Lernen nach Corona "Die wollen alle zurück in die Schule"

Damit der Mindestabstand gewahrt bleibt: Klebestreifen auf dem Boden zur Markierung der Tischpositionen in einer Gütersloher Schule (Archivbild)
Foto: Fabian Strauch/ dpaWenn Heidrun Elbracht in ihrer Schule unterwegs ist und auf dem Treppenabsatz eine halbe Linkskehre macht, dann geht sie einen großen, ausladenden Bogen. Die Schulleiterin der Janusz Korczak-Gesamtschule in Gütersloh ist gewissermaßen auf der Außenbahn unterwegs, hält sich ganz weit rechts, fast an der Wand - obwohl ihr niemand entgegenkommt. "Wir haben überall ein Rechts-Geh-Gebot", sagt die 55-Jährige.
Jeder Schulflur, jede Treppe, jeder Türdurchgang ist deshalb halbiert. Mit schwarz-gelben Klebestreifen auf dem Boden, der alle Verkehrswege in der Janusz Korczak-Gesamtschule in zwei Hälften teilt. Das Ziel: Die Schülerinnen und Schüler sollen sich möglichst wenig begegnen. Und Heidrun Elbracht hält sich an diese Vorgaben, auch wenn an diesem Nachmittag gar keine Schüler im Gebäude sind - die kommen erst am nächsten Morgen, zum ersten Mal nach drei Wochen Corona-Schließung, nach zwei Wochen Osterferien und noch einmal drei Tagen verlängerter Pandemie-Schließzeit.
"Die wollen wiederkommen. Die wollen wirklich alle zurück in die Schule", sagt Heidrun Elbracht. Weil Schule nicht nur Stoffvermittlung und Lernen sei, sondern auch Lebens- und Begegnungsraum, Alltag - und auch Geborgenheit. Etwa 1300 Kinder und Jugendliche besuchen hier die Gesamtschule, rund 120 Lehrerinnen und Lehrer unterrichten sie, dazu Sozialpädagogen, Hausmeister, weitere Fachkräfte. "Uns fehlen die Schüler auch", sagt Heidrun Elbracht.
Sie selbst gibt unter anderem einen Englisch-Leistungskurs in der Oberstufe. Wie das Unterrichten nach Corona werden wird? Elbracht denkt nach, zuckt kurz mit den Schultern. "Ich weiß es nicht." Sie sei eigentlich immer in Bewegung, wenn sie vor der Klasse stehe - aber das geht ja jetzt nicht mehr, wegen der 1,50 Meter Mindestabstand, die jederzeit eingehalten werden müssen: "Ich werde mich an den Lehrertisch setzen, um mich selbst zu disziplinieren", sagt sie schließlich. Die Vorstellung ist für sie sichtlich ungewohnt.
Damit der Unterricht überhaupt wieder starten kann, mussten sich Elbracht und ihre vier Kollegen aus der Schulleitung, aber auch der Rest des Kollegiums ziemlich abstrampeln. Die Klebestreifen auf den Fluren gehören dazu, natürlich auch die gelben A4-Zettel mit der Aufschrift "!!!! Bitte Abstand halten!", die überall im Gebäude aufgehängt wurden. Dazu Hinweisschilder zur Handhygiene, Desinfektionsstationen auf den Fluren, Absperrbänder vor allen Sitzgelegenheiten im Gebäude.
Improvisation ist alles
In den Klassenzimmern zeigen Klebemarkierungen auf dem Boden, wo genau die Tische stehen müssen, damit der Mindestabstand jederzeit eingehalten wird. 14 Schüler und eine Lehrkraft pro Raum, das ist die Obergrenze. Im Sekretariat stehen Plexiglasschutzwände, die sonst bei Versuchen im Chemieunterricht zum Einsatz kommen, auf der Theke. Damit sie nicht verrutschen, liegen dicke Pakete Kopierpapier daneben. "Wir improvisieren - und irgendwie kriegen wir das auch alles hin", sagt Heidrun Elbracht.
Zum Glück ist das Schulgebäude modern, in jedem Klassenraum gibt es ein Waschbecken. Die Seife kam erst einen Tag vor der Wiedereröffnung, das Desinfektionsmittel gar nicht. Also kaufte die Schulleiterin selbst welches, 32 Liter in Glasflaschen, "mal sehen, wie weit wir damit kommen". Haushalts-Sprühflaschen aus dem Baumarkt wurden privat besorgt und zu Desinfektionsspendern umgebaut, der Schulhof mit Flatterband in vier Zonen aufgeteilt, damit die Schülerinnen und Schüler zu unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedlichen Flächen ihre Pausen verbringen können.
