Langzeitstudie zum Zustand der Hochschulen »Tempo zu langsam, Fortschritt nicht ausreichend«

Zehn Jahre lang haben der Stifterverband und McKinsey die deutschen Hochschulen beobachtet. Ihre Bilanz ist ernüchternd – und wird gedeckt durch eine provokante Stellungnahme des Wissenschaftsrats zur Zukunft der Lehre.
Weniger Prüfungen, öfter mal unbenotet – das fordert der Wissenschaftsrat von den Hochschulen

Weniger Prüfungen, öfter mal unbenotet – das fordert der Wissenschaftsrat von den Hochschulen

Foto: Andreas Lander/ picture-alliance/ dpa

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Digital und halbwegs attraktiv für Gaststudierende aus dem Ausland – aber auch sozial ungerecht, mit rückläufigen Zahlen in den Mint-Studienfächern und viel zu langsam beim Umbau für die Bildung der Zukunft: So bewerten Fachleute des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft und der Unternehmensberatung McKinsey den Zustand der deutschen Hochschulen.

Zehn Jahre lang hatten sie in jährlichen Berichten  überprüft, wie gut sich Unis und Hochschulen für angewandte Wissenschaften – die früheren Fachhochschulen – auf aktuelle Herausforderungen einstellen. Von der Ausstattung mit digitalen Geräten bis zur Ausbildung neuer Lehrkräfte, von der Förderung für Frauen und Mädchen bis zur Qualität der akademischen Weiterbildungsangebote reichten die 70 Indizes, die Jahr für Jahr untersucht wurden.

Der Hochschul-Bildungs-Report

Der Hochschul-Bildungs-Report erscheint seit 2013 jährlich. Fachleute aus den Mitgliedsunternehmen des Stifterverbands und aus Wissenschaftsorganisationen hatten Ziele für die Hochschulen für das Jahr 2020 formuliert. Zehn Jahre lang wurde bewertet, wie gut Unis und Hochschulen für angewandte Wissenschaften sich diesen Zielen genähert haben.

Die Ergebnisse der Langzeitbeobachtung zeigen: Die Hochschulen verändern sich zwar, aber sie agieren teilweise sehr schwerfällig. »Die in der letzten Dekade erreichten Verbesserungen zeigen, dass wir uns in die richtige Richtung bewegen«, heißt es in dem noch unveröffentlichten Report, der dem SPIEGEL vorliegt. Es sei aber klar, »dass das Tempo zu langsam, der Fortschritt nicht ausreichend genug ist«.

Schwerer Stand für Mint-Fächer

Als positive Entwicklungen stellt der Bericht heraus:

  • Die Hochschulen sind seit 2013 deutlich internationaler geworden. So stieg die Zahl der Studienanfängerinnen und -anfänger mit ausländischem Hochschulzugang 2019 auf eine Rekordhöhe von bundesweit 111.000, sackte danach allerdings durch die Coronapandemie wieder ab. Auch die hohe Zahl englischsprachiger Studiengänge an deutschen Hochschulen wird im Bericht gelobt.

  • Von 2010 bis 2020 hat sich die Zahl der Absolventinnen und Absolventen von Weiterbildungsstudiengängen auf zuletzt rund 12.000 mehr als verdoppelt. Das sei ein guter Trend – doch der sei noch nicht stark genug, heißt es im Report. »Weiterbildungsstudierende haben an Hochschulen in Deutschland nach wie vor einen Exotenstatus«, bedauert Volker Meyer-Guckel, Generalsekretär des Stifterverbands.

  • Auch beim digitalen Umbau der Hochschulen habe es »viele Verbesserungen« gegeben, stellt Solveigh Hieronimus, Seniorpartnerin bei McKinsey, fest. Gleichzeitig mahnt sie zu größeren Anstrengungen: Die Entwicklung sollte »Ansporn für die weitere Digitalisierung, mehr Kooperationen und Investitionen an den Hochschulen sein – und das mit höherem Tempo.«

Länger ist die Liste der negativen Entwicklungen:

  • Die rückläufige Zahl der Studierenden in Mint-Fächern – Mathematik, Informatik, Natur- und Technikwissenschaften – bewerten die Autorinnen und Autoren des Reports als »alarmierend«.

  • Zwar positiv, aus Sicht der Verfasserinnen und Verfasser aber immer noch viel zu langsam entwickelt sich der Anteil der Studierenden im Fernstudium und der Anteil berufsbegleitender Masterstudiengänge.

  • Als problematisch bewertet der Bericht auch, dass es nicht in allen Bundesländern ein Angebot für duale Studiengänge gibt, bei denen Berufspraxis und wissenschaftliches Studium verbunden werden. Rund 30.000 Erstsemester hatten im Jahr 2020 ein duales Studium aufgenommen – insgesamt nur ein Bruchteil der rund 490.000 Anfängerinnen und Anfänger im Studienjahr 2020/21.

  • Besonders kritisch fällt die Bilanz der Lehrkräfteausbildung aus. So sank der aktuelle Anteil der Mint-Studienanfänger im Lehramt mit 26 Prozent sogar drei Prozentpunkte unter den Ausgangswert von 2010, ebenso wie der Anteil der Frauen in Informatik im Lehramt. Seltenheitsstatus haben auch Männer im Grundschullehramt: Ihr Anteil stagniert bei knapp 17 Prozent.

