

Ukrainische Schülerinnen in Deutschland Ein Doppelleben als Neuntklässlerin
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
»Ich habe eine Mission im Leben: Mein Kind zu beschützen«, sagt Nataliia Vasylieva. Die 44-jährige Ukrainerin sitzt mir in einem Berliner Café gegenüber. Ich kriege Gänsehaut, aber ihre 14-jährige Tochter Mariia ist in Sicherheit, auf dem Barhocker gleich neben ihrer Mutter, isst einen Schoko-Mango-Kuchen und trinkt einen Fruchtsaft. »Bevor der Krieg nicht vorbei ist, gehen wir nicht zurück«, sagt Vasylieva.
Am 24. Februar jährt sich der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Seit dem 10. März, so erzählt es Nataliia Vasylieva, lebe sie mit ihrer Tochter jetzt in einer kleinen, aber gemütlichen Einzimmerwohnung in Berlin-Neukölln, die sie damals über Host4Ukraine gefunden habe. »Ursprünglich dachten wir, wir bleiben zwei Wochen«, sagt Vasylieva, dann seien daraus Monate geworden, nun ist es fast ein Jahr.

Nataliia Vasylieva und ihre Tochter Mariia in Berlin
Foto: Swantje Unterberg / DER SPIEGELWährend die beiden in Berlin ankamen, tagte in Lübeck die Kultusministerkonferenz und erklärte, »geflüchtete Schülerinnen und Schüler unbürokratisch an den Schulen willkommen zu heißen und eine Beschulung sicherzustellen«. 200.000 Kinder und Jugendliche aus dem Kriegsgebiet werden Stand jetzt an deutschen Schulen unterrichtet, doch nicht immer fanden die Betroffenen gleich einen Schulplatz, wie lange Wartelisten etwa aus Nordrhein-Westfalen und Berlin zeigten.
Und nicht immer war diese Beschulung überhaupt erwünscht. Ebenfalls bei der Kultusministerkonferenz vor einem Jahr forderte die Generalkonsulin der Ukraine in Hamburg, Iryna Tybinka, die Kinder weiter nach ukrainischem Lehrplan zu unterrichten. Doch die Schulpflicht gilt auch für geflüchtete Kinder, die meisten werden über sogenannte Willkommensklassen in das deutsche Schulsystem integriert – aber viele nutzen parallel ein ukrainisches Angebot.
Auch Mariia führt seit bald einem Jahr ein schulisches Doppelleben. In Berlin wurde sie im Mai 2022 in die Willkommensklasse einer Sekundarschule in Neukölln eingeschult, vor drei Wochen hat sie den Sprung in die Regelklasse geschafft und ist dort eine ganz normale Neuntklässlerin, wie sie erzählt. »Das ist interessanter als nur Deutsch zu lernen«, sagt sie über ihren neuen Stundenplan. Die Sprache stand ganz am Anfang im Mittelpunkt, dann nahm Mariia zunächst an Fächern wie Sport, Musik und Englisch teil, bis die Sprachkenntnisse schließlich für den Regelunterricht reichten.

