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BILDUNG Das Irrenhaus von Friedrichshagen

Eine anthroposophische Schule in Berlin sollte die Antwort auf das staatliche Bildungssystem und seine Krise sein. Doch seit Jahren führen hier Eltern und Lehrer eine bizarre Schlacht um freiheitliche Erziehung und ihre Grenzen. Von Alexander Osang
aus DER SPIEGEL 26/2007

Seine Jünger sagen, Tilman Wacker sei einst ein Engel erschienen, um ihm zu verkünden, dass er die Reinkarnation von Rudolf Steiner sei; seine Feinde behaupten, er sei ursprünglich Autotester für eine Motorsportzeitschrift gewesen. Wenn man Wacker eine Weile zuhört, glaubt man beides. Er könnte ein Testfahrer sein, dem einmal ein Anthroposophenengel erschienen ist. Tilman Wacker ist ein kleiner, älterer Herr mit vorspringender Nase, gurgelndem süddeutschen Akzent, dichten Augenbrauen und etwas zu langen weißen Haaren. Er sitzt in seinem Friedrichshagener Arbeitszimmer vor einem Bücherregal, das mit den Werken Rudolf Steiners zugestellt ist, es riecht nach Gemüseeintopf, und manchmal rumpelt es in Wackers Bauch. Er redet leise von Disziplin, Erkenntnis, natürlicher Autorität, Zahnwechsel und Geschlechtsreife, wie ein Lehrer aus der »Feuerzangenbowle«.

Ein Studium hat Tilman Wacker nicht abgeschlossen, aber es heißt, er könne eine Amsel, die am Fenster vorbeifliegt, rhetorisch in 20 Minuten mit dem gesamten Weltenlauf verknüpfen. Er soll fernerotische Wirkung auf Mütter haben und selbst die schwierigsten Kinder beruhigen können. Einmal, so heißt es, habe er dem Lehrerkollegium seiner Schule erklärt, warum farbige Schüler anders erzogen werden müssen als Weiße. Er soll wundervolle Tafelbilder zeichnen können und ist überzeugt davon, dass Kinder ihre Teller leer essen, im Winter Mützen tragen und am Morgen eine Stunde lang durch gymnastische Übungen durchblutet werden müssen.

Man kann nur ahnen, wie es um das Berliner Schulsystem bestellt ist, wenn jemand mit diesen Eigenschaften zur Lichtgestalt von Eltern und Lehrern wurde. Im sorgenvollen Gemurmel um Pisa-Studien, Rütli-Schule, Autoritätsdebatten, Rechtsradikalismus, Gewalt und Flatrate-Trinken wirkt Wacker, der neben einem ausgestopften Fuchs auf einer Patchwork-Decke sitzt, manchmal wirklich erstaunlich überzeugend.

Tilman Wacker ist 67 Jahre alt und kam Anfang der neunziger Jahre als Missionar nach Berlin-Köpenick. Er hatte an verschiedenen Rudolf-Steiner-Schulen in der Schweiz gearbeitet, weil er sich in den siebziger Jahren mit dem Bund der Freien Waldorfschulen Deutschlands überworfen hatte.

Wacker betrachtete die deutschen Waldorffunktionäre als unbewegliche Vereinsmeier, die Steiner falsch verstanden, der Bund der Waldorfschulen sah in Wacker eine dogmatische Nervensäge. Für den Osten aber schien er selbst den Waldorffunktionären der richtige Mann zu sein. Es gab eine Menge Eltern, die kein Vertrauen zu den alten staatlichen Ostschulen hatten, aber auch keins zu den neuen freien, die ihnen entweder zu kirchlich oder zu abgehoben schienen.

Mit diesen Eltern gründete Wacker 1993 die Waldorfschule Südost in einer ehemaligen Fabrik an der Spree. Die Schule entwickelte sich gut, aber Wacker wollte das Werksgelände in eine Art anthroposophische Schulinsel mit Bootshafen verwandeln. Er bekam Finanzierungsprobleme und wurde aus der Schule gedrängt.

Mit ein paar getreuen Eltern zog Wacker noch weiter in den Osten, nach Berlin-Friedrichshagen, wo im Jahr 2000 die Novalis-Schule gegründet wurde.

