Coronavirus in Brandenburg Eine Stadt steht still

Neustadt an der Dosse: Schneller sein als das Virus
Foto: TOBIAS SCHWARZ/ AFPNoch am vergangenen Samstag kamen sie zu Hunderten zusammen. Die Neustädter Gestüte hatten zur Hengstpräsentation geladen. Reiter, Züchter, Pferdesportler aus weiten Teilen Deutschlands kamen in die Graf-von-Lindenau-Halle, drei Stunden dauerte die Show, sie wurde live übertragen in die ganze Welt.
Vier Tage später lahmt das öffentliche Leben in Neustadt an der Dosse in Brandenburg.
Die Kleinstadt hat 3800 Einwohner, mit den umliegenden Gemeinden sind es rund 7800. Mehr als 2200 Menschen befinden sich nun in häuslicher Quarantäne. Freiwillig. Sie folgen einem "Appell" des Landkreises. Die drei Schulen und zwei Internate im Ort sind geschlossen, der Hort, alle Kinder sollen zu Hause bleiben. Auch die Sparkassenfiliale und die Stadtverwaltung haben ihre Türen geschlossen, das Altenheim lässt keine Besucher mehr rein.
Damit ist eine weitere Eskalationsstufe in den Vorsichtsmaßnahmen in Deutschland erreicht, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. Im Gegensatz zu Regionen wie dem Landkreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen gibt es hier noch keine bestätigten Covid-19-Fälle, bislang wurde bei keinem Bewohner das Virus nachgewiesen. Allein der Verdacht, sich infiziert zu haben, reicht aus.
Ein Amtsdirektor im "Ausnahmezustand"
Dieter Fuchs sitzt am Dienstagvormittag in seinem Büro in der Neustädter Stadtverwaltung, er ist der Amtsdirektor der Stadt. Eigentlich dürfte Fuchs nicht hier sein, auch er steht unter Quarantäne. Aber die Verwaltung sei wie sein zweites Zuhause, sagt der 64-Jährige. Und es gebe ja gerade viel zu tun, also pendle er zwischen seinem Wohnsitz und dem Verwaltungssitz.
Seit sieben Jahren leitet Fuchs die Neustädter Verwaltung. In dieser Zeit hat er einige Krisen erlebt. Hochwasser, schwere Stürme, stundenlange Stromausfälle. Aber das, was gerade passiere, habe er nicht kommen sehen. Fuchs ist ein sachlicher Mann, er nennt es "eine besondere Herausforderung". Für die lokalen Medien ist es ein "Ausnahmezustand", eine "Massenquarantäne".
Es begann am Tag der Hengstpräsentation. Dieter Fuchs saß gerade beim Frühstück mit seiner Frau, als ihn ein Anruf erreichte. Eine Mitarbeiterin aus der Verwaltung rief ihn an. Wenige Tage zuvor hatte diese an einer Sitzung in der Prinz-von-Homburg-Schule teilgenommen. Mit dabei war auch eine Sportpsychologin aus Berlin - und die war an Covid-19 erkrankt, wie sich jetzt herausstellte.
Neustadt ist eine Pferdestadt. Hier steht das Brandenburgische Haupt- und Landgestüt, eines der größten Gestüte Europas. Es gibt ein Institut für Pferdewissenschaften und ein Reitinternat. Die Prinz-von-Homburg-Schule bietet eine Spezialklasse "Reitsport" an, nach eigenen Angaben einmalig in Deutschland. Um die ging es in der Sitzung, es war ein regelmäßiges Treffen. Lehrer nahmen teil, Mitarbeiter des Gestüts, eine Mitarbeiterin aus der Verwaltung. Insgesamt 19 Menschen.