Grundschüler aus der Ukraine sitzen in einem Klassenzimmer
Foto:Robert Michael / picture alliance/dpa
Wenn die Schule am Nachmittag ende, pauke sie aber noch eine Stunde für ihre Schule in Kiew, sagt Mariia. Am täglich angebotenen Onlineunterricht könne sie wegen ihrer Termine zwar nachmittags nur einmal in der Woche teilnehmen, aber sie bekomme jeden Tag Hausaufgaben – neben denen aus der Sekundarschule in Berlin. »Aber die sind relativ einfach, dafür brauche ich nicht viel Zeit«, sagt sie und grinst. Mutter und Tochter haben den Eindruck, dass der ukrainische Unterricht anspruchsvoller ist.
»Es ist gut, zwei Optionen zu haben«, sagt Mariia über die Parallelstruktur. Für Freunde und ihr Hobby Tanzen habe sie trotzdem genug Zeit. Welchen Abschluss die 14-Jährige einmal brauchen werde, wissen sie und ihre Mutter heute noch nicht. »Der Krieg hat uns gelehrt, dass es unmöglich ist, Pläne zu machen«, sagt Mutter Vasylieva. So seien sie auf alles gefasst.
Und Sie, liebe Leserinnen und Leser, wie erleben Sie als Schülerin, Lehrer oder Elternteil die Folgen des Krieges im Klassenzimmer? Wir freuen uns auf Ihre Zuschriften unter bildung@spiegel.de
Herzlich, Swantje Unterberg
Für das Bildungsteam des SPIEGEL
Das ist los rund um den Jahrestag
1) Der lange Weg zur Integration
Nicht allen Schülerinnen und Schülern aus der Ukraine gelingt der Anschluss ins deutsche Schulsystem so reibungslos wie Mariia. Die »Süddeutsche Zeitung« hat sich die Situation in München genauer angeschaut .
2) Die Abschaffung der Willkommensklassen
In Sachsen-Anhalt hat das Bildungsministerium knapp ein Jahr nach Kriegsausbruch mitgeteilt, dass die meisten Geflüchteten nun in die Regelklassen aufgenommen werden könnten, die Ankunftsklassen sollen schrittweise aufgelöst werden, wie unter anderem der MDR berichtete . Damit laufen dem Bericht zufolge auch die Verträge von 192 ukrainischen Lehrerinnen und Lehrern in dem Bundesland aus.
3) Ein neues Leben in Hessen
Mein Kollege Andreas Landberg hat einen ukrainischen Schüler besucht, der jetzt mit seiner Mutter in Hessen lebt. Er ist sich bereits sicher: »Ich will mein ganzes Leben in Deutschland bleiben«.
4) Aus dem Krieg in die Schule
Der WDR nimmt zum Jahrestag ebenfalls Jugendliche aus der Ukraine in den Blick, die in Deutschland ein neues Leben beginnen. Die dreiteilige Doku »Welcome, Ukraine – Aus dem Krieg in die Schule« ist bereits jetzt in der ARD-Mediathek abrufbar .
Zahl der Woche
201.157
Die KMK gibt Woche für Woche bekannt, wie viele Kinder und Jugendliche aus der Ukraine in den Schulen hierzulande unterrichtet werden . Das sind 201 mehr als in der Vorwoche.

Lehrerin vor der Klasse (Symbolbild)
Foto: Armin Weigel / picture alliance / dpaUnd sonst so
Der Lehrkräftemangel erregt hierzulande weiter die Gemüter – insbesondere, wenn es um die Verantwortung von Lehrerinnen und Lehrern selbst geht, wie uns die Reaktionen auf die beiden Interviews meiner Kolleg:innen Maik Großekathöfer und Katja Thimm sowie Armin Himmelrath zeigen.
Immerhin hat das Problem nun auch die Bundespolitik erreicht. Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger warnte vorige Woche vor »immer dramatischeren Formen« des Lehrermangels. Der Bund müsse mehr Einfluss auf die Schulpolitik nehmen.
Aktuell kramt jedes Bundesland weiter verschiedene Maßnahmen hervor – auch auf Kosten der Nachbarn: Bayern etwa buhlt mit Sonderzahlungen und aggressiver Werbung um Lehrkräfte aus anderen Bundesländern.
In Niedersachsen versucht eine Grundschule hingegen vergebens, sich an dem Vorbild aus einem anderen Bundesland zu orientieren und die Präsenzzeit im Klassenzimmer zu reduzieren. Während Sachsen-Anhalt bereits mit dem »4 plus 1«-Modell experimentiert, hat das niedersächsische Bildungsministerium der Grundschule eine Einführung einer Viertagewoche untersagt.
Übrigens gehen nicht nur in Deutschland die Lehrkräfte aus. Die »Süddeutsche Zeitung« hat recherchiert, wie die europäischen Nachbarn mit dem Mangel umgehen .
In eigener Sache
Stifte raus, jetzt wird gemalt! Das Kindernachrichtenmagazin »Dein SPIEGEL« und die Drogeriemarkt-Kette Rossmann suchen die besten Plakat-Ideen für den Artenschutz. Teilnehmen können Kinder und Jugendliche in den Altersgruppen 8–11 Jahre und 12–16 Jahre. Einsendeschluss ist der 30. April 2023. Und natürlich sind bei der Aktion »Rettet die Vielfalt« auch digitale Entwürfe und geklebte Collagen willkommen. Hauptsache, es wird ein Blickfänger. Alle Infos zum Wettbewerb und das Teilnahmeformular finden Sie hier .
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