Zunahme häuslicher Gewalt "Wir müssen leider mit dem Schlimmsten rechnen"

Angst vor Zunahme häuslicher Gewalt während der Coronakrise: "Die Täter haben jetzt viel mehr Zugriff auf die Kinder"
Foto:Britta Pedersen/ dpa
Um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen, gelten in vielen Ländern Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote. Was jedoch im Kampf gegen die Pandemie schützen soll, könnte für Opfer häuslicher Gewalt zur zusätzlichen Gefahr werden. Denn für sie sind die eigenen vier Wände oft der gefährlichste Ort. Experten warnen nun eindringlich vor einem Anstieg sexueller und gewaltsamer Übergriffe zu Hause.
"Wir müssen leider mit dem Schlimmsten rechnen", sagte Jörg Ziercke, Bundesvorsitzender der Opferschutzorganisation Weißer Ring. "Die Coronakrise zwingt die Menschen, in der Familie zu bleiben, hinzu kommen Stressfaktoren wie finanzielle Sorgen und Zukunftsunsicherheit."
Die Opferhelfer würden das Problem von Festtagen wie Weihnachten kennen, so Ziercke. "Wenn die Menschen tagelang zu Hause sind, gehen die Fallzahlen in die Höhe. Die Kontaktsperre wegen Corona dauert aber sehr viel länger als Weihnachten, die Stressfaktoren sind auch größer."
Vor allem um betroffene Kinder müsse man sich "extrem sorgen"
Experten warnen zudem, dass die Ausgangsbeschränkungen gerade auch für Kinder gefährlich werden können. Denn dort, wo es schon Gewalt gebe, werde sie noch einmal schlimmer, erklärte die Leiterin des Lehrstuhls Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität des Saarlandes, Tanja Michael.
Grund für eine "Verschärfung" sei der Umstand, dass nach der Schließung von Kitas und Schulen sowie weitgehenden Kontaktverboten wegen der Corona-Pandemie Familien auf sich zurückgezogen seien. Vor allem um betroffene Kinder müsse man sich nun "extrem sorgen", sagte die Professorin.

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"Die Täter haben jetzt viel mehr Zugriff auf die Kinder und die Kinder haben weniger Möglichkeiten, nach außen Signale zu senden, dass etwas nicht stimmt." Hinzu komme, dass die Täter in der derzeitigen Situation vermutlich "noch schlechter gelaunt sind als normalerweise".
Dreimal so viele Opfer von häuslicher Gewalt in Wuhan registriert
Aus Wuhan in China, wo das Coronavirus zuerst grassierte, gebe es Untersuchungen zu der Entwicklung: Dortige Frauenorganisationen hätten in der Quarantänezeit dreimal so viele Opfer von häuslicher Gewalt registriert. Zudem habe die Polizei doppelt so viele Notrufe von Frauen bekommen.
Auch die deutsche Politik hat das Thema auf dem Schirm. "Jeder, der sich im Kinderschutz engagiert und für das Kindeswohl kämpft, der ist im Moment in größter Sorge", sagte der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, dem RBB-Inforadio. Ohnehin bestehende Gefahren würden durch häusliche Isolation verstärkt.
Durch den Druck, der jetzt wegen der Kontaktsperren und der Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens aufgrund der Coronakrise wirke, sei das Kindeswohl durch die eigenen Familienmitglieder erheblich gefährdet, sagte Rörig weiter. "Kinder, die sexueller Gewalt sowieso in der Familie ausgesetzt sind durch ihre Väter, Brüder oder auch durch die Mütter, deren Lage verschärft sich jetzt nochmal enorm, weil natürlich Schule und Freizeit als Fluchtmöglichkeit fehlt."
Hamburg mietet erste Pension für Opfer häuslicher Gewalt
Bundesfrauenministerin Franziska Giffey (SPD) hat mit den Gleichstellungs- und Frauenministerinnen und -ministern der Länder Maßnahmen vereinbart - etwa, Hilfetelefone am Laufen zu halten. Beratung für Schwangere, die über eine Abtreibung nachdenken, soll es auch online oder am Telefon geben. Falls Frauenhäuser überfüllt sind, sollen die Behörden vor Ort prüfen, ob etwa leer stehende Hotels und Ferienwohnungen angemietet werden können.
Die Stadt Hamburg hat bereits eine erste derzeit geschlossene kleine Pension für Opfer häuslicher Gewalt gebucht. Wie am Freitag bekannt wurde, bereitet sich die Stadt darauf vor, dass während der Coronakrise mehr Platz in Frauenhäusern benötigt wird. Hamburg suche demnach in allen Bezirken nach Unterkünften. Und nicht nur in Deutschland ist man besorgt über die möglichen Folgen der Ausgangsbeschränkungen. Aus anderen Ländern gibt es bereits erste Belege für eine Zunahme der Gewalt. Der Europarat in Straßburg schlägt daher Alarm.
Hilferufe per Sofortnachricht im Netz steigen in ganz Europa
Berichte aus den Mitgliedsländern der vergangenen Wochen hätten bereits gezeigt, dass Kinder und Frauen derzeit in den eigenen vier Wänden einem höheren Missbrauchsrisiko ausgesetzt seien, sagte Europarats-Generalsekretärin Marija Pejcinovic Buric.
Berichte aus Frankreich zeigten, dass viele Frauen wegen der Beschränkungen keine Notrufstellen anrufen könnten, sagte die Generalsekretärin. Pejcinovic Buric zufolge gingen bei den Hilfe-Telefonnummern gut viermal weniger Anrufe ein als normalerweise. Dafür hätten Sofortnachrichten im Internet an entsprechende Hilfsorganisationen in ganz Europa zugenommen. Das könne bedeuten, dass Täter ihre Opfer davon abhalten, telefonisch Hilfe zu suchen, so Pejcinovic Buric.
In Dänemark habe man beobachtet, dass die Zahl der Frauen gestiegen sei, die Zuflucht in einem Frauenhaus suchten, sagte die Generalsekretärin.