Betreuung behinderter Kinder Attest für den Spielplatz

Eltern von Kindern mit Behinderungen fühlen sich in der Corona-Pandemie alleingelassen. Sie fordern unbürokratische Hilfe - denn das Prinzip der Notbetreuung greift bei ihnen oft zu kurz.
Stephanie Loos' Sohn hat ein ärztliches Attest, dass er weiter auf den Spielplatz muss - auch wenn der wegen Corona gesperrt ist

Stephanie Loos' Sohn hat ein ärztliches Attest, dass er weiter auf den Spielplatz muss - auch wenn der wegen Corona gesperrt ist

Foto: F.Kubach

Der Hilferuf von Stephanie Loos ist ausgesprochen höflich: "Wir würden uns freuen, wenn die Regierung uns und unsere teils schwerbehinderten Kinder mit gänzlich anderen Herausforderungen bitte nicht vergisst", schreibt sie bei der Kontaktaufnahme in einer SMS. Dabei ist die 45-jährige Berlinerin seit der Corona-bedingten Schließung der Schulen am Rotieren, wie sie anschließend am Telefon erzählt. 

Sie schreibe Mails an Jugendämter, das Familienministerium, die Senatsverwaltungen, pflege Kontakte zu anderen Eltern und Betroffenen, rufe bei Ärzten und Betreuern an. Loos macht alles gleichzeitig: Lobby- und Netzwerkarbeit und die Umorganisation ihrer eigenen Situation. 

"Ich muss mich auch selbst schützen" 

Loos hat einen Sohn, Mattes, 18 Jahre alt, im letzten Schuljahr. Doch dass der während des Corona-Lockdowns wie andere Altersgenossen stundenlang zu Hause zockt oder sich selbstständig in Hausaufgaben vertieft, kann sie vergessen. Mattes hat eine schwere Form des Autismus. Was er braucht, sind klare Strukturen und wiederkehrende Abläufe, eine feste Bezugsperson. Er muss raus, sich auspowern, schaukeln. Sonst werde er aggressiv. Gegenüber sich selbst - oder anderen. "Das ist ein 1,82 Meter großer Kerl", sagt Loos über ihren Sohn, "ich muss mich auch selbst schützen." 

Mattes braucht klare Strukturen und wiederkehrende Abläufe. Er muss raus und sich auspowern, sonst wird er aggressiv

Mattes braucht klare Strukturen und wiederkehrende Abläufe. Er muss raus und sich auspowern, sonst wird er aggressiv

Foto:

F.Kubach

Loos sagt, sie habe erst einmal eine Nacht gegrübelt, wie sie mit der neuen Situation umgehen solle. Zwar hat Mattes theoretisch Anspruch auf Notbetreuung. Die steht in Berlin allen Kindern und Jugendlichen zu, die schwer beeinträchtigt sind.

Doch die Probleme fangen schon beim Schulweg an: Wie soll Mattes dort hinkommen? Normalerweise fahre er mit öffentlichen Verkehrsmitteln, doch da könne er sich und andere nicht schützen. Er fasse alles an, spucke auch schon mal. Die Alternative, ein Behindertentransport, kenne Mattes nicht. Das wäre eine Abweichung von der Routine - und damit für Mutter und Sohn eine Gefahr. 

Mit diesen Problemen, die der Lockdown für Eltern von Kindern mit Behinderung bringt, ist Loos nicht allein. "Viele Nöte laufen bei mir auf", sagt sie. Da sie gut vernetzt ist, bekomme sie zurzeit Dutzende Mails von betroffenen Eltern. Loos engagiert sich seit Jahren in Selbsthilfegruppen, arbeitet in verschiedenen Gremien mit und berät die Berliner Senatsverwaltungen für Bildung, Jugend und Soziales. 

Unterschiedliche Notbetreuung in den Bundesländern 

Die besondere Berücksichtigung der Schüler mit schweren Behinderungen in der Notbetreuung ist in den Bundesländern nicht einheitlich geregelt. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg etwa gab es schon ähnliche Regelungen wie nun in Berlin. Länder wie Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen sehen solche Ausnahmen hingegen nicht vor. 

In Hamburg gibt es den Anspruch zwar, doch der scheiterte zunächst daran, dass die Regelung schlecht kommuniziert wurde, das zeigen die Erfahrungen von Birte Müller. Müller ist Freiberuflerin und Mutter von zwei Kindern. Über ihren Alltag mit "Willi (Down-Syndrom) und Olivia (Normal-Syndrom)" berichtet sie auch in der SPIEGEL-Kolumne "Ganz harte Schule".  

Das Problem in Müllers Fall: Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) versprach Mitte März zwar eine Notbetreuung für Kinder mit Behinderungen, "weil hier ein besonderer Bedarf vorliege". Doch Willis Förderschule sagte ihr, sie müsste sich streng an die behördlichen Vorgaben halten und dürfte demnach nur Notfallbetreuung für systemrelevante Berufe anbieten, erzählt Müller. 

