: "Ich sage nicht, dass Schulen sichere Bereiche sind, aber die gibt es insgesamt nicht. Kinder sind mehreren Studien zufolge jedenfalls nicht der wesentliche Motor der Pandemie, aber sie haben von Anfang an am meisten gelitten" - etwa durch die Schulschließungen.
Für den Fall, dass es nun erneut zu Distanz- oder Hybridunterricht kommen sollte, sind viele Schulen nach Ansicht von Fachleuten nicht ausreichend auf digitales Lernen vorbereitet. "Deutschland hat enormen Nachholbedarf", sagte Schleicher. Dabei biete der hybride Unterricht große Chancen, auch ohne Corona. "Lernen ist nicht an einen Ort gebunden, sondern eine Aktivität."
So oder so, aus Sicht der Experten dürfen dieses Mal - anders als im Frühjahr - Schulschließungen nur das letzte Mittel zur Eindämmung von Infektionszahlen sein. Zunächst müssen nach Hübners Ansicht die Erwachsenen Opfer für die kommende Generation bringen - nicht umgekehrt. "Es darf nicht sein, dass zum Beispiel Kinos oder Restaurants offen bleiben - und Schulen geschlossen werden", forderte der Arzt.
Ob das klappt? Im Fall von Berchtesgaden wunderten sich schon viele Eltern darüber, dass zwar Kitas und Schulen geschlossen sind, Kirchen aber beispielsweise geöffnet bleiben und weiterhin Gottesdienste stattfinden.