Zum Glück haben Eltern und Schüler über 400 selbst genähte Schutzmasken in Aussicht gestellt. Die ersten 50 sind schon da, die müssen auch noch verteilt werden - für die Zeiten, wenn die Schüler und Lehrer nicht in den Klassen sind. "Der Organisationsaufwand ist enorm", sagt Heidrun Elbracht. Dazu gehörte auch die Absprache der neuen, versetzten Unterrichtszeiten mit den Busunternehmen und die Trennung der Fahrradparkplätze für die unterschiedlichen Lerngruppen.
Eine Frage der Räume
Dabei betrifft dieser Aufwand nur einen Bruchteil der 1300 Kinder und Jugendlichen der Janusz Korczak-Gesamtschule - nämlich nur 165 Schüler aus der zehnten Klasse, die vor dem Mittleren Schulabschluss stehen, und noch einmal 91 Abiturienten, die freiwillig am Unterricht teilnehmen können, bevor ab dem 12. Mai die Prüfungsklausuren geschrieben werden. Die anderen, mehr als 1100 Schülerinnen und Schüler, bleiben erst einmal zu Hause. Ob und wie sie nach dem 4. Mai wiederkommen, ist eine der vielen Unklarheiten, mit denen die Schulleitung arbeiten muss.
"Weil die Lerngruppen kleiner sind und wir auf räumlichen Abstand achten müssen, brauchen wir für diese 265 Schüler einen großen Teil der Räume", sagt Heidrun Elbracht. Und natürlich braucht sie auch, wegen der verbesserten Betreuungsrelation, mehr Kolleginnen und Kollegen für den Unterricht in den Klassen. "Ein Drittel gehört zur Risikogruppe, die kann ich im Präsenzunterricht erst einmal nicht einsetzen", schätzt die Schulleiterin. Dass alle fünf Mitglieder des Schulleitungsteams selbst Angehörige von Risikogruppen sind und deshalb eigentlich in der Schule nicht mehr eingesetzt werden sollten, macht die Lage nicht leichter. Und deshalb seien die Organisations- und Unterrichtskapazitäten mit zwei von neun Schülerjahrgängen auch fast komplett ausgeschöpft: "Es wäre illusorisch zu glauben, dass wir unter den aktuellen Bedingungen alle unsere Schüler unterrichten können."
Gerne würde Elbracht mal den Ministerpräsidenten oder die Schulministerin hier in Gütersloh begrüßen, um ihnen zu zeigen, was für die Schulöffnung unter strikten Infektionsschutzmaßgaben alles beachtet werden muss: "Ich habe den Eindruck, dass da viele Entscheidungen getroffen werden, ohne die Situation vor Ort zu kennen", sagt Elbracht. Sie finde es "wenig hilfreich", wenn Mails mit dringenden Handlungsanweisungen für die Schulleitungen am Samstagabend verschickt werden oder die Ministerin so tue, als hätten die Lehrerinnen und Lehrer die Zeit in den vergangenen fünf Wochen ausschließlich zur Vorbereitung der Wiedereröffnung nutzen können.
Zehn-Stunden-Tage als Normalfall
"Wir kriegen das hin", sagt Heidrun Elbracht, aber viel mehr Luft für weitere Aktivitäten in Richtung Schulöffnung gebe es jetzt nicht mehr. Was vielleicht auch daran liegt, dass die besondere Situation der Gesamtschulen bei den Entscheidungen der Landesregierung offenkundig nicht im Vordergrund stand: Während Gymnasien, Real- und Hauptschulen am Donnerstag nur jeweils einen Abschlussjahrgang in der Schule begrüßten, waren es bei den Gesamtschulen mit angegliederter Oberstufe zwei komplette Jahrgänge. "Wenn wir die alle bis Ende Juni erfolgreich durch die Prüfungen bringen, dann können wir wirklich stolz sein", sagt Elbracht.
Dann muss sie zurück an die Arbeit, ein paar Tischabstände müssen noch nachgemessen werden, im Foyer stapeln sich Kartons mit Papierhandtüchern, die zwischenzeitlich geliefert wurden. Zehn-Stunden-Tage seien derzeit der Normalfall, weil der digitale Unterricht für die Schüler zu Hause ja auch noch organisiert werden müsse, sagt die Schulleiterin. Warum sie trotzdem noch gut gelaunt ist? "Weil dieser Beruf, dieses Kollegium, diese Schule so toll sind."
Und: Weil am nächsten Morgen der Unterricht endlich wieder anfängt - in kleinen Schritten zwar, aber immerhin.