Die Prinz-von-Homburg-Schule: Eine Besucherin aus Berlin war erkrankt
Foto: TOBIAS SCHWARZ/ AFPAls der positive Test der Berlinerin bekannt wurde, mussten sie sich alle umgehend testen lassen. Schließlich wusste niemand, ob das Virus bei dem Treffen auf andere Teilnehmer übergesprungen war. Und ob diese das Virus wiederum verbreitet hatten. Unter Schülerinnen und Schülern, im Kollegium, unter Mitarbeitern der Stadtverwaltung.
Amtsdirektor Fuchs telefonierte an dem Tag mit dem zuständigen Gesundheitsamt. Schnell war klar: Die Schulen werden geschlossen, auch der Hort. Die Verwaltung zu schließen war hingegen keine Anordnung der Behörde. Fuchs traf diese Entscheidung selbst. Zum Schutze der Bevölkerung. Und um schneller zu sein als das Virus.
Der Edeka liefert Lebensmittel - kostenlos
Etwa 760 Schulkinder müssen nun bis zum 17. März zu Hause bleiben. Und mit ihnen ihre Eltern, Geschwister, Großeltern. Zudem Lehrkräfte und Mitarbeiter. In Neustadt oder wo auch immer sie wohnen. Das ergibt um die 2250 Menschen, sagt der Landkreis. An die 3000, schätzt Amtsdirektor Dieter Fuchs. Gerade die Erwachsenen sind es, die jetzt im Ort fehlen.
Auf dem Edeka-Supermarkt neben der Stadtverwaltung parken nur wenige Fahrzeuge. Im Supermarkt laufen mehr Mitarbeiter als Kunden durch die Gänge. Die Massen hätten alle schon in den Tagen zuvor eingekauft, sagt eine Kassiererin. Kurz nachdem die Quarantäne verkündet wurde.

Neustadt an der Dosse: Wenn die Kinder zuhause bleiben, fehlen die Erwachsenen
Foto: TOBIAS SCHWARZ/ AFPGegen Mittag befestigt der Geschäftsführer einen Zettel an der Eingangstür. "Wir bitten Quarantäne betroffene Personen, den Markt nicht zu betreten." Darunter steht eine Telefonnummer, unter der man Lebensmittel bestellen könne, die Lieferung sei kostenlos. Eine schnelle Reaktion auf die Ausnahmesituation.
Am Rande Neustadts, im 1. Stock eines Bürogebäudes, steht Stephan von Schwander am Fenster und blickt über das Werksgelände. Von Schwander ist Geschäftsführer von Hüffermann Transportsysteme, einem Hersteller von Lkw-Anhängern, hoch spezialisiert, Marktführer in Deutschland. Normalerweise verlassen jede Woche 30 Anhänger das Gelände, die Auftragsbücher sind voll bis Mitte nächsten Jahres.

Werksgelände der Firma Hüffermann Transportsysteme: Normalerweise verlassen 30 Lkw-Anhänger pro Woche das Gelände
Foto: Milos Djuric/ DER SPIEGELDoch gerade ist nichts normal. Corona-Ausnahmezeit, auch hier, im deutschen Mittelstand auf dem Land.
Von Schwander blickt auf fünf Anhänger, die auf einem Schotterplatz stehen. Eigentlich sollten die nach Italien. Aber aufgrund der Reisebeschränkungen haben sie die Auslieferung gestoppt. Ein Mahnmal des Stillstands. "Es ist zu riskant, dass unser Fahrer am Ende dort in Quarantäne muss", sagt von Schwander.

Bei der Firma Hüffermann steht die Produktion zum Teil still, fast 20 Prozent der Mitarbeiter fehlen
Foto: Milos Djuric/ DER SPIEGELKein Fußballgucken, kein Bowling
An manchen Orten in Neustadt zeichnet sich das aber ab. Das Parkhotel bekommt in diesen Tagen viele Stornierungen. Das Restaurant im Hotel ist bereits geschlossen, die Köchin sei in Quarantäne, heißt es.
Wenige Hundert Meter entfernt steht Olaf Krause hinter dem Tresen seiner Gaststätte und blickt in einen leeren Raum. "Olafs Werkstatt" ist eine der wenigen Kneipen im Ort. Der Gastraum fasst um die 100 Gäste, zudem gibt es noch Nebenräume mit Live-Fußball und Bowlingbahnen. An diesem Dienstagabend überlegt Krause, das Wirtshaus bereits um 19.30 Uhr zu schließen. Den Tag über kamen zwar einige Gäste, aber am Abend ist das Lokal einfach leer.
Mancher Gast hätte für diese Woche schon die reservierte Bowlingbahn abgesagt. "Das verstehe ich - wer in Quarantäne ist, kann ja nicht raus", sagt Krause. Noch sei das finanziell nicht dramatisch für ihn. Unter der Woche gebe es immer mal Tage, an denen wenig los sei. Entscheidend sei das Wochenende. Da sei immer Bewegung. Gastwirt Krause hofft, dass dann schon wieder etwas Alltag einkehrt.