Britische Gefangenschaft Das posthume Geständnis der Nazi-Generäle

Im Offizierslager "Trent Park" haben die Briten von 1942 bis 1945 gefangene Nazi-Generäle abgehört. Die Protokolle belegen, wie Hitler-treue Offiziere an der Legende von der sauberen Wehrmacht strickten. Vom Holocaust wussten fast alle - dagegen aufbegehren mochte keiner.
Von Hans Michael Kloth

Hamburg - Anfang des 15. Jahrhunderts waren die Wälder um das Herrenhaus Trent Park bei Enfield liebstes Jagdrevier Heinrichs IV. von England, dem Shakespeare eines seiner blutrünstigen Königsdramen widmete. Gut 500 Jahre später wird auf dem weitläufigen Anwesen nördlich von London nicht mehr Hirschen mit der Armbrust nachgestellt, sondern blutrünstigen Nazis mittels Abhörwanzen: Im Zweiten Weltkrieg halten die Briten in Trent Park gefangengenommene NS-Generäle fest - und belauschen sie systematisch.

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Abgehört: Die gefangenen Offiziere von Trent Park

Foto: Ullstein


Die britischen Militärs hoffen, durch das Abhören von Hitlers hohen Chargen Nutzbringendes für ihre Operationen zu erfahren, doch diese Erwartung erfüllte sich nicht recht. Statt über Strategie, Taktik und Ausrüstung der Wehrmacht diskutierten die deutschen Topoffiziere lieber über Sinn und Zweck des Krieges oder das Für und Wider einer Zusammenarbeit mit den Briten, das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 und die Verbrechen der Nazis. Die Mitschnitte landeten schließlich in der Ablage des britischen Geheimdienstes.

Für Historiker allerdings sind die jetzt freigegebenen Protokolle eine wahre Fundgrube; eine spannende Lektüre ist die Auswahl, die der Mainzer Geschichtswissenschaftler Sönke Neitzel jetzt veröffentlicht hat, zudem. Denn in der langweiligen "splendid isolation" des ländlichen Britanniens verdrängen die alten Kameraden bald, dass der Feind vermutlich mithört, und plaudern munter über mehr Dinge, als ihnen vor der Geschichte lieb sein kann. So liegt nun gewissermaßen das mündliche Geständnis zu den Fakten vor, die die lange umstrittene Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" schon vor Jahren einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat - die Legende von der angeblich weißen Weste der Wehrmacht und ihrer Generalität wird durch diese Dokumente wohl endgültig beerdigt.

"Anstehen auf den Tod"

Denn mitnichten wüteten entfesselte SS- und Gestapo-Schergen im Rücken einer ritterlich kämpfenden und ahnungslos missbrauchten Truppe; Hitlers Generäle wussten, was geschah, und gingen nicht selten arbeitsteilig mit den anderen Formationen vor. Auch aus eigenem Antrieb machten sich Soldaten der Wehrmacht die Hände schmutzig - bei der Ermordung von Juden, Gefangenenerschießungen und anderen Kriegsverbrechen.

Detailliert berichten sich die Generäle gegenseitig grausige Geschehnisse des Vernichtungsfeldzugs im Osten, die sie als mitunter mehrfache Augenzeugen miterlebt haben. "Alle 100 bis 200 Meter" seien "ein bis drei" russische Gefangene beim Abmarsch zusammengebrochen und von Posten auf Fahrrädern an Ort und Stelle erschossen worden, erzählt etwa Generalleutnant Fritz von Broich, Ex-Kommandeur der 10. Panzerdivision.

Generalmajor Walter Bruns berichtet von einem Massaker an Juden bei Riga: "Die Gruben waren 24 Meter lang und ungefähr drei Meter breit. (Die Menschen) mussten sich hinlegen wie die Sardinen in einer Büchse, Köpfe nach der Mitte. Oben sechs Maschinenpistolenschützen, die dann den Genickschuss beibrachten. Wie ich kam, war sie schon voll, da mussten also die Lebenden sich drauflegen, und dann kriegten sie den Schuss." Die Schlange der Wartenden sei "zehn, zwölf Kilometer" lang gewesen: "Es war ein Anstehen auf den Tod."

"Die Judensache war ganz richtig"

Auch Auschwitz ist vielen der gefangenen Kommandeure ein Begriff: "In Oberschlesien haben sie Leute einfach fabrikmäßig abgeschlachtet", weiß Generalleutnant Heinrich Kittel. "In einer großen Halle sind die vergast worden." Auch die Dimension des Holocaust können die Offiziere durchaus richtig einschätzen: Von "drei Millionen" ermordeten Juden spricht schon 1943 der Luftwaffen-General Georg Neuffer, sein Kollege Generalmajor Gerhard Bassenge nennt im Dezember des gleichen Jahres die Zahl von fünf Millionen Opfern.

