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STERBEN Das elende Warten auf Tag X

Vor knapp 30 Jahren wurde die Ärztin Elisabeth Kübler-Ross durch ihre »Interviews mit Sterbenden« weltberühmt. Jetzt sieht sie ihrem eigenen Tod entgegen. Von Marianne Wellershoff
aus DER SPIEGEL 39/1997

Es ist unerträglich heiß hier draußen in der Wüste von Arizona. Alles ist ausgetrocknet und verblichen, die verkrüppelten Büsche, die Dornensträucher, das alte Holz der Zäune. Trotzig ragen ein paar grün-braune Kakteen dem weißen Sonnenlicht entgegen. Am Ende der Sandpiste steht das hellbraune Pueblo-Haus von Elisabeth Kübler-Ross, wie eine Festung auf dem weißen Wüstensand.

Hinter der Haustür streckt sich ein großer Raum. Es ist dunkel und ganz still. Hinten steht ein Krankenhausbett, daneben eine transportable Toilette, dann kommt ein mit Büchern und Papieren überladener Nachttisch. Dahinter liegt auf einem Samtsessel eine kleine Gestalt: Magere Beine ragen aus einem rot-weißen Baumwolltuch heraus und ruhen auf einem herausgeklappten Fußteil; die grauen Haare sind strähnig, das Gesicht ist hinter

einer riesigen Brille versteckt. Die dicken Gläser lassen die Augen aufgerissen und verschreckt wirken.

Auf diesem Sessel wartet die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross, 71, seit zweieinhalb Jahren auf ihren eigenen Tod. Sie hat mehrere Schlaganfälle gehabt, und irgendwann wird noch einer kommen, der weitere Teile des Gehirngewebes von der Sauerstoff- und Zuckerzufuhr abschneidet. Der Tod wird eintreten durch Atemstillstand oder Herzversagen. Diesen Tag, sagt Kübler-Ross, könne sie kaum erwarten.

»Nachdem ich so viele sterbende Patienten beraten habe, ist es vermutlich angemessen, daß ich Zeit bekomme, um nun, wo ich meinem eigenen Tod gegenüberstehe, über den Tod nachzudenken«, schreibt sie in ihrer gerade erschienenen Autobiographie**. Die Todesexpertin, die Ende der sechziger Jahre mit dem Buch »Interviews mit Sterbenden« weltberühmt wurde und Ratgeber wie »Reif werden zum Tode« schrieb, muß nun die schwierigste Aufgabe bewältigen: würdig, gelassen und reif, als Vorbild für alle zu sterben.

»Mein Tod wird für mich wie eine herzliche Umarmung sein«, erklärt sie in ihrem, wie sie versichert, letzten Buch, sie werde »frei wie ein schöner Schmetterling« sein. Das ist Kitsch, und vielleicht ist er Resultat jahrelanger Angstabwehr einer Ärztin, deren Patienten alle starben. Doch diese süßliche Oberfläche hat mit der Wahrheit nichts zu tun. Die ist finster und ausweglos: Elisabeth Kübler-Ross stirbt von Schlaganfall zu Schlaganfall einen langgezogenen, elenden Tod; ihr Sterben ist ein langer Prozeß der körperlichen und seelischen Demontage. Nichts daran ist schön.

Ein solches Ende hatte Frau Kübler-Ross nicht für sich vorgesehen. »Wir sollen leben, bis wir sterben«, verkündet sie in der Autobiographie. Oder: »Keiner stirbt allein.« Oder: »Jeder wird in unbegreiflichem Maße geliebt.« Ihr eigenes Ende entlarvt das als Verklärung: Ihr Leben, für das sie nur noch das Wort »Zustand« benutzt, besteht aus einer Kette von öden, gleichförmigen Tagen. Sie ist einsam. Und sie hat das Gefühl, nie wirklich geliebt worden zu sein.

Erschöpft liegt sie auf dem Klappsessel, häufig zu schwach, um noch ein Buch zu halten. Das sei »weder leben noch sterben«, sagt sie (siehe Interview Seite 149). Sie starrt aus dem Fenster, wo Vögel um ein Futterhaus schwirren, oder auf eine Wand mit Fotos vom Grand Canyon und ihres verstorbenen Mannes, dem Neuropathologen Emanuel Ross, oder sie sieht fern. Ab und zu liest sie einen Brief aus der Menge von Papieren, die auf Gartenstühlen und Tischen um sie herum aufgestapelt sind. Manchmal telefoniert sie mit Freunden. Sie haßt sich, und sie haßt den Prozeß der allmählichen Zerstörung. Depression und Erschöpfung haben ihre Stimme gebrochen; sie spricht schleppend und klagend.

Vor ihr auf einem flachen Wohnzimmertisch breitet sich ein Blumenmeer aus - Freunde und Fans haben die Sträuße geschickt. Dort steht auch ein zarter Strauch, auf dem schwarze Larven kriechen. Bekannte haben ihn von Florida nach Arizona gefahren, damit Kübler-Ross Tag für Tag beobachten kann, wie die Larven wachsen, sich verpuppen und zu Schmetterlingen werden: »Das Haus wird voll von ihnen sein.« Wenn ihr Sohn Kenneth versehentlich gegen den Strauch stößt, schreit sie: »Don''t touch it!« Sie hat Angst, daß eine Larve herunterfallen und sterben könnte, bevor sie zum Schmetterling wird. Das wäre ein sinnloser und grausamer Tod.

Kübler-Ross schwärmt in ihrer Autobiographie vom Nirvana: Das sei ein Ort, »an dem wir weiter wachsen und singen und tanzen, an dem wir mit unseren Lieben zusammen sind und von mehr Liebe umgeben werden, als wir uns vorstellen können«. Sie hat viel gesprochen davon in den letzten 20 Jahren, daß es den Tod gar nicht gebe - was noch mit christlichen Vorstellungen vereinbar ist. Sie hat aber auch beschrieben, wie sie einem toten Indianer begegnet sei und wie sie mit ihren zwei guten Geistern namens Salem und Pedro spricht. In den Augen von Wissenschaftlern hat sie mit dem Wechsel in die Esoterik alle Seriosität verspielt, die sie als Sterbebegleiterin gewonnen hatte. »Das ist mir völlig gleichgültig«, sagt sie , »das sind Ignoranten.«

1969 waren die Gespräche mit Sterbenden erschienen, die sie am Chicagoer Billings Hospital geführt hatte. Sie teilte das Sterben in fünf Phasen ein: Nicht-Wahrhaben-Wollen und Isolation, Zorn, Verhandeln, Depression, Zustimmung. Das Buch war eine Sensation und ein Bestseller, es gehört zum Lehrmaterial an Universitäten in aller Welt und führte dazu, daß Hospize entstanden, in denen todkranke Menschen auf ihr Ende vorbereitet wurden. Die schüchterne Schweizer Psychiaterin war zum Star und zur Institution geworden.

Es war 1970, als sie, wie sie in der Autobiographie beschreibt, die verstorbene Frau Schwartz im Aufzug der Klinik getroffen habe und diese sie aufforderte, die »Arbeit über den Tod und das Sterben nicht aufzugeben«. Seitdem hat Kübler-Ross als eine Art Tod-und-Sterben-Guru in Hunderten von Seminaren auf der ganzen Welt die frohe Botschaft vom glücklichen Sterben und dem noch glücklicheren Leben danach verkündet.

Sie hat sich auch Feinde gemacht mit ihrer offensiven Mitmenschlichkeit. Mitte der achtziger Jahre verkündete Kübler-Ross, auf ihrer großen Farm in Virginia als eine Art Übermutter HIV-infizierten Babys ein letztes Zuhause geben zu wollen. Die Nachbarn aus dem Highland County waren entsetzt. Sie hatten eine tiefe Angst, weit entfernt von Vernunft und Wissenschaft, sich bei den Kindern mit Aids zu infizieren. Obwohl Frau Kübler-Ross das Vorhaben schließlich aufgab, blieb der Haß: Im Oktober 1994 brannten Unbekannte das Anwesen nieder. Alle ihre Aufzeichnungen, alle Vergangenheit und alle Pläne von der glücklichen Zukunft auf dem Lande wurden vernichtet. Kurz danach kam der schwerste ihrer Schlaganfälle.

Glück ist keine Kategorie, die auf ihr eigenes Sterben anwendbar wäre. Sie hat auch niemanden, der ihr den Weg in den Tod erleichtert, weil sie nach Jahren des Bejubeltwerdens zu dem Schluß gekommen ist, daß sich fast niemand auf dem gleichen Level wie sie selbst bewege. Die Einsamkeit ist ihr Beweis für ihre Grandiosität.

»In unserem Unterbewußtsein können wir den eigenen Tod nicht begreifen, sondern halten uns für unsterblich«, hat Elisabeth Kübler-Ross in ihrem ersten Buch geschrieben. Sie hat die Wahrheit gesagt.

* »Der Triumph des Todes« von Otto Dix (1934).

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