Corona in Bayern München überschreitet Grenzwert und steht vor heiklem Wochenende

München hat bei der Zahl der neuen Corona-Infektionen einen wichtigen Grenzwert überschritten - und Politiker warnen vor einem heißen Wochenende. Gelingt die Balance zwischen Alltag und Gesundheitsschutz?
Von Jan Friedmann, München
Außengastronomie in München: Probe für den Umgang mit dem Virus

Außengastronomie in München: Probe für den Umgang mit dem Virus

Foto: STL / imago images/STL

Der erste Wiesn-Samstag ist ein fixer Termin im Jahreskalender bayerischer Politiker und Feierfreunde. Um Punkt 12 Uhr zapft der Oberbürgermeister die erste Mass Bier und reicht sie dem Ministerpräsidenten. Nach dem Anstich dürfen auch die anderen trinken.

Die Auftakt-Folklore fällt in diesem Jahr bekanntlich aus, wie das gesamte Oktoberfest. Bereits im April mussten Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) und Ministerpräsident Markus Söder (CSU) die Sause absagen, wegen Corona.

Allerdings hilft eine Reihe von Veranstaltungen den Münchnern und ihren verbliebenen Gästen über den Phantomschmerz hinweg – so viele, dass auch in Bayern diskutiert wird, ob nicht bereits zu viel erlaubt wurde.

Sichtbarstes Zeichen: Der FC Bayern darf nun sein Auftaktspiel in der beginnenden Saison doch nicht vor Publikum austragen. Zunächst hieß es, rund 7500 Fans dürften das Spiel in der Allianz-Arena verfolgen. Doch den Plan musste Reiter wieder einkassieren. Angesichts der Inzidenzzahl, so das Stadtoberhaupt, "wäre es ein falsches Signal, Zuschauer in die Stadien zu lassen". Reiter: "Das ist bitter für die Fans, aber die Krise ist noch nicht vorbei."

Trotz dieser Maßnahme werden sich am Wochenende andere größere Gruppen in der Stadt versammeln: 50 Innenstadtwirte und Großgastronomen haben zur "WirtshausWiesn" aufgerufen, bei der in den Gasthäusern unter strengen Hygiene-Auflagen speziell gebrautes Bier ausgeschenkt wird und einige Oktoberfest-Musiker aufspielen.

Den darbenden Schaustellern bietet die Stadt schon seit Wochen Flächen für ihre Fahrgeschäfte. Der Einzelhandel ruft zum Shoppen in Tracht auf, wer in solchem Habit Geld ausgibt, bekommt einen Biergutschein obendrauf. Und auf dem Festgelände werden sich einige Hardcore-Oktoberfest-Fans versammeln, die den Auftakt in Eigeninitiative begehen wollen.

Alkoholverbot auf der Theresienwiese

Sie müssen das allerdings nüchtern tun, denn die Stadt hat für die Theresienwiese ein ganztägiges Alkoholverbot erlassen. Es geht darum, private Ersatzpartys zu unterbinden. Zwischendurch war auch ein Betretungsverbot im Gespräch.

Das heikle Wochenende gilt als Probe für den Umgang mit dem Virus in den kommenden Wochen. Leben und leben lassen, heißt eine in Bayern gern zitierte Maxime. In der Coronakrise bekommt sie eine ganz neue Bedeutung: Gelingt die Balance zwischen Alltag und Gesundheitsschutz? Zwischen angemessener Vorsicht und legitimer Lockerung?

Die Zahl der Neuinfektionen je 100.000 Einwohnern binnen einer Woche liegt in der Landeshauptstadt an diesem Freitag bei 50,7 - und damit über dem wichtigen Grenzwert, ab dem verstärkte Infektionsschutzmaßnahmen vorgesehen sind. Seit Beginn der Pandemie haben sich in München inzwischen mehr als 10.000 Menschen infiziert.

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Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.

Virologen und Politiker sehen solche Großstadt-Zahlen mit größerer Sorge als einzelne Spitzenwerte. Im schwäbischen Memmingen beispielsweise reichten wenige Cluster von Urlaubsrückkehrern aus, um die Kennzahl nach oben zu treiben. In Garmisch-Partenkirchen war es womöglich eine 26-jährige US-Amerikanerin, die mehrere Arbeitskollegen in einem Hotel für Streitkräfte und in zwei Garmischer Bars ansteckte, die Infektionsketten sind noch unklar.

Doch abseits der spektakulären Fälle steht die Bewährungsprobe im Alltag noch aus. Viele Familien in Bayern sind erst seit rund zehn Tagen zurück aus dem Sommerurlaub. Außer in den Grundschulen mussten Schüler und Lehrer während des Unterrichts Masken tragen. Ab Montag fällt die Maskenpflicht im Unterricht weg – nicht aber in München, dort wird die unbeliebte Vorgabe aufgrund der hohen Münchner Werte weiter bestehen.

Die Analyse der bayerischen Zahlen durch Söder und seine Regierung fällt so aus: Im Frühjahr waren es die Skifahrer, in Oberbayern naturgemäß zahlreicher als in Vorpommern, die das Virus aus den Hotspots mitbrachten. Es folgte eine Phase der relativen Ruhe. Dann seien es verstärkt Familienheimkehrer gewesen, zum Beispiel aus der Türkei oder vom Balkan: Eine Gruppe, die auch in anderen Bundesländern mit viel Industrie stark vertreten sei, zum Beispiel in Baden-Württemberg, Hessen oder Nordrhein-Westfalen.

Wirtschaft und Schulen vor Freizeit

"Es gibt keinen in Europa, der das Wort zweite Welle bestreiten würde", sagte Söder diese Woche. Der Ministerpräsident verwies auf die schlechten Zahlen in den Nachbarländern. Auch in Deutschland sei es nicht einfach. "Die einen besorgt Corona, die anderen nervt Corona unglaublich."

Seine Priorität: Es sei nicht angebracht, irgendwelchen Stimmungen zu folgen, sondern langfristig vorsichtig zu sein. Söders Hauptaugenmerk gilt der Erholung der Wirtschaft ebenso wie den Schulen und Kitas. "Alles andere ist ein Kann."

Auch der Vorsitzende der CSU-Landtagsfraktion, Thomas Kreuzer, betrachtet die Zahlen mit Sorge. In einem aktuellen Positionspapier seiner Fraktion heißt es: "Wir brauchen einen risikoangepassten Umgang mit Corona, der gefährdete Gruppen weiterhin besonders schützt, der gleichzeitig aber auch möglichst viel der vor Corona gewohnten Normalität zulässt und auch im Privaten noch mehr Eigenverantwortung einfordert."

Was das konkret heißt, werden die kommenden Tage zeigen. In München wird der Krisenstab um den Oberbürgermeister womöglich neue Maßnahmen beschließen. Neben den eigenen Zahlen blicken die Bayern auch nach Österreich, wo es zwischenzeitlich lockerer zuging, aber jüngst wieder Beschränkungen ergingen. Deutschland hat Wien zum Risikogebiet erklärt, eine Zuschreibung, die man sich in Bayern gern ersparen will.

Clemens Wendtner, Chefarzt für Infektiologie am Klinikum Schwabing, äußerte sich skeptisch zu einer "Wiesn light": Wo in Gruppen Alkohol getrunken werde, könnten leicht Superspreader-Events entstehen, "die uns alle in unserem Kampf gegen das Virus zurückwerfen". Allerdings gab es in Bayern zuletzt keine solchen massenhaften Ausbrüche, weder die Wiedereröffnung der Biergärten noch die der Kneipen und Schankwirtschaften wirkten sich negativ aus. Die Corona-Todeszahlen stagnieren, in den Krankenhäusern ist die Lage entspannt.

Dennoch werden an diesem Wochenende nicht nur Kellner und Polizistinnen in München Sonderschichten schieben: Die Corona-Teststation auf der Theresienwiese ist ausnahmsweise auch am Sonntag geöffnet.

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