
Chemieunglück in Ungarn: "Etwas Ähnliches gab es noch nie"
Chemieunfall in Ungarn "Der Schlamm hat ihn bis auf die Knochen verbrannt"
Hamburg - Das rote Gift bedeckt Straßen, Wiesen und Felder. Brücken und Häuser sind weggerissen oder stark beschädigt. Mindestens vier Menschen sind tot. Gestorben beim größten Chemie-Unfall in der Geschichte Ungarns. Eine Giftschlammlawine hat sich im Westen Ungarns über mehrere Orte gewälzt - in einer Aluminiumfabrik war ein Becken mit Rotschlamm geborsten. Mindestens eine Million Kubikmeter des Abfallprodukts, das voller Blei und anderer Schwermetalle steckt, ergoss sich über ein Gebiet von geschätzt 40 Quadratkilometern.
"Als ich das Donnern der Fluten hörte, hatte ich nur noch Zeit, aus dem Fenster zu springen und auf höher gelegenes Gelände zu rennen", sagt Tünde Erdelyi aus Devecser. Ein Verwandter habe mit einem Rettungshubschrauber nach Budapest gebracht werden müssen. Der ätzende Schlamm habe ihn "bis auf die Knochen verbrannt". In Erdelyis Haus stand die rote Giftbrühe am Dienstagmorgen noch immer 1,50 Meter hoch. Rettungskräfte mussten die Tür zum Wohnzimmer mit einer Axt einschlagen, um die Flüssigkeit auslaufen zu lassen. Auf den Straßen des Ortes gab es noch eine rund zehn Zentimeter dicke Schlammdecke, berichtete ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP. Fast ein Drittel der Gebäude sei beschädigt.
Nicht alle Anwohner konnten sich rechtzeitig in Sicherheit bringen. Mindestens vier Menschen kamen ums Leben, 61 Verletzte mussten sich laut Innenministerium im Krankenhaus behandeln lassen, sechs Personen werden vermisst. Insgesamt seien 7000 Menschen betroffen. Unter den Toten sei auch ein dreijähriges Kind, sagte Karoly Tily, Bürgermeister des Dorfes Kolontár.
Eine "ökologische Katastrophe" konstatiert die Regierung. "Das Erdreich in der Region ist komplett durchsetzt und rot", sagte Robert Damasi vom Umweltministerium zu SPIEGEL ONLINE. Seit Montag versuchen sich Mitarbeiter einen Überblick über das "riesengroße Unglück" zu verschaffen, aber sicher ist Damasi zufolge schon jetzt: "Etwas Vergleichbares hat es in Ungarn noch nicht gegeben." Näheres würden aber erst Untersuchungsergebnisse zeigen. "Wir hoffen, dass wir in ein paar Tagen Genaueres sagen können."
"Eine Katastrophe für die Wasserversorgung"
In drei Bezirken wurde am Dienstag der Notstand ausgerufen, während das giftige Gebräu weiter aus der Fabrik lief. Die Bewohner der Orte Devecser, Kolontár und Somlóvásárhely seien in Gefahr, aber auch Flora und Fauna, sagte Umweltstaatssekretär Zoltán Illés. Der Fluss Raba sei bedroht, der in die Donau fließt. Der stellvertretende Leiter der westungarischen Wasserbehörde, Sándor Tóth, sagte, der Giftschlamm könne den Strom in vier bis fünf Tagen erreichen. "Aus Sicht der Wasserversorgung ist eine Katastrophe passiert, da der Bach Torna, in den der Schlamm gelaufen ist, in das Flüsschen Marcal fließt, das in die Raab fließt - die ein Nebenfluss der Donau ist."
"Wir haben tonnenweise Gips in den Marcal geschüttet und hoffen damit den giftigen Fluss zu stoppen", sagte eine Sprecherin des nationalen Katastrophenschutzes. Die Gefährlichkeit der Substanz nehme mit jedem Kilometer ab. Man wolle so gravierenden Umweltschäden vorbeugen. Innenminister Sándor Pintér sagte, bisher sei das Trinkwasser nicht betroffen. Es bestünden "gute Chancen", dass die Giftwelle nicht die Donau erreiche.
Greenpeace warnt vor Folgen für die Natur. Der Bauxitschlamm sei eine Gefahr für das Trinkwasser und die Vegetation. "Der Rotschlamm lagert sich ab und verwüstet so landschaftliche Flächen", sagte Zsolt Szegfalvi, Leiter der Umweltschutzorganisation Greenpeace in Ungarn. Der Wind könne getrocknete Schlammpartikel dann bis zu 15 Kilometer weit wehen. "Wir werden deshalb sofort ein Team nach Kolontár und nach Devecser schicken, wo derzeit am meisten Probleme auftreten." Mit Proben wolle man das Ausmaß der Katastrophe ermitteln und dokumentieren.
Augenreizungen und chemische Verbrennungen
Der Unfall hatte sich am Montag um 12.10 Uhr in der Aluminiumfabrik in Ajka ereignet, rund 165 Kilometer westlich von Budapest. Aus noch unbekannter Ursache brach der Damm eines Beckens, zäher roter Schlamm lief aus, vermengte sich mit dem Hochwasser, das die Region seit Tagen heimsucht, und lief durch mehrere Dörfer - bis zu anderthalb Meter dick.
Hunderte Menschen haben ihre Häuser verloren oder verlassen müssen. Autos wurden meterweit weggespült. Einigen gelang die Rettung erst in letzter Minute. Viele Menschen litten an Augenreizungen und chemischen Verbrennungen. Diese sind oft nicht sofort, sondern manchmal erst nach Tagen zu erkennen, und könnten zu Schäden des tiefer sitzenden Hautgewebes führen, sagte Arzt Péter Jakabos, der im Krankenhaus von Györ Betroffene behandelte. Wer in Berührung mit dem roten Schlamm komme, solle die Haut sofort mit viel frischem Wasser abspülen und die Kleidung wechseln, empfahl das Innenministerium.
Dem Ministerium zufolge ist die Lage inzwischen "unter Kontrolle". Das Militär schickte 140 Einsatzkräfte. 350 Polizisten, mehr als hundert Feuerwehrmänner, die Bürgerwehr und der Katastrophenschutz rückten an. Vier Helikopter waren im Einsatz, um Verletzte in Kliniken zu fliegen. Bewohner wurden in der Nacht weggebracht und die Straßen gereinigt. Rettungskräfte in speziellen Schutzanzügen spritzen die Straßen ab, um den roten Schlamm wegzuspülen.
Aluminiumwerk spricht von "nicht vorsehbarer Naturkatastrophe"
Eine Mitarbeiterin der Betreibergesellschaft MAL teilte SPIEGEL ONLINE mit, die Geschäftsführung sei am Unglücksort. Das Unternehmen, das früher zu einem staatlichen Aluminiumkombinat gehörte und nach der Wende privatisiert wurde, spricht von einer "nicht vorhersehbaren Naturkatastrophe". Der Damm eines der Becken sei gebrochen. Dabei sei Rotschlamm aus der Herstellung von Tonerde ausgetreten. Das Gemisch sei nach einer EU-Verordnung hergestellt worden.
Die Behörden müssen jetzt aufklären, ob diese Darstellung richtig ist. War das Becken nach rechtlichen Standards ausreichend gesichert? Wurde mit der Substanz ordnungsgemäß verfahren? Ministeriumsmitarbeiter Damasi zufolge wird derzeit überprüft, ob es sich tatsächlich um einen Unfall handelt oder die Betreiberfirma doch Schuld trifft. Es werde in alle Richtungen ermittelt.
Ministerpräsident Viktor Orbán hält es für möglich, dass menschliches Versagen das Unglück auslöste. Bisher gebe es keine Anzeichen für eine natürliche Ursache, sagte er am späten Nachmittag in einer Pressekonferenz. Eine Gefahr von radioaktiver Verseuchung gebe es nicht.
Kritik an den Behörden
Staatssekretär Illés sagte der deutschsprachigen Online-Zeitung "Pester Llyod", das Unternehmen habe sämtliche Kosten der Schadensbeseitigung zu begleichen. Dazu gehörten die Einsatzkosten der Rettungskräfte, die Versorgung der Verletzten, die Reinigung und Reparaturen in den überfluteten Orten, die Abtragung der vergifteten Erde auf bis zu zehn Kilometern, die Reinigung der Gewässer und alle Kosten für Renaturierung und Aufforstung. Das werde Monate dauern und Zigmillionen Euro kosten.
Laut "Pester Lloyd" wird auch Kritik an den Behörden laut. Diese hätten den Unfall zunächst nicht ernst genug genommen. Das staatliche Katastrophenamt habe spät die Koordinierung von Rettungsmaßnahmen übernommen.
Das Unglück lenkt das Augenmerk auf die immer noch schwierige Umweltsituation in Mittel- und Osteuropa. Im Januar 2000 war im nordwestrumänischen Baia Mare unweit der ungarischen Grenze ein Reservoir mit zyanidhaltigem Klärschlamm aus einem Goldbergwerk geborsten. Die Giftwelle löste im ungarischen und serbischen Abschnitt der Theiß massives Fischsterben aus.