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Das deutsche Afghanistan

Ortstermin: Besuch bei einem Botschafter ohne Hauptstadt
aus DER SPIEGEL 39/2001

Um 10.14 Uhr meldet AP, die Taliban würden mit dem Heiligen Krieg drohen. Vor dem Büro der afghanischen Botschaft in Berlin, dritter Stock links, bitte klingeln, ist alles ruhig. Keine Krieger, keine Wache, nur ein Wasserspender, der manchmal leise blubbert.

Herr Amanullah Jayhoon, Botschafter des Islamischen Staates Afghanistan, sieht zu, wie der Fotograf die Kamera auspackt. Neun Tage vorher haben zwei falsche Journalisten seinen obersten Befehlshaber, Ahmed Schah Massud, in die Luft gejagt. Der Sprengstoff war vermutlich in einer Kamera versteckt.

»Die Attentäter waren jung, trugen schicke Jeans und sprachen perfektes Französisch«, sagt Jayhoon. Offenbar kann ihn nichts mehr wirklich überraschen. Ein Mitarbeiter hat diskret auf dem Sofa Platz genommen und reicht ein Zettelchen herüber. Vielleicht, damit das Wichtigste nicht vergessen bleibt. »Der Islam verbietet den Selbstmord«, sagt Jayhoon. »Ein Terrorist ist nur ein Terrorist. Er glaubt an gar nichts.«

Massud, »der Löwe vom Pandschirtal«, ist der gefährlichste Gegner der Taliban gewesen, Anführer der »Nordallianz«, die fast überall in der Welt diplomatische Vertretungen unterhält, obwohl ihr das Land samt Hauptstadt abhanden gekommen ist. Größtenteils jedenfalls.

Der Gesandte entfaltet die Farbkopie einer Landkarte. Sofort steht der Mitarbeiter vom Sofa auf, holt eine kleine Flagge vom Schreibtisch herüber und stellt sie neben das Papier. Auf der Karte sind fünf Flecken mit Filzstift ausgemalt, rot und grün. Völkerrechtlicher Vertreter der Flecken ist Herr Jayhoon. Das Grüne sind die befreiten Gebiete, das Rote ist die Front. Es ist viel Rot auf der Karte.

»Wissen Sie auch, wo Osama Bin Laden sich gerade aufhält?« Ohne Zögern tippt der Botschafter auf einen Punkt rechts unten: »Ja. Vor sieben Tagen ist er hier in Kandahar gewesen. Zusammen mit Mullah Mohammed Omar«, dem Führer der Taliban.

Auf dem Flur der Vertretung laufen Männer mit sorgsam gestutzten Bärten herum, die wirken, als hätten sie noch einen anderen Job und würden nur kurz aushelfen. Draußen über der Wilhelmstraße hängt die Fahne des Islamischen Staates Afghanistan, mit dem Koranvers, der Moschee, den zwei Schwertern. Grün-regengrau-schwarz. Eine traurige Fahne. Sie hängt auf Halbmast.

Als die Flugzeuge auf New York stürzten, saß der Botschafter im Auto und hörte »Radio Multikulti«. »Jemand sprach auf Türkisch von einem zweiten Turm, der eingestürzt wäre. Ich wusste gar nicht, wovon die Rede war.« Er war mit den Gedanken noch beim Attentat auf Massud. Dann meldeten sich plötzlich Zeitungen bei ihm, und er saß in den »Tagesthemen«. Bis dahin hatte sein Name nur Erwähnung gefunden, wenn er an der Hubertusjagd der Sportgemeinschaft des Deutschen Bundestages teilnahm.

Jayhoon ist ein Gesandter ohne Staat. Wenn er die Hauptstadt seines Landes betreten würde, würde er umgebracht. Die Visa, die er für sein Land ausstellt, werden überall anerkannt. Nur in Kabul nicht.

Der Beweis, dass es seinen Staat tatsächlich gibt, ist eine Handy-Nummer, mit der er es in irgendeinem Tal des Hindukusch klingeln lassen kann. Und das Foto eines weißbärtigen Mannes mit Turban über dem Schreibtisch: »Professor Rabbani«, der Präsident des anderen Afghanistan.

Natürlich ist auch Burhanuddin Rabbani ein Islamist und Anhänger der Scharia. Aber kein Fanatiker, sagt Jayhoon. »Wir sind die Einzigen, die wirklich gegen die Taliban und die Terroristen kämpfen. Der Westen hat Sympathien für uns, aber er hat uns bisher nicht mit Taten geholfen.« Und auch jetzt hätten sich die deutschen Dienste nicht bei ihm gemeldet. Dabei wisse er von inoffiziellen Büros der Taliban in Frankfurt und Hamburg.

Amanullah Jayhoon spricht mit weit aufgerissenen Augen. Eigentlich wollte er Arzt werden. Dann erlebte er, wie die Russen 1987 ein Dorf bombardierten. Er machte Fotos. Auf einem Bild wurde eine Mutter tot aus dem Schutt ihres Hauses geborgen, mit ihr die Leichen ihrer drei Kinder. Das Foto habe sein Leben verändert. Er schrieb einen Artikel, bekam das Stipendium einer Universität in Boston und wurde Politiker.

»Wussten Sie«, fragt er, »dass uns Afghanen früher der Potsdamer Platz gehörte, ein Stück jedenfalls? Dort, wo heute das Sony Center steht.« Doch selbstsüchtige Menschen hätten das Areal nach dem Mauerfall verkauft, und so blieb der legitimen Vertretung Afghanistans nur ein Stückchen gepachteter Plattenbau in der Wilhelmstraße. Gut 100 Meter vom Brandenburger Tor entfernt, aber noch tief in der DDR, was das Mobiliar betrifft. »Wir sind ein armes Land und leben wie unser Volk. Für das Wenige, was wir brauchen, kommt die Regierung auf und die Afghanen hier in Deutschland«, sagt Jayhoon. Ein Dienst-Mercedes für alle und Stundenlöhne, wie sie niemand haben möchte. Der VEB-Feuerlöscher ist vor zehn Jahren zum letzten Mal gewartet worden.

»Es gibt, ehrlich gesagt, nicht viel zu tun«, sagt der Botschafter. Kein Kulturaustausch, kein Wirtschaftsaustausch. Die diplomatischen Beziehungen zur Bundesrepublik seien bedauerlicherweise eine Einbahnstraße. Berlin hat keine Vertretung in Afghanistan, auch nicht im Hindukusch bei »Professor Rabbani«, da, wo die grünen und die roten Flecken sind.

Und der Heilige Krieg? »Ach«, sagt Herr Amanullah Jayhoon, Botschafter des Islamischen Staates Afghanistan, und ist mit den Gedanken ganz woanders.

ALEXANDER SMOLTCZYK

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