Dass er gegen solche Verbrechen protestiert oder gar angegangen wäre, erwähnt beim vertrauten Plausch im verwanzten Aufenthaltsraum keiner der Offiziere. General Heinrich Kittel erzählt seinen Lagerkameraden zwar, er habe einmal eine Erschießungsaktion des "Sicherheitsdienstes" (SD) gestoppt - allerdings durchaus nicht aus verletztem Rechtsempfinden. "Wenn ihr die Leute im Wald erschießt oder irgendwo, wo es niemand sieht, das ist eure Sache", habe er dem Verantwortlichen bedeutet; er wolle nicht, dass Leichenwasser seinen Tiefbrunnen verschmutze.

Andere machen gar aus ihrem mörderischen Antisemitismus selbst in alliierter Gefangenschaft keinerlei Hehl. "Die Judensache war schon ganz richtig", meldet sich etwa ein Oberst zu Wort, "Nur stille hätte man es machen müssen." Und ein General äußert noch Ende Januar 1945, die Weltgeschichte werde "dem Führer recht geben, dass er diese große, jüdische Gefahr für alle Völker erkannt" habe.

Lädierte Legende des "Retters von Paris"

In den Trent-Park-Protokollen wird zudem deutlich, dass die zählebige Mär von der "sauberen" Wehrmacht von Hitlers militärischer Elite von Anfang an bewusst und wider besseres Wissen propagiert wurde. So verkündet General der Kavallerie Edwin Graf von Rothkirch, er werde versuchen, alles "immer so zu drehen, dass das Offizierskorps reingewaschen wird. Rücksichtslos! Rücksichtslos!".

Und auch eine andere, manchem liebgewordene Legende wird durch die Dokumente schwer lädiert. Im August 1944 hatte Dietrich von Choltitz, Kommandierender General von Groß-Paris, Hitlers Order missachtet, die Seine-Metropole entweder zu halten oder in ein "Trümmerfeld" zu verwandeln, und die Stadt stattdessen den anrückenden Alliierten übergeben - als "Retter von Paris", der aus humanistischer Überzeugung das geistige und kulturelle Zentrum Europas vor der Zerstörung bewahrt habe, galt er fortan vielen, selbst in Frankreich.

Doch der Humanist war nach eigenem Eingeständnis auch ein Kriegsverbrecher. "Der schwerste Auftrag, den ich durchgeführt habe, ... ist die Liquidation der Juden", gestand Choltitz gegenüber seinen Kameraden in Trent Park, "ich habe diesen Auftrag allerdings auch bis zur letzten Konsequenz durchgeführt." Selbst Historikern war dies bisher nicht bekannt; Herausgeber Neitzel vermutet, dass die Morde in Choltitz' Zeit als Regimentskommandeur auf der Krim 1941/42 fallen. Sohn Timo, der auf einer Webseite das Andenken an die Pariser Heldentat des Vaters pflegt, glaubt dagegen an eine Fälschung - auch nachdem er inzwischen im Londoner Nationalarchiv die Original-Abhörprotokolle in Augenschein genommen hat.

Rare Reue

Nur eine relativ kleine Gruppe zeigt Reue. "Wir haben uns ja versündigt ... gegen alle sittlichen Gesetze auf der ganzen Welt", erschrickt Generalmajor Johannes Bruhns, ein einstmals überzeugter Nationalsozialist, "da kann man doch nur sagen, ein solches Volk darf zum Segen der Menschheit nicht den Krieg gewinnen." Auch zu praktischen Konsequenzen aus dieser Einsicht sind einige der hochrangigen Gefangenen bereit - der Zusammenarbeit mit dem bisherigen Gegner.

Generalmajor Gerhard Bassenge etwa versucht, den deutschen Kommandanten der abgeschnittenen Kanalinseln zum Aufgeben zu bewegen, allerdings erfolglos. Für den britischen Premierminister Winston Churchill entwirft Bassenge in einem Memorandum das Konzept eines "Nationalkomitee West", gedacht als Antwort auf das von deutschen Offizieren in sowjetischer Gefangenschaft gegründete "Nationalkomitee Freies Deutschland" - daran allerdings haben die Briten kein Interesse.

Die Unterschiede zwischen der "Anti-Nazi-Clique", wie sie die britischen Bewacher nennen, und den Kommissköpfen bleiben unüberwindlich. "Falls in Trent Park ein deutsches Flugzeug landen würde, um mich abzuholen", erklärt General Friedrich Freiherr von Broich Ende 1944 einem Mitgefangenen, "würde ich dem Kerl sagen: Sehen Sie, dass Sie fortkommen, sonst hole ich die Wache." - "Ich flöge sofort wieder zurück und kämpfte noch fanatischer", ist die Antwort.

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