Friedrichshagen passte gut zu Wackers Plänen, denn dort hatte sein Idol Rudolf Steiner um die Jahrhundertwende mit einem stadtbekannten Dichterkreis um Wilhelm Bölsche und Peter Hille zusammengehockt. Wacker kam gewissermaßen nach Hause. Die Novalis-Schule bezog eine leerstehende Gießerei, in der einst der Engel für die Berliner Siegessäule und auch das Reiterstandbild des Alten Fritz gefertigt wurden. Auch das gefiel Wacker, der ja Großes vorhatte.

Fünf Jahre lang arbeitete die Novalis-Schule ohne jegliche staatliche Unterstützung, erst danach begann der Senat, die freie Einrichtung mit monatlich bis zu 80 000 Euro zu unterstützen. Wacker fand Lehrer, die für wenig Geld arbeiteten, und Eltern, die die Fabrik in ihrer Freizeit zu einer hellen, freundlich aussehenden Schule ausbauten. Sie verschrieben sich seiner Idee, die Wacker in einem halbstündigen Vortrag mit vielen Substantiven erklären kann, der schwer zu verstehen ist, aber plausibel klingt. Wacker sagt, ihm gehe es um die »Erziehung zur Freiheitsfähigkeit«, den »völlig freien Erkenntnisgewinn zwischen Lehrern und Schülern«, er wolle »aus Menschenkenntnis Schule gestalten«. Was er meint, ist: Die Eltern und die Waldorfpädagogen sollen ihn mit ihren Rezepten und Ratschlägen in Ruhe lassen.

Er will eine Wackerwelt, keine Waldorfwelt.

Das habe wunderbar funktioniert, sagen Eltern, die ihn bewundern. Ihre Kinder hätten sich an der Novalis-Schule zu schöpferischen, glücklichen Menschen entwickelt. Seine Kritiker sagen, er habe die Schule in eine Sekte verwandelt, in der nur er als Guru entschieden habe, was richtig und was falsch sei.

Wackers Kritiker setzten sich schließlich durch. Ende vorigen Jahres tauschte der Elternvorstand den alten Geschäftsführer durch den ehemaligen Bankangestellten Peter Schneider aus, den sie über die Internet-Agentur Anthrojob in Süddeutschland aufgetrieben hatten, sie erteilten Tilman Wacker Hausverbot und bestellten einen anthroposophischen Mediator, der zwischen Lehrern und Eltern vermitteln sollte. Nach drei Sitzungen gab der Mediator auf, vielleicht, weil er auch nicht genau wusste, worum es eigentlich ging.

Anfang März entließ der Elternvorstand die gesamte Lehrerschaft und schloss die Schule vorübergehend. Die Lehrer konnten sich einzeln neu bewerben. Aber die Pädagogen beharrten auf ihren alten Arbeitsverträgen und auch auf Tilman Wacker, ihrem Mentor. Sie treffen sich einmal wöchentlich zu einer Exillehrerkonferenz in der Wohnung des ehemaligen Schulleiters. Zusammen mit dem neuen Geschäftsführer organisierte der Elternverein ein neues Kollegium und öffnete die Schule nach zehn Tagen wieder. Sie haben erst mal das Novalis aus dem Namen der Schule gestrichen.

Der neue Geschäftsführer Peter Schneider sagt, die zuständige Senatsmitarbeiterin habe ihnen zu diesem rigorosen Schnitt gratuliert. Das überrascht.

Die Schüler laufen jetzt jeden Morgen durch ein Spalier aus Ex-Lehrern, die ihre »Lehrbereitschaft demonstrieren«, um dann am Tor von einem neuen Lehrer mit Handschlag begrüßt zu werden. Von drinnen, aus dem Lehrerzimmer, schauen Mitglieder des Elternvorstands hinter den Gardinen zu. Manchmal wird ein Rasensprenger eingeschaltet, um die alten Lehrer vom Bürgersteig zu vertreiben. Ein paar der alten Kräfte unterrichteten Kinder in ihren Wohnungen.

Einmal ist eine alte Unterstufenlehrerin aufs Gelände vorgedrungen und hat versucht, mit einigen ihrer ehemaligen Schüler Unterricht durchzuführen. Peter Schneider, der neue Geschäftsführer, sagt, die Lehrerin habe ihm Schläge angedroht, als er sie der Schule verwies. Er habe gehofft, dass sie zuschlage, damit er endlich etwas Justitiables in der Hand habe. Sie habe es

dann aber doch bei der Drohung belassen. Leider, sagt Schneider.

Peter Schneider sitzt in seinem orangegestrichenen Chefzimmer und überlegt, welchen Namen die Schule bekommen könnte.

»Was halten Sie von Morgenstern?«, fragt er.

Wie der Dichter?

»Nein, wie der Stern am Morgen. Hoffnung, Neuanfang und so weiter«, sagt Schneider, schreibt den Namen auf ein weißes Blatt Papier und schaut es an. Draußen geht gerade wieder der Sprenger an und macht den ehemaligen Russischlehrer Kühl, den ehemaligen Werklehrer Alex und die ehemalige Unterstufenlehrerin Poletti nass. Schneider kichert. Dann kommt Frau Jaeche ins Zimmer, um einen Stundenplan zu kopieren. Sie trägt bunte Wollzöpfe in den Haaren und ist Mitglied des Elternvorstands, der jetzt die Schule regiert. Sie hat eine Tochter an der Schule, war früher mal Eisenbahningenieurin und dann arbeitslos. Sie ist einst aus einem Bauchgefühl an die Schule gekommen, weil sie den Staatsschulen misstraute. Jetzt leitet sie hier zusammen mit einer arbeitslosen Heilpraktikerin und einer ehemaligen Kellnerin die Schule, was natürlich ziemlich ungewohnt für sie ist.

»Oder wir nennen sie Hardenberg-Schule«, sagt Schneider.

»Was?«, fragt Frau Jaeche.

»So hieß doch der Novalis mit richtigem Namen«, sagt Schneider.

»Echt?«, fragt Frau Jaeche.

»Ich glaub, ja«, sagt Schneider. Frau Jaeche zuckt mit den Schultern und sieht aus dem Fenster, wo zwei Mädchen vorsichtig über den Schulhof tippeln wie über dünnes Eis. Die Mädchen tragen lange Kleider und Kopftücher, sie sehen aus, als seien sie aus einer anderen Zeit angereist.

Peter Schneider nimmt ein neues Blatt und schreibt den Namen Hardenberg drauf. Nach einer Weile sagt er: »Auf jeden Fall möchten wir jetzt eine richtige Waldorfschule werden. Das ist der Weg.«

Er rollt seinen Stuhl an den Computer und klickt die Internet-Seite mit den berühmten Waldorfschülern an, auf die er gern geht, wenn er mal nicht weiterweiß. »Sarah Wiener, Jennifer Aniston, Christian Quadflieg, Michael Ende«, ruft Peter Schneider. »Sandra Bullock und, na ja, gut, ein Sohn von Beate Uhse«.

Er lehnt sich in seinem Bürostuhl zurück und lächelt wie ein Kind. Er selbst war auch Waldorfschüler, in Mannheim, Helmut Kohls Sohn Peter war in seiner Schule und ein behindertes Mädchen, die Anke. So viele verschiedene Leute, so interessante Karrieren. Er selbst lernte damals Schlagzeug, machte dann aber doch eine Banklehre.

Schneider zog Anfang des Jahres nach Friedrichshagen. Er mag es, er spürt den Geist von Steiner immer noch, sagt er, und er findet auch seinen orangefarbenen Raum schön. Orange ist seine Lieblingsfarbe, weil er als Kind mal einen orangefarbenen Spielzeugsportwagen hatte, sagt er. Es gefällt ihm auch, dass die Schwierigkeiten, in denen die Novalis-Schule steckte, mit Tilman Wacker zu tun hatten, mit dem sich schon Schneiders Vater herumschlug, als der in den siebziger Jahren die Mannheimer Waldorfschule gründete. Schneider sagt, er habe in einem Kalender seines verstorbenen Vaters den Namen Wacker gefunden, hinter dem mit rotem Stift ein »Nein« stand. Und schließlich war Peter Schneider altersmäßig bereit für einen Neuanfang. Er ist 40 Jahre alt.

»Ich befinde mich im 41. Lebensjahr«, sagt er, weil ihn das näher an die 42 heranbringt. Mit 42, so hat Rudolf Steiner, der das menschliche Leben in Siebenjahresschritten misst, festgestellt, bietet sich noch einmal die Möglichkeit für einen Neuanfang.

Das ist gelungen, kann man sagen.

Seit Schneider hier ist, hat die kleine Schule am Berliner Stadtrand nicht nur ihren Mentor Tilman Wacker abgeworfen, die gesamte Lehrerschaft ausgetauscht, ihren Namen und ihren Vorstand gewechselt - sie hat auch etwa die Hälfte ihrer Schüler verloren. Der Berliner Senat hält zwar erst mal die Füße still, möchte aber jetzt wöchentlich die aktuelle Schülerzahl gemeldet haben. 118 waren es in dieser Woche, sagt Schneider, die beiden Mädchen auf dem Hof zählen dazu, obwohl sie seit über sechs Wochen nicht mehr am Unterricht teilnehmen.

Sie laufen draußen durchs sommerlich warme Friedrichshagen zurück zu ihrer Wohnung, wo ihre Eltern gerade die Sachen packen, um nach Greifswald aufzubrechen, in die Zukunft.

Ihre Eltern, Barbara Otto und Thoralf Wendt, wuchsen in Ostdeutschland auf, wie die meisten Eltern, die ihre Kinder an die Novalis-Schule schickten. Beide hatten keine besonders guten Erinnerungen an ihre Schulzeit in der DDR, und so suchten sie nach einer Alternative. Es sollte keine konfessionell geprägte Schule sein, und sie sollte nicht im Westen liegen, weil Wendt nach einem zweijährigen ABM-Abenteuer in Baden-Württemberg »die Schnauze vom Westen jestrichen voll« hatte. Es blieben nicht viele Möglichkeiten, sie waren froh, als sie die Novalis-Schule fanden. Gleich zu Beginn lernten sie Tilman Wacker kennen, der sich als Mentor der Lehrer vorstellte. Wacker erklärte ihnen seine Idee einer völlig freien Schule, in der Lehrer und Schüler zusammen um Erkenntnisse ringen. Sie waren begeistert von der Idee und auch von dem Mann, der einerseits weich war, andererseits Autorität ausstrahlte. So wie Wacker sollte die Schule ihrer Kinder sein.

»Ick hatte ja verschiednet ausprobiert. Ick hab mich lange mit Alchemie beschäftigt, ick hab im Neuen Forum mitjemacht, dit Hanfmuseum jegründet und ooch ma zwei Jahre lang eenen Bioladen in der

Großbeerenstraße betrieben«, sagt Wendt. »Aber hier lief irgendwie allet zusammen.«

Sie zogen von Lichtenberg an den Berliner Stadtrand, wo erst ihre Tochter Sophie und dann auch die zwei Jahre jüngere Lara eingeschult wurden.

Wer nicht in der Lage war, Schulgeld zu bezahlen, half mit, das alte Gebäude der ehemaligen Gießerei herzurichten, eine Option, die Wacker allen Eltern einräumte. Wendt, der als Elektriker und Veranstaltungstechniker gearbeitet hatte, verlegte elektrische Leitungen und baute in einer Fabrikhalle eine große Bühne für die Theateraufführungen, mit Lichtanlage. Seine Frau, eine studierte Gewandmeisterin, entwarf und schneiderte Kostüme und unterrichtete Handarbeit, alles unentgeltlich. Es waren anstrengende, aber glückliche Jahre, sagt Wendt. Die Probleme begannen seiner Erinnerung nach erst im Jahr 2005, als der Senat die Schule subventionierte.

»Geld«, so sagt Thoralf Wendt, »iss ein Werk des Teufels.«

Wahr ist wohl, dass die Eltern, die beim Ausbau der Schule mithalfen, durch die öffentlichen Zuwendungen das Gefühl bekamen, auch inhaltlich mitreden zu können. Die Lehrer wiederum sahen dadurch ihre Autonomie bedroht. Sie wollten die Eltern nicht am Unterricht hospitieren lassen und weigerten sich, darüber Auskunft zu geben, wie die Senatsgelder unter ihnen aufgeteilt wurden.

Jeder stritt sich mit jedem. Wenn man sich umhört, erfährt man, dass einer der alten Lehrer mal einen Schüler auf den Stuhl gestellt haben soll, weil er glaubte, der sei vom Teufel besessen. Ein anderer habe eine Schülerin in den Hintern getreten. Einer der Wacker-Gegner soll drogensüchtig sein, ein anderer suche auf der Internet-Seite www.poppen.de unter Angabe seiner Penislänge nach Swingerbekanntschaften mit Vorliebe für Ledergeruch. Die Hälfte der Schüler leide unter Aufmerksamkeitsstörungen, nicht wenige stünden unter Psychopharmaka. Ein Schüler habe mal eine selbstgeschossene und -gebratene Taube als Pausenbrot mit zur Schule gebracht, weil seine Eltern ihm nichts zu essen machten.

Thoralf Wendt und seine Frau haben ihre Töchter nicht wieder in die Schule zurückkehren lassen. Manchmal wurden sie von einer entlassenen Lehrerin zu Hause unterrichtet, aber weil das keine Dauerlösung war, hat sich Wendt bei anderen Waldorfschulen umgehört. Die meisten waren jetzt, mitten im Schuljahr, vollbelegt, nur in Greifswald ergab sich eine Chance. Sie haben noch keine Wohnung dort, können aber erst mal im Haus eines ehemaligen Waldorfschülers in der Nähe von Greifswald unterkommen. Die beiden Kaninchen und die Katze will Wendt später nachholen. Im Moment kann nur mit, was neben der Familie in den alten Opel Corsa passt.

Der Aufbruch wirkt kopflos, aber Thoralf Wendt hat nachgerechnet. Er ist 42, seine Frau ebenfalls. Nach Steiner ein perfekter Zeitpunkt für einen Neuanfang. Wendt nimmt ein paar T-Shirts von der Wäscheleine und stopft sie in eine Reisetasche, dabei schwärmt er von den pädagogischen Fähigkeiten Tilman Wackers und versucht die drei Grundpfeiler der Steinerschen Lehre zusammenzubekommen, findet aber nur zwei.

Hat er denn jemals etwas von Rudolf Steiner gelesen?

»Ick hab verschiedene Versuche untanommen«, sagt Wendt. Er steht auf dem kleinen Hof, breitschultrig, die Arme abgewinkelt, bereit, irgendwo zuzupacken, wenn er nur wüsste, wo. Seine Eltern waren Wissenschaftler, Karrieristen, wie er sagt, sie schoben ihn zu seiner Großmutter ab, später zu einer Stiefmutter. »Ick konnte mit acht lesen und schreiben, aber ick hatte trotzdem 'ne beschissene Kindheit«, sagt Wendt. Das will er seinen Töchtern ersparen. Wie die anderen Eltern der Schule hat auch er nur etwas Gutes gewollt.

Er und seine Frau sind Hartz-IV-Empfänger, sie haben so viel in der Schule gearbeitet, bis sie dachten, sie gehöre irgendwie auch ihnen. Ein Lehrer, der die Schule vor Jahren verlassen hat, sagt, viele der ostdeutschen Eltern hätten in der Novalis-Schule eine Art seelische Ersatzheimat gefunden.

Vielleicht ist es kein Wunder, dass ausgerechnet ein nichtgläubiger Ost-Berliner Vater Wackers Welt zerschlug. Er heißt Martin Schneider und arbeitet als Schichtingenieur in einem Vattenfall-Kraftwerk. Schneider hat seine drei Töchter nur auf eine anthroposophische Schule geschickt, weil seine »Frau in der Schwangerschaft so 'n Tick bekam« und er keinen Ehekrach wollte.

»Ick hab mit Anthroposophie nüscht am Hut«, sagt Schneider. »Ick brauch keene Lebenshilfe. Ick komm so klar.«

Martin Schneider ist ein kleiner, untersetzter Mann mit einem ausrasierten, pechschwarzen Schnurrbart und schläfrigem Blick. Er kennt Wacker schon seit seiner Zeit in der Treptower Waldorfschule Südost. Als Wacker für sein Großprojekt Geld unter den Eltern sammelte, borgte ihm Schneider 10 000 Mark und folgte Wacker auch an die Novalis-Schule nach Friedrichshagen. Aber irgendwann, etwa zu der Zeit, als der Senat anfing, die Schule zu fördern, begann sich Schneider von Wacker zu entfernen. Wacker sagt, Schneider sei eifersüchtig auf ihn gewesen, weil seine drei Töchter lieber in die Schule gingen als nach Hause. Schneider sagt, er wollte wissen, was mit dem staatlichen Geld passierte, wie es unter den Lehrern verteilt wurde. Wacker gab ihm keine Auskunft, weil er der Meinung ist, »dass sich Eltern aus schulischen

Dingen herauszuhalten haben«. Wie Rudolf Steiner betrachtet Wacker den Lehrer als Künstler. Der Ingenieur Martin Schneider ist für ihn »ein Schlosser oder so was, der Schalter drückt, wenn ein Lichtlein blinkt«.

»Ein Arