Obdachlose und Corona Nirgendwo in Sicherheit

Wohnungsloser in Berlin (Archiv)
Foto: Emmanuele Contini/ picture alliance / NurPhotoPaschka hat vorgesorgt. Neben Bierflasche, Handy und Isomatte hat er in Zeiten von Corona auch ein Fläschchen Desinfektionsmittel dabei. Konzentriert säubert er seine Hände, während sein Hund Baton sich an ihn kuschelt.
"Noch komm ich klar, trotz Corona", sagt der 47-jährige Obdachlose aus Polen. Tagsüber sitzt er vor einer Bankfiliale im Hamburger Stadtteil Altona, zum Übernachten geht er in eine Winternotunterkunft. "Ich habe Glück, wir sind nur zu zweit in einem Zimmer, da können wir ein bisschen Distanz halten", sagt er. Doch schon bald könnte es eng werden.

Paschka und vierbeiniger Begleiter in Hamburg: Stets Desinfektionsmittel dabei
Foto: Annette Langer/ DER SPIEGELAm Samstag war in einer Notunterkunft im Südosten der Hansestadt ein Obdachloser positiv auf das Coronavirus getestet worden. Die Folge: Die Einrichtung des Trägers "fördern & wohnen" wurde geschlossen, alle 330 Klienten für zwei Wochen in Quarantäne genommen.
"Der Corona-Erkrankte wurde schon nach Entdeckung der ersten Symptome getrennt untergebracht", sagt Martin Helfrich von der Hamburger Sozialbehörde (BASFI). Inzwischen habe der Träger zwei der sechs Stockwerke in dem Gebäude zur Isolierstation erklärt.
Die Stimmung im Haus sei durchwachsen - während einige froh seien, auch tagsüber in der Einrichtung bleiben zu können, würden andere lieber ihrer üblichen Beschäftigung nachgehen, etwa das Straßenmagazin "Hinz&Kunzt" verkaufen.
Doch auch das wird nur noch in kleiner Stückzahl an die Obdachlosen abgegeben, der Verkauf kommt langsam zum Erliegen: "Wir haben es mit einem Systemzusammenbruch zu tun", sagt Stefan Karrenbauer von "Hinz&Kunzt". "Die Tagesunterkünfte für Obdachlose laufen auf Minimalbetrieb, viele Einrichtungen sind bereits geschlossen."
Zentraler Ansprechpartner dringend gesucht
Der Mitternachtsbus der Diakonie, der die Menschen an ihren Schlafplätzen mit Essen, Decken und Kleidung versorgt, ist außer Betrieb. Auch der Kältebus des Hilfsvereins St. Ansgar e.V., der Obdachlose vor dem Erfrieren rettet, hat den Dienst eingestellt. "Nur die mobile Hilfe der Caritas fährt eisenhart weiter", so Karrenbauer. Die wenigen verbliebenen Angebote müssten dringend vernünftig koordiniert werden: "Was wir jetzt brauchen, ist ein zentraler Ansprechpartner bei der Behörde, eine Corona-Koordinierungsstelle."
Man sei bereits im Gespräch mit den Hilfsorganisationen, auch den Tafeln, sagt BASFI-Sprecher Helfrich. Die Tafeln haben ihre Essensausgabe inzwischen an die neuen Hygiene- und Distanzanforderungen angepasst. "Wir rekrutieren Freiwillige vom Arbeiter-Samariter-Bund und Studenten, die uns helfen, Lunchpakete zu packen, die wir an Bedürftige verteilen", sagt Jan-Henrik Hellwege vom Verein Hamburger Tafel. "Es gibt noch einige Küchen, die warmes Essen kochen, das wird allerdings in Einweggeschirr ausgegeben und auf der Straße verzehrt."
Normalerweise verfügt die Tafel über etwa 60 Essensausgabestellen, viele davon in sozialen Einrichtungen und Kirchengemeinden. Wegen der Coronakrise sind etliche davon geschlossen, derzeit sind nur noch etwa 13 in Betrieb. Ein weiteres Problem: "Unsere bisherigen Helfer stammen fast ausschließlich aus Corona-Risikogruppen, deshalb können wir sie derzeit nicht einsetzen", so Hellwege.
Die Abstände im Drogenkonsumraum wurden vergrößert
Auch Obdachlose gehören aufgrund ihres oft instabilen Gesundheitszustands mehrheitlich zur Corona-Risikogruppe. Suchterkrankungen und psychische Probleme sind häufig - diese Menschen brauchen schon unter normalen Bedingungen besonderen Schutz.
"Wir sind alle im Krisenmodus und versuchen, weder unsere Klienten noch unsere Mitarbeiter zu gefährden", sagt Christine Tügel von der Hamburger Beratungsstelle Drob Inn für Drogenabhängige, die auch von Obdachlosen genutzt wird. Der Einlass werde kontrolliert, die Abstände der Plätze im Drogenkonsumraum seien jetzt größer, es gebe einen zusätzlichen Eingang, das Personal sei selbstverständlich "vermummt". "Allerdings geht unser Vorrat an Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel langsam zu Ende - und es ist unklar, ob es Nachschub geben wird. Wenn nicht, müssen wir schließen."
Derzeit wird überlegt, ob Ärzte verstärkt sogenannte Take-Home-Dosen bei der Drogensubstitution verschreiben sollten, also Ersatzmedikamente, die mitgenommen werden können. "Um Krankenhäuser und Ärzte zu entlasten, würden wir auch Corona-Tests durchführen - aber die sind schwer zu bekommen", so Tügel.
Der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe zufolge waren 2018 in Deutschland weit über 670.000 Menschen ohne Wohnung. Die Rechnung ist einfach: Wer kein Haus hat, kann sich auch nirgendwo vor einem tödlichen Virus verstecken. Wo sollen diese Menschen in Zukunft Hilfe finden, wenn die Systeme ausfallen?
Weitermachen, durchhalten, Alternativen finden
"Hepatitis oder Aids - für uns sind Viren weiß Gott nichts Neues", sagt Mike, der vor einer Fastfoodfiliale in Altona auf dem Pflaster sitzt. Wer wie er im Freien übernachtet, fürchtet angesichts der zunehmenden Einschränkungen im Kampf gegen Corona die Zwangsräumung von Schlafplätzen und Zelten. Womit die totale Entwurzelung ihren Lauf nähme.
"Das Schlimmste ist, dass wir nicht wissen, was wir den Obdachlosen angesichts von Corona raten sollen", sagt "Hinz&Kunzt"-Sprecher Karrenbauer. "In den Notunterkünften herrscht Enge, eine Ansteckung ist dort wahrscheinlicher. Sollen sie dann etwa lieber draußen übernachten?"
Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.
Auch wenn die Ressourcen langsam schwinden, sich die Lage permanent verändert und niemand Prognosen treffen kann - der Tenor unter den Helfern ist: weitermachen, durchhalten, Alternativen finden. "Wir versuchen, durch unsere Arbeit Ruhe in die Situation zu bringen", sagt Jan-Henrik Hellwege von der Hamburger Tafel. "Wir können und wir werden weiterarbeiten. Es gibt nur einen Grund damit aufzuhören: Wir werden selbst krank."