Bundesverfassungsgericht zu Corona-Maßnahmen Warum die Grundsatzentscheidungen kein Freifahrtschein sind

Leeres Klassenzimmer in Germering bei München
Foto: Frank Hoermann / SVEN SIMON / picture allianceDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Bis Ende November, so hatte es Verfassungsgerichtspräsident Stephan Harbarth schon vor Monaten angekündigt, wolle man über die sogenannte Bundesnotbremse entscheiden, das bisher einschneidendste Maßnahmenpaket in der Coronapandemie. Nun, am letzten Tag der selbst gesetzten Frist, veröffentlichte das Gericht zwei grundlegende Senatsbeschlüsse: zu den Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen sowie den Schulschließungen .
Das waren aus Sicht des Gerichts offenbar die wichtigsten Punkte. Die Bundesnotbremse, eine Reaktion des Bundes auf das zögerliche Vorgehen der Länder in der dritten Welle der Pandemie, war am 23. April in Kraft getreten und bereits Ende Juni wieder ausgelaufen. Lange hatte es so ausgesehen, als würde sich das so nicht wiederholen; auch der Paragraf 28b des Infektionsschutzgesetzes, in dem die Bundesnotbremse geregelt war, wurde inzwischen schon wieder geändert .
Richtersprüche für die Zukunft
Also zwei Beschlüsse nur für Vergangenes? Mitnichten. Die vierte Welle grassiert, die Angst vor der Omikron-Variante kommt hinzu, längst werden wieder scharfe Maßnahmen diskutiert. Und deshalb besagen die Richtersprüche auch Wichtiges für die Zukunft.
Sie sind einstimmig ergangen und klar ausgefallen: Diese Maßnahmen waren im Frühjahr verfassungskonform. Beide Beschlüsse lassen wenig Zweifel daran, dass dies für Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen bei vergleichbaren Gefahrenlagen wieder gälte; leicht eingeschränkt gilt das auch für die Schulschließungen.
Erstmals mit ausführlicher Begründung
Viele setzen in der Pandemie ihre Hoffnung auf die Richter in Karlsruhe: Mehr als 450 Verfahren, Verfassungsbeschwerden oder auch isolierte Eilanträge sind allein gegen die Bundesnotbremse beim Bundesverfassungsgericht gelandet. Davon haben die Karlsruher Richterinnen und Richter insgesamt 21 isolierte Eilanträge sowie 180 Verfassungsbeschwerden entschieden.
Erstmals fällte der Erste Senat nun Entscheidungen in der Hauptsache, das heißt, mit einer ausführlichen, inhaltlichen Begründung, anhand von neun ausgewählten Verfassungsbeschwerden. Darunter waren Anträge seitens der FDP, der Freien Wähler und der »Gesellschaft für Freiheitsrechte« sowie von Kindern und deren Eltern. Weitere Hauptsacheverfahren, die sich etwa gegen die Beschränkungen von Freizeit- und Kultureinrichtungen, des Einzelhandels und der Gastronomie richten, sind indes noch anhängig.
»Aus unabweisbaren Zwecken«
Die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen waren an eine aus heutiger Sicht sehr niedrig erscheinende Sieben-Tage-Inzidenz von 100 gekoppelt: Sie galten, wenn diese in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinanderfolgenden Tagen überschritten wurde. Private Treffen waren dann nur noch für Personen aus zwei verschiedenen Haushalten gestattet – außer bei Todesfällen. Und bereits der Aufenthalt außerhalb einer Wohnung von 22 Uhr bis 5 Uhr des Folgetages war untersagt.
Allerdings gab es dafür zahlreiche Ausnahmen, etwa zur Berufsausübung, in Notfällen oder zum Joggen sowie »aus ähnlich gewichtigen und unabweisbaren Zwecken«; zudem erließ die Bundesregierung bereits am 8. Mai 2021 eine Verordnung, die geimpfte und genesene Personen von den Kontakt- und Aufenthaltsbeschränkungen ausnahm.
Spielraum für den Gesetzgeber
Diese Maßnahmen griffen zwar »in erheblicher Weise in verschiedene Grundrechte ein«, so das Bundesverfassungsgericht. Doch in der »äußersten Gefahrenlage der Pandemie« waren die Kontakt- und selbst die noch gravierenderen Ausgangsbeschränkungen mit dem Grundgesetz vereinbar, entschied nun der Erste Senat unter Vorsitz Harbarths. Dem Gesetzgeber stehe hier »ein Spielraum zu, der sich auf die Einschätzung und Bewertung der tatsächlichen Verhältnisse, auf die etwa erforderliche Prognose und auf die Wahl der Mittel bezieht«.
Das Gericht billigt dem Gesetzgeber insgesamt einen recht großen Spielraum zu. So waren auch die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen aus Sicht der Verfassungsrichterinnen und –richter »in der konkreten Situation« verhältnismäßig – vor allem weil sie nicht ausnahmslos gegolten hätten. Die Ausgangsbeschränkungen, so die Begründung, sollten die allgemeinen Kontaktbeschränkungen und sonstigen Schutzmaßnahmen unterstützen und »insbesondere die Einhaltung der Kontaktbeschränkungen in geschlossenen Räumen sichern«.
Der Gesetzgeber habe davon ausgehen dürfen, dass Schutzmaßnahmen wie Abstandhalten oder das Tragen von Masken »zur Abend- und Nachtzeit und im privaten Rückzugsbereich nur eingeschränkt durchsetzbar« seien, heißt es in dem Beschluss aus der Feder von Verfassungsrichter Henning Radtke. Dass die – vergleichsweise einfach zu kontrollierenden – Ausgangsbeschränkungen also vornehmlich dazu dienten, solche Zusammenkünfte zu reduzieren, sei damit »angesichts der bestehenden Erkenntnislage verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden« gewesen.
Recht auf schulische Bildung anerkannt
Auch die Schulschließungen billigte der Erste Senat – machte aber zwei wichtige Einschränkungen, die für die Zukunft noch bedeutsam werden könnten. Ab einer Inzidenz von 100 durfte der Präsenzunterricht an allgemein- und berufsbildenden Schulen nur als Wechselunterricht stattfinden, ab einer Inzidenz von 165 war er vollständig untersagt; die Länder konnten Abschlussklassen und Förderschulen von dem Verbot ausnehmen und auch eine Notbetreuung einrichten.
Unklar war dabei, ob sich die Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf ein Recht auf schulische Bildung berufen könnten. Dies hat das Verfassungsgericht in dem zweiten Grundsatzbeschluss, vorformuliert von Richter Josef Christ, nun erstmals anerkannt: Der Staat sei Kindern und Jugendlichen gegenüber verfassungsrechtlich verpflichtet, heißt es in einem vorangestellten Leitsatz, »ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit auch in der Gemeinschaft durch schulische Bildung zu unterstützen und zu fördern«.
In dieses Recht griffen die Schulschließungen zwar »in schwerwiegender Weise ein«, doch diesem Eingriff standen »infolge des dynamischen Infektionsgeschehens« Ende April 2021 »überragende Gemeinwohlbelange« gegenüber.
Warnungen der Richterinnen und Richter
Allerdings warnen die Richterinnen und Richter: Wenn der Staat zuvor in den Schulen »Vorkehrungen unterlassen« hätte, mit denen sich deren Schließungen hätten verringern oder gar vermeiden lassen, dann könne »das Interesse der Betroffenen, von derart vermeidbaren Grundrechtsbeeinträchtigungen verschont zu werden, bei der Abwägung mit gegenläufigen Gemeinwohlbelangen zusätzliches Gewicht erlangen« – sprich: eine Schulschließung im Ergebnis unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig sein.
Ausdrücklich erwähnt das Gericht verbesserte Lüftungsverhältnisse in den Klassenzimmern, die Nutzung größerer Räume zur Einhaltung von Abständen, eine verstärkte Digitalisierung des Schulbetriebs oder eventuell auch den Einsatz von mobilen Luftreinigern. Sollten erneut Beschränkungen des Schulbetriebs erwogen werden, mahnen die Richterinnen und Richter, »wäre deren Zumutbarkeit jedenfalls auch daran zu messen, ob naheliegende Vorkehrungen wie insbesondere eine weitere Digitalisierung des Schulbetriebs ergriffen wurden«.
Zudem betont der Beschluss, dass es damals nur für einen geringen Teil der Bevölkerung Impfangebote gegeben habe. Das heißt umgekehrt: Schulschließungen wären bei einer fortgeschrittenen Impfquote grundsätzlich nicht mehr so leicht zu rechtfertigen. Dies gelte »in noch stärkerem Maße« für die Schließung von Grundschulen. Denn Grundschülerinnen und Grundschüler seien »besonders schwer betroffen, weil bei ihnen eine erfolgreiche Vermittlung von Bildung von der Möglichkeit direkter Interaktion mit den Lehrern abhängt und Lernrückstände den weiteren Bildungserfolg nachhaltig beeinträchtigen können«.
Abendessen mit der Kanzlerin
Gleich mehrfach beziehen sich beide Beschlüsse auf die Schwierigkeit der politischen Entscheidung unter Unsicherheiten. Das war schon Thema beim inzwischen berüchtigten Abendessen der gesamten Verfassungsrichterschaft am 30. Juni mit der Kanzlerin . Der Berliner Rechtsanwalt Niko Härting hatte deswegen zunächst gegen Präsident Harbarth und eine Richterin, die an dem Abend zu dem Thema einen Vortrag gehalten hatte, Befangenheitsanträge gestellt; nachdem diese zurückgewiesen worden waren, lehnte Härting auch den Rest des Senats als befangen ab.
Auch diesen Antrag verwarf der Erste Senat nun . Dieses zweite Gesuch sei »zur Begründung der Besorgnis der Befangenheit gänzlich ungeeignet« und damit »offensichtlich unzulässig«. Dennoch bleibt der Eindruck, dass sich die Richterinnen und Richter durch diesen Abendtermin in unnötiger Weise angreifbar gemacht haben. Und die Notwendigkeit, über die Befangenheitsanträge zumindest intern beraten zu müssen, bevor die Verfahren fortgesetzt werden können, hat die Beschlüsse offenbar um mehrere Wochen verzögert.
Wertvolle Zeit, wenn die Politik auf ein Signal aus Karlsruhe wartet und nicht nur mit tatsächlichen, sondern auch rechtlichen Unsicherheiten klarkommen muss.
In der Sache gaben die Richterinnen und Richter auch in diesem Punkt der Politik eine Mahnung mit auf den Weg: »Je länger eine unter Nutzung von Prognosespielräumen geschaffene Regelung in Kraft ist«, obwohl »der Gesetzgeber fundiertere Erkenntnisse hätte erlangen können, umso weniger kann er sich auf seine ursprünglichen, unsicheren Prognosen stützen«.
Sprich: Der Gesetzgeber muss sich so kundig wie irgend möglich machen. Sonst muss er nicht nur von Unsicherheit belastet entscheiden, sondern darf auch schwere, eigentlich notwendige Grundrechtseingriffe womöglich nicht mehr vornehmen. Beides wäre am Ende fatal.