  • Und auch bei der Chancengerechtigkeit gibt es immer noch großen Nachholbedarf. »Über den Bildungserfolg entscheidet nach wie vor die soziale Herkunft«, heißt es in dem Report. Gemessen an ihrer absoluten Zahl seien Kinder aus Nichtakademikerhaushalten an den Hochschulen noch immer stark unterrepräsentiert: Nur 27 Prozent von ihnen begannen 2020 ein Studium, bei Akademikerkindern waren es 79 Prozent.

»Die nächste Dekade muss ein Jahrzehnt massiver bildungspolitischer Weiterentwicklung werden. Etwas anderes sollte sich ein Land wie Deutschland nicht leisten«, fordern die Autorinnen und Autoren des Berichts deshalb.

Wissenschaftsrat fordert »Qualitätssprung«

Unterstützung für diese Forderungen gibt es – zeitlich ein Zufall – durch den Wissenschaftsrat. Der hat in seiner Sitzung am Freitag »Empfehlungen für eine zukunftsfähige Ausgestaltung von Studium und Lehre« verabschiedet. Nach SPIEGEL-Informationen sollte das Papier bereits vor einigen Monaten fertiggestellt werden, die Einigung auf konsensfähige Formulierungen, die auch von den Bundesländern mitgetragen werden, dauerte jedoch.

Tatsächlich hat es auch die am Freitag verabschiedete Fassung in sich. Als zentrale Forderung formuliert der Wissenschaftsrat nachdrücklich den Ruf nach einem »Qualitätssprung« in den Hochschulen. »Hochwertige Angebote für wenige und weniger gute Angebote für viele sind aus gesellschaftlicher wie volkswirtschaftlicher Sicht ebenso zu vermeiden wie der Abbau von Studienplätzen«, heißt es in dem Papier. Um das zu erreichen, sei eine Verschiebung der Prioritäten von mehr Quantität zu mehr Qualität erforderlich.

Die Forderungen des Wissenschaftsrats dürften dabei für manche Hochschuldozenten wie eine Zumutung klingen: Es sei wichtig, »insbesondere Studierenden ein hohes Maß an Mündigkeit und Verantwortungsbewusstsein zuzutrauen«, heißt es in der Empfehlung.

Konkret will der Wissenschaftsrat:

  • die Anzahl von Lehrveranstaltungen und Prüfungen reduzieren und dadurch mehr Freiräume für Reflexion, die Ausbildung einer forschenden Haltung und vielfältige Studienverläufe schaffen.

  • Die Dominanz der Klausuren brechen: Die Vielfalt der Prüfungsformen soll größer werden, außerdem wünscht sich der Wissenschaftsrat ein ausgewogenes Verhältnis zwischen benoteten und unbenoteten Prüfungen. Auch sollten die Prüfungen besser an die Bedürfnisse der Studierenden angepasst werden. Dazu sei eine entsprechende Qualifikation der Lehrenden erforderlich.

  • Studierenden »höhere Freiheitsgrade und Handlungsspielräume« einräumen. Für deren sinnvolle Nutzung seien Orientierungs- und Unterstützungsangebote notwendig. Entscheidungsmöglichkeiten in Form von Wahlbereichen und Schwerpunktsetzungen sollte es demnach in allen Studienphasen geben.

  • Regelmäßige Studiengespräche zwischen Lehrenden und Studierenden zum Standard machen. Diese Gespräche könnten einzeln oder in Kleingruppen stattfinden und sollen »eine neue Form des akademischen Mentorats« begründen. Auch insgesamt spricht sich der Wissenschaftsrat für eine bessere Betreuung – und ein besseres Betreuungsverhältnis – aus.

  • Die Lehrverpflichtung für Professorinnen und Professoren neu berechnen. Berücksichtigt werden sollen in Zukunft unter anderem der Aufwand für die Vor- und Nachbereitung von Lehrveranstaltungen, das Engagement der Dozierenden in der Betreuung von Studierenden und eine besonders gute Qualität von Seminaren und Vorlesungen.

Bei Studierenden stoßen die Reformvorschläge grundsätzlich auf Zustimmung. »Wenn die Empfehlungen des Wissenschaftsrats umgesetzt werden, erleben Studierende endlich tatsächliche Einheit von Forschung und Lehre«, sagte Lone Grotheer vom Freien Zusammenschluss von Student*innenschaften« dem SPIEGEL. Insbesondere das geplante Mentorat könne individuelle Bildungschancen verbessern, »da es durch dieses Format für Studierende ohne akademischen Hintergrund einfacher wäre, sich im Studium und der akademischen Gemeinschaft zu bewegen«.

Klar ist: Die vom Wissenschaftsrat vorgeschlagenen Reformen kosten Geld. Es sei klar, dass nicht alle Hochschulen und alle Bundesländer finanziell so gut aufgestellt seien, dass sie diese neuen Rahmenbedingungen für Studium und Lehre sofort umsetzen könnten, heißt es in den Empfehlungen. Trotzdem gebe es keinerlei ernsthafte Zweifel mehr daran, dass solche Reformen notwendig seien.

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