"Die Enttäuschung ist jetzt umso größer" 

Birte Müller

"Ich war so ehrlich beeindruckt gewesen, dass man in diesem Fall die großen Belastungen von Familien mit behinderten Kindern von Anfang an im Blick gehabt hat, dass die Enttäuschung jetzt umso größer ist", sagt Müller dem SPIEGEL. 

Es brauchte über eine Woche und mehrere Anfragen bei der Bildungsbehörde, bis der Betreuungsanspruch geklärt war. Mittlerweile dürfen alle Eltern in Hamburg die Notbetreuung nutzen, egal wo sie arbeiten oder wie es ihren Kindern geht. Denn das Angebot wurde bisher kaum genutzt. Lediglich zwölf Kinder besuchten Mitte dieser Woche nach Angaben der Behörde die Notbetreuung - in ganz Hamburg. Trotzdem solle sie weiter nur genutzt werden, wenn es wirklich nicht anders geht.

Auch aus anderen Bundesländern wie Bayern und NRW heißt es, die Notbetreuung werde kaum gebraucht. Nachgebessert wurde aber lediglich für die systemrelevanten Berufe. Hier haben Eltern mittlerweile oft schon Anspruch, wenn nur ein Elternteil etwa im Krankenhaus oder in der Pflege arbeitet. 

Die Praktiker wissen nicht, was die Entscheider verordnen 

Dass die Praktiker und die Verwaltung nicht wissen, was die Entscheider von oben verordnet haben, das erlebt Loos in Berlin jetzt genauso wie Müller in Hamburg.

Loos hatte nach der Grübel-Nacht Mattes nachmittäglichen Begleiter gefragt, ob er stattdessen schon vormittags kommen könne. Könnte er - wenn die Finanzierung klappt. Dafür ist das Jugendamt zuständig. Das bewilligte die Betreuung zwar, aber nicht in dem von Loos erbetenen Umfang. Stattdessen verwies es auf die Notbetreuung. "Da bin ich komplett explodiert", sagt Loos.

Behinderte Kinder besonderes gefährdet 

Loos schreibt dem Jugendamtsmitarbeiter, dass sie von der Notbetreuung wisse, schließlich habe sie sie selbst mit auf den Weg gebracht. Die Betreuung sei aber die letzte von drei Möglichkeiten, die genutzt werden sollte. Denn viele der schwer beeinträchtigten Kinder hätten Vorerkrankungen und müssten deshalb besonders vor dem Virus geschützt werden. Das Wichtigste sei deshalb ambulante Einzelfallhilfe. Der Senat habe die Jugendämter auch schon informiert, dass die zu bewilligen sei. 

"Es gibt so viele Infos, aber kaum einer kommt an sie ran", klagt Loos – und macht sich selbst an die Arbeit. Informationen, wie zumindest Berliner Eltern von behinderten Kindern Unterstützung anfordern können, stehen samt Antragsvorlagen mittlerweile auf der Website des Landes-Eltern-Ausschusses 

Nur in einem Punkt komme sie nicht weiter, sagt Loos: Sie fordert mehr Geld für Eltern, die sich nun Tag und Nacht um ihre behinderten Kinder kümmern müssten. Da diese Eltern besonders häufig alleinerziehend, oft arbeitslos oder höchstens in Teilzeit oder freiberuflich beschäftigt seien, helfe die staatliche Zusage, dass Eltern für den Verdienstausfall bei der Kinderbetreuung entschädigt werden sollen, oft nicht. Zudem ist der Zuschuss auf Kinder bis zwölf Jahre begrenzt. Eine Lösungsidee hat sie schon. Die stecke in den Paragrafen 39, 44a und 45b des Sozialgesetzbuchs, müssten aber aufgestockt, die Situation als Pflegenot anerkannt oder Gelder umgewandelt werden.

Nur mit Attest über den Zaun

Für ihren Sohn hat Loos vorerst eine kleine Lösung gefunden. Er darf morgens nun etwas länger schlafen – was er genieße, wie jeder 18-Jährige – bevor sein Betreuer ihn abholt. So wie es das Jugendamt finanziert.

Bleibt die Frage: Wie kann Mattes weiter auf seine geliebte Schaukel gehen, jetzt, wo die Spielplätze wegen Corona abgesperrt sind? Mattes‘ Betreuer hat jetzt ein Attest in der Tasche: "Aufgrund der schweren Autismusspektrumstörung in Kombination mit Fremd- und Autoaggressionen" müsse für den Jugendlichen weiter der Zugang zu Spielplätzen und Parks möglich sein", steht da, von der Hausärztin ausgestellt. Mit dem kletterten sie nun über den Zaun zum Spielplatz.

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