Das Jahr 2020 hat die Menschen in Deutschland verändert: In Hamburg wird ein Pastor zum Reporter, um seine Gemeinde zu erreichen.
Jens-Martin Kruse, Pastor, Hamburg
»Haben Sie das Gefühl, dass Sie in der schwierigen Zeit der Pandemie einen besonderen Akzent setzen?«
Eine Intendantin aus Hannover muss monatelang ihr leeres Theater ertragen.
Sonja Anders, Intendantin Schauspiel Hannover
»Ich glaube, dass die Zeit vor Corona jetzt im Nachhinein eine so tolle Zeit war und dass man das jetzt überhaupt erst richtig schätzt. Was heißt das? Dass wir gemeinsam feiern? Dass wir gemeinsam Theater schauen?«
Und eine Drogerie-Angestellte aus Essen ist auf einmal systemrelevant und hat eine neue Aufgabe: die Kunden an die Maskenpflicht zu erinnern.
Farina Kerekes, Drogerie-Angestellte, Essen
»Ich habe echt keinen Bock mehr auf diese Ausreden. Es reicht. Es steht mir wirklich bis hier, weil ich mir denke, ich laufe den ganzen scheiß Tag mit der Maske auf der Nase rum, und es rutscht mir kein einziges Mal runter. Ich kann auch telefonieren, mit Maske auf.«
Das sind nur drei von 100 Menschen, die der SPIEGEL seit Beginn der Pandemie begleitet. 52 Redakteure halten seit Monaten Kontakt und haben ihre Geschichten aufgeschrieben. Ressortleiterin Britta Stuff hat das Projekt koordiniert und aus den 100 Leben mit Corona die SPIEGEL-Titelgeschichte zu Weihnachten gemacht.
Britta Stuff, DER SPIEGEL
»Im Frühjahr wurde uns ziemlich schnell bewusst, dass wir uns alle in einer totalen Ausnahmesituation befinden, die tatsächlich alle Menschen betrifft. Es betrifft den einen mehr, den anderen weniger, der andere leidet darunter. Uns wurde sehr schnell klar, dass es etwas ist, was in alle Bereiche des Lebens vordringt.«
Als die Pandemie ausbrach, war Lorena Daum weit weg von zu Hause. Sie war als Sängerin engagiert – auf einem Kreuzfahrtschiff.
Lorena Daum, Sängerin, Hamburg
»Also mein Erwachen, dass es Corona gibt, kam, als ich als Sängerin für Aida auf dem Kreuzfahrtschiff unterwegs war. Ich war in der Karibik, und irgendwann war dann Endstation auf Barbados, weil uns alle anderen Häfen abgelehnt hatten. Dann haben wir eben eine Woche schön auf Barbados gechillt. Also in dem Moment ist das alles noch so weit weg gewesen, dass uns, glaube ich, das Ausmaß des Ganzen noch nicht bewusst war. Also wir waren dann eben im Paradies. Ich habe da noch ein Hängematten-Bild gemacht und geschrieben, hier ist alles in Ordnung.«
Während die Sängerin noch unbeschwerte Tage in der Karibik verbringt, werden in Deutschland im März Schulen und Kindergärten geschlossen. Die Menschen sind verunsichert.
Farina Kerekes, Drogerie-Angestellte, Essen
»Und auf einmal waren die Regale leer. Also das Klopapier voll der Klassiker. Es war leer. Ich wurde jeden Tag Hunderte Male, 200-, 300-mal gefragt: Wo ist das Klopapier? Wann kommt das Klopapier wieder? Das war unfassbar anstrengend, und die Leute sind richtig, also in ihrer Panik zu uns reingerannt, um Klopapier zu kaufen, wo ich bis heute nicht verstehen kann, was Klopapier an Corona besser macht.«
Die deutschen Kliniken bereiten sich auf die vielen prognostizierten Covid-Patienten vor, auch das Katholische Krankenhaus in Dortmund-West.
Anne Herbrich, Leitende Oberärztin, Dortmund
»In der Notaufnahme herrscht Ausnahmezustand, allerdings nicht wegen Überfüllung, sondern umgekehrt wegen nahezu gähnender Leere. Die Menschen bleiben zu Hause, und das ist irgendwie alles ein bisschen surreal, wenn man die Bilder aus dem Fernsehen, aus unseren Nachbarländern und auch aus einzelnen Regionen in Deutschland sieht. Und hier herrscht im Grunde gespenstische Ruhe, und wir wissen nicht, ob und wann sich das ändert.«
Jens-Martin Kruse, Pastor, Hamburg
»Wir sind im Grunde aus hohem Tempo von einem Tag auf den anderen in einen Ruhezustand versetzt worden. In wenigen Tagen mussten wir alles neu erfinden.«
Auch die deutschen Touristenorte wie Hohwacht an der Ostsee müssen von einem Tag auf den anderen dichtmachen.
Olaf Hutzfeld, Supermarktleiter, Hohwacht
»Ich habe euch wieder mit auf meine Laufrunde mitgenommen durch Hohwacht, ich muss doch mal gucken, was hier so los ist. Da sehen wir unseren Wanderweg, der ist einfach nur leer. Wir haben traumhaft schönes Wetter, und es ist keine Menschenseele hier.«
In Hannover schließen wie überall die Theaterhäuser, für Intendantin Sonja Anders ein schlimmer Moment.
Sonja Anders, Intendantin Schauspiel Hannover
»Ich bin eigentlich kein sentimentaler Mensch, aber in dem Moment war ich wirklich tieftraurig, weil mir auch klar war: Das geht länger. Ich habe vor der Krankheit selbst keine Angst, ich merke eher, dass sich doch so ein bisschen so ein Mehltau auf die Stimmung legt und dass man merkt, man muss schon wahnsinnig dran arbeiten, weiterhin gute Laune und Kraft in den Beruf und in die Familie zu investieren.«
Besonders schwer ist die Situation für freischaffende Künstler. Für Tenor Thomas Volle – hier mit Frida Österberg am Badischen Staatstheater in Karlsruhe – war 2020 ein ständiges Auf und Ab.
Thomas Volle, Tenor, Calw
»Wenn ich Arbeit habe oder hatte, habe ich natürlich gemerkt, was das mit mir macht, wie wichtig das für mich ist, euphorisiert. Wenn das dann wieder alles wegfällt, dann schlägt es auch schon ins Gegenteil um, und es ist schon eine große Herausforderung.«
Der Abiturjahrgang 2020 musste mit wechselnden Regeln klarkommen. Die Idee, die Abschlussprüfungen ausnahmsweise ausfallen zu lassen, war schnell vom Tisch.
Leonie Zinn, Abiturientin, Berlin
»Hallöchen, also: Heute ist ein sehr schöner Tag, den verbringe ich draußen, spiele ein bisschen Volleyball, mache mal wieder ein bisschen Vorbereitungen auf mein Abitur, ne? Denn es steht ja seit gestern fest, hat sich einiges mal wieder verändert, dass die Prüfungen doch stattfinden. Gut zu wissen, eine Woche davor, ne? Super. Man kann für Handschuhe sorgen, man kann für Desinfektionsmittel sorgen, man kann die Schüler zwei Meter voneinander entfernt wegsetzen, aber im Endeffekt, ich würde es nicht ausschließen, dass sich jemand infiziert an dem Tag. Abitur ist schon stressig genug, und dann noch das im Hinterkopf zu haben ist belastend.«
Anne Herbrich, Leitende Oberärztin, Dortmund
»Am Wochenende im Notarztdienst, wie auch in den letzten drei Notarztdiensten, da hatte ich gefühlt überproportional viele Todesfeststellungen. Ich weiß nicht, ob das statistisch ein Zufall ist oder ob das doch irgendetwas mit der Coronavirus-Situation zu tun hat oder möglicherweise auch mit dem Shutdown, dass einfach die Menschen zu spät oder zu wenig zum Arzt gehen.«
Die Infektionszahlen sinken, der Shutdown endet – im Rückblick war es nur eine Verschnaufpause.
Leonie Zinn, Abiturientin, Berlin
»Menschen draußen auf der Straße zu sehen ist generell mal wieder ein ganz schönes Gefühl. Bisschen mehr so wieder dieses Sommer-Feeling. Aber ich muss sagen: Es ist auch teilweise ziemlich komisch, in den Park zu gehen, und da sitzen 30 Personen aufeinander. Ich finde es megaschön, aber man muss es auch nicht übertreiben.«
Olaf Hutzfeld, Supermarktleiter, Hohwacht
»Ja, man sieht, ich war immer noch nicht beim Friseur. Ich habe irgendwie keine Lust mit dieser ganzen Masken-Geschichte. Ich schiebe das noch ein bisschen auf.«
Was bleibt nach diesem Jahr? Farina Kerekes wurde immer wieder von gestressten Kunden beschimpft und beleidigt. Schließlich nahm sie ihren Mut zusammen und machte ihrer Wut öffentlich Luft.
Farina Kerekes, Drogerie-Angestellte, Essen
»Ich habe mich verändert durch die Corona-Pandemie, auf jeden Fall. Ich bin selbstbewusster geworden, wenn es darum geht, meine Forderungen als Verkäuferin laut zu machen. Ich habe ganz am Anfang der Pandemie einmal einen Tweet abgesetzt, der viel geteilt wurde und wo ich ein bisschen mich ausgelassen habe über die hamsternden Kundinnen und Kunden. Und ich habe am Anfang sehr viel Angst gehabt, dass ich Konsequenzen zu befürchten habe von meinem Arbeitgeber. Dass ich abgemahnt werde oder sogar den Job verliere. Und das hat sich jetzt sehr gelegt. Also, ich habe mich gut informiert, ich darf schon durchaus mehr sagen, als ich gedacht hatte, und bis jetzt hat mich noch keiner gekündigt.«
Keine Konzerte wegen Corona, Lorena Daum bewarb sich deshalb bei Deutschlands berühmtester Castingshow.
Lorena Daum, Sängerin, Hamburg
»Also ohne Corona wäre ich niemals bei ›The Voice of Germany‹ gelandet. Ganz klar. Es lief tatsächlich sehr gut. Dann hatte ich ein legendäres Battle, was ich für mich entscheiden konnte, was wirklich verrückt war, weil ich bin quasi gegen den Favoriten angetreten und habe es so ein bis in die Sing-Offs geschafft. Und da war dann die Reise für mich zu Ende. Was aber voll in Ordnung ist für mich. Die einzige Angst, die ich tatsächlich habe durch Corona, ist eben dieses, dass ich nicht die Person sein möchte, die dann später meine Oma angesteckt hat. Also das finde ich das Belastende an dieser Krankheit, dass man ja sehr leicht andere gefährdete Menschen anstecken könnte. Und das ist so die einzige Angst, die ich tatsächlich habe.«
Dass dieses Weihnachten anders werden würde, war Jens-Martin Kruse schnell klar – also wurde der Pastor kreativ.
Jens-Martin Kruse, Pastor, Hamburg
»Wir sind dabei, einen Weihnachtsfilm aufzunehmen. Wir rechnen damit, dass es eine Anzahl von Menschen gibt, die zu unserer Gemeinde gehören, die an Heiligabend nicht zum Gottesdienst kommen können, und bereiten deshalb eine ganze Menge vor, damit die Menschen auch zu Hause Weihnachten feiern können.«
Auch für den SPIEGEL waren dieses Jahr und diese Recherche besonders. Die 100 Menschen haben Eindruck hinterlassen.
Britta Stuff, DER SPIEGEL
»Es ist bei allem Leid und bei allem Schrecklichen, was passiert ist, es ist einfach irre, was in den Leuten vorgeht. Es ist einfach irre, wie viele kreativen Gedanken, wie viele neue Ideen trotz allem auch in dieser Zeit entstanden sind.«