Sophie Garbe

Corona-Impfpflicht Diesen Kommentar würde ich heute anders schreiben

Mitte November forderte ich eine allgemeine Impfpflicht und ärgerte mich über den Egoismus der Ungeimpften. Ein Leser reagierte darauf – und mein Gefühl verflog.
Impfaktion für wohnungs- und obdachlose Menschen in Hannover im April

Impfaktion für wohnungs- und obdachlose Menschen in Hannover im April

Foto: Severine Bunzel / dpa

Es waren nicht die Hassnachrichten, die mich überraschten. Wenn man eine Corona-Impfpflicht für alle fordert, muss man sich auf solche Reaktionen einstellen. Mit einer Mail wie der von Herrn Bruhns, der in Wahrheit anders heißt, hatte ich hingegen nicht gerechnet.

Herr Bruhns schrieb gleich im ersten Satz, er sei kein Querdenker. Überhaupt habe er mir nichts vorzuwerfen, er kenne mich ja gar nicht. Aber er wolle doch mal darauf hinweisen, dass es auch noch Menschen wie ihn gebe. Herr Bruhns sagt, er habe psychische Probleme und sei Alkoholiker. Und da dauere es eben manchmal länger, bis man sich um eine Impfung kümmern könne.

Ein Abschnitt aus dieser Mail blieb mir besonders im Gedächtnis. Herr Bruhns schrieb: »Jeder, der jetzt noch wissentlich und willentlich eine Impfung verweigert, ist ein Narr. Aber wie viele können vielleicht nur noch zwischen Wohnung und Netto pendeln, wie viele sind des Lebens müde und wie viele schlafen unter der Brücke und tun sich mit einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung schwer, weil sie eh schon nicht mehr dazu gehören?«

In dem Kommentar hatte ich auch meinem Ärger über die mangelnde Solidarität der Ungeimpften Luft gemacht. Nach Herrn Bruhns' Schreiben verpuffte diese Wut. Seine Worte riefen mir ins Bewusstsein, dass eine Impfkampagne, die Menschen wie ihn übersieht, auch nicht besonders solidarisch ist. Und dass die Hürden auf dem Weg zu einer Impfung nicht für alle in unserer Gesellschaft gleich hoch sind.

Mit diesem Gedanken im Hinterkopf würde ich heute wohl einen anderen Kommentar schreiben.

Herr Bruhns hat es übrigens, so schrieb er mir, trotzdem geschafft: Nach einem für ihn strapaziösen Tag sei er nun doppelt geimpft.

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