Bundesweite Umfrage Lehrkräfte an Gymnasien »am Limit«

Schulleitungen von Gymnasien fordern dringend mehr Unterstützung bei der Integration geflüchteter Kinder und Jugendlicher aus der Ukraine. Ergebnis einer Umfrage: Die Lehrkräfte können einfach nicht mehr.
»Nicht anderthalb Jahre warten, bis die neuen Schülerzahlen in der Statistik auftauchen«: Willkommensklasse für Jugendliche aus der Ukraine (in Berlin)

»Nicht anderthalb Jahre warten, bis die neuen Schülerzahlen in der Statistik auftauchen«: Willkommensklasse für Jugendliche aus der Ukraine (in Berlin)

Foto: Annette Riedl / picture alliance/dpa

Die Schulleitungen von Gymnasien in Deutschland fordern zusätzliche Unterstützung vor allem durch neue Lehrkräfte. Wegen der vielen neu aufgenommenen ukrainischen Schülerinnen und Schüler müssten die Ressourcen so schnell wie möglich ausgebaut werden, sagte Arndt Niedermöller, Vorsitzender der Bundesdirektorenkonferenz Gymnasien. »Wir können nicht anderthalb Jahre warten, bis die neuen Schülerzahlen in der Statistik auftauchen und wir mehr Lehrkräfte einstellen können.«

Auch Susanne Lin-Klitzing, Vorsitzende des Deutschen Philologenverbands, drängt die Bildungsministerien zu schnellem Handeln. »Die Integrationsleistung der Schulen für die Gesellschaft ist enorm, Lehrkräfte stellen sich ihren Aufgaben mit voller Hingabe – und sind am Limit«, sagte Lin-Klitzing der Deutschen Presse-Agentur.

Beide Verbände hatten gemeinsam die Schulleitungen von mehr als 350 Gymnasien in acht Bundesländern befragt. Die Ergebnisse der Umfrage zeigten, dass viele Schulen angesichts der Lage mit knappen Ressourcen zu kämpfen hätten. So gab zwar die Hälfte der Befragten, die ukrainische Schüler aufgenommen hatten, an, dass auch zusätzliche Kräfte für den Unterricht eingestellt worden seien. Bei der anderen Hälfte war das aber nicht der Fall.

Die Umfrage

Die Studie wurde gemeinsam von der BDK (Bundesdirektorenkonferenz Gymnasien) und dem Deutschen Philologenverband als Interessenvertretung der Lehrkräfte an Gymnasien durchgeführt. Die Zusammenfassung der Auftraggeber finden Sie hier .

An knapp jeder fünften Schule mit ukrainischen Schülern (19 Prozent) haben demnach Lehrkräfte in Teilzeit ihre Stunden aufgestockt. Pensionierte Lehrkräfte kamen an knapp acht Prozent dieser Schulen zur Unterstützung zurück in die Klassenzimmer. Die deutliche Mehrheit (68 Prozent auf dem Land, 63 Prozent in der Stadt) ist der Umfrage zufolge insgesamt aber trotzdem der Ansicht, dass momentan nicht genügend Personal gewonnen werden kann für die Aufgaben.

Hauptproblem: Lehrkräftemangel

Lin-Klitzing sprach von einer »Unterversorgung« und forderte bessere Arbeitsbedingungen. Auch OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher teilt die Einschätzung, dass die Rahmenbedingungen im Lehrerjob verbessert werden müssten. Schleicher verantwortet bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unter anderem die internationalen Pisa-Studien.

»Der Lehrerberuf ist in Deutschland intellektuell zu unattraktiv«, sagte der Bildungsexperte den »Stuttgarter Nachrichten« . »Die Lehrer haben viel zu wenig die Gelegenheit, das zu tun, wofür sie eigentlich in den Beruf gegangen sind: nämlich jungen Menschen zu helfen, ihren Weg zu finden, und sie auf diesem Weg zu begleiten.« Sein Fazit: »Der Lehrermangel in Deutschland ist hausgemacht. Da muss sich viel ändern.«

Derzeit ähnelten deutsche Schulen oft einem Fast-Food-Restaurant, teilte Schleicher gegen die aktuelle Unterrichtspraxis aus. »Die Schülerinnen und Schüler sind häufig nur Konsumenten, die den Lernstoff serviert bekommen. Die Lehrer sind Service-Dienstleister, die das vorgefertigte Essen aufwärmen und herüberreichen sollen. Eltern sind Kunden, die sich gelegentlich beschweren, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Diese Abläufe frustrieren alle.«

»Gelegenheit für die Arbeit im Team«

Stattdessen, so der Bildungsexperte, bräuchten Lehrerinnen und Lehrer Freiräume, um eigene Ideen zu entwickeln und kreative Unterrichtskonzepte zu erproben: »Sie brauchen Gelegenheiten für den Austausch und für die gemeinsame Arbeit im Team.« Mehr Gehalt sei zur Attraktivitätssteigerung des Berufs aber nicht nötig: »Finanziell ist der Beruf hier sehr attraktiv, auch und gerade im internationalen Vergleich.«

Susanne Lin-Klitzing warnte jedoch davor, auf die Engpässe in den Lehrerzimmern mit einer Erhöhung der Klassenstärken zu reagieren. Das sei das Gegenteil von verbesserten Arbeitsbedingungen, sagt die Vorsitzende des Philologenverbands. Außerdem forderte sie »hervorragend nachqualifizierte Seiteneinsteiger neben weiterhin gut und grundständig ausgebildeten Lehrkräften«.

Weitere Ergebnisse der Umfrage unter den Schulleitungen:

  • 40 Prozent der Schulleitungen gaben an, Schüler auch aufzunehmen, wenn dadurch die übliche Klassengröße überschritten wird. 60 Prozent tun das nicht.

  • Die Mehrheit der Schulen (58 Prozent) hat die Aufnahme ohne zusätzliche Vorbereitungsklassen bewerkstelligt, also ohne Klassen, in denen die Aufgenommenen erst einmal Deutsch lernen.

  • Nur 37 Prozent der Gymnasien kommen zu der Einschätzung, dass die ukrainischen Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrer Fähigkeiten der passenden Schulart zugewiesen wurden.

Laut aktuellen Zahlen der Kultusministerkonferenz (KMK)  waren an den Schulen in Deutschland vor Weihnachten 202.343 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine angemeldet. Nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf das Nachbarland war die Zahl im Frühjahr schnell gestiegen. Zum Beginn dieses Schuljahrs stiegen die Zahlen aufgrund neuer Anmeldungen erneut deutlich.

Die Bundesländer melden die Daten wöchentlich an die KMK. Die meisten ukrainischen Schüler sind bisher in Nordrhein-Westfalen (38.151), Bayern (29.405) und Baden-Württemberg (28.549) untergekommen. Insgesamt gibt es in Deutschland etwa elf Millionen Schülerinnen und Schüler.

him/dpa
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