Dieser Beitrag wurde am 29.06.2016 auf bento.de veröffentlicht.
Das Pfund hat massiv an Wert verloren, Börsenkurse fallen, der Premierminister hat seinen Rücktritt angekündigt: Seitdem fest steht, dass eine knappe Mehrheit der Briten die EU verlassen möchte, erlebt Großbritannien turbulente Tage. Nach dem ersten Schock am Wochenende scheint nun langsam klar zu werden, was auf das Land zukommt. Das sind die sechs größten Probleme:
1. Die Briten sind gespalten – und das Vereinigte Königreich droht zu zerfallen
- Mehr als vier Millionen Unterzeichner hat eine Petition, die eine zweite Abstimmung fordert, Zehntausende davon dürften allerdings von Social Bots manipuliert worden sein (SPIEGEL ONLINE). Tausende Briten gingen gegen den Brexit auf die Straße. Aber ob das unterlegene Remain-Lager ein paar Tage nach der Abstimmung plötzlich eine Mehrheit hat, ist völlig unklar.
- Schottland und Nordirland sind not amused. Fast zwei Drittel der Schotten hatten für den Verbleib Großbritanniens gestimmt, ähnlich sieht es in Nordirland aus. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon ist sogar zum EU-Gipfel nach Brüssel gereist. Sie hofft auf direkte Gespräche mit der EU. Die blockt bisher aber ab, weil sie grundsätzlich nur mit Mitgliedstaaten verhandelt. Noch hat Großbritannien den Austritt nicht offiziell angemeldet.
Die Hoffnung geben viele Europa-Freunde trotz des Referendums nicht auf. Tatsächlich bleiben ihnen eine Reihe von Möglichkeiten.
2. Fremd aussehende Menschen werden beschimpft
Viele Briten haben seit dem Referendum fremdenfeindliche Beschimpfungen bemerkt oder sind selbst rassistisch beleidigt worden. Offenbar glauben einige Briten, dass Einwanderer nach dem Referendum das Land verlassen sollten. Andere Briten machen auf Facebook und Twitter unter #PostRefRacism darauf aufmerksam (hier mehr bei bento).
3. Die EU will hart bleiben
Es wird keine Verhandlungen geben, bevor Großbritannien den Austritt beantragt. Das stellte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung klar. Sie forderte Großbritannien auf, den Austritt so schnell wie möglich zu beantragen. EU-Chef Jean-Claude Juncker und EU-Parlamentschef Martin Schulz sind der gleichen Meinung.

Die EU durchkreuzt damit die Strategie der Brexit-Befürworter. David Cameron und wohl auch Boris Johnson wollten zunächst informelle Verhandlungen mit der EU führen und den Austritt offiziell erst beantragen, wenn die neue Beziehung zur EU geklärt ist. Darauf will sich die EU nicht einlassen, sie hat Vorverhandlungen verboten.
Im Kern geht es um eine wichtige Frage: Die Briten wollen den Zugang zum europäischen Binnenmarkt behalten, sonst würde Großbritannien wohl in eine tiefe Rezession rutschen. Das wissen auch die Mitgliedstaaten der EU, sie haben nun eine starke Verhandlungsposition: Zugang zum europäischen Binnenmarkt gibt es nur, wenn die Briten den freien Verkehr von Personen sowie von Waren, Dienstleistungen und Kapital gewähren.
Die Brexit-Befürworter hatten im Wahlkampf allerdings genau das Gegenteil versprochen. Sie wollen die Zahl der Einwanderer nach Großbritannien verringern. Wenn aber alle EU-Bürger weiterhin in Großbritannien leben und arbeiten dürften, wäre das nicht möglich.
4. Die britischen Parteien zerlegen sich selbst
- Die Abgeordneten der sozialdemokratischen Labour-Partei wollen ihren Chef, Jeremy Corbyn, stürzen. Sie glauben, dass er nicht leidenschaftlich genug für den Verbleib in der EU geworben hat. Der Parteichef verlor innerhalb weniger Tage mehr als die Hälfte der Mitglieder seines Schattenkabinetts. Am Dienstag verlor Corbyn dann eine Misstrauensabstimmung.
- Die konservativen Torys stecken in einer noch tieferen Krise. Premierminister David Cameron ist zurückgetreten, ein Nachfolger wird bis zum 2. September gesucht. Schon seit Monaten ist die Partei gespalten, einige Mitglieder waren für den Brexit, andere dagegen.
5. Die Brexit-Befürworter machen: nichts
Das wichtigste Ereignis seit dem Referendum ist eines, das nicht stattgefunden hat: Boris Johnson und Michael Gove, zwei der prominentesten Befürworter des Brexits, halten sich auch in dieser Woche auffällig zurück. Johnson ist ehemaliger Bürgermeister von London und gilt nun als Favorit auf die Nachfolge von David Cameron. Öffentlich in Erscheinung getreten ist er in letzter Zeit aber nur mit einer Kolumne in einer britischen Zeitung.
Vielen Briten wird offenbar jetzt erst klar, dass es keinen konkreten Plan für den Brexit gibt.
6. Die Ratingagenturen stufen Großbritannien herab
Die großen US-Ratingagenturen haben Großbritannien wegen des Brexit-Votums abgestraft. Durch das schlechtere Rating muss Großbritannien am Kapitalmarkt höhere Zinsen zahlen und kommt unter Umständen schlechter an frisches Geld.
- Standard & Poor's stufte die Briten von "AAA" um zwei Stufen nach unten auf "AA" herab
- Fitch nahm die Bonitätseinstufung von "AA+" auf "AA" zurück.
Bei beiden Agenturen ist der Ausblick negativ. Besonders die britische Finanzbranche könnte der Brexit hart treffen. Auch die Möglichkeit einer schottischen Unabhängigkeit beunruhigt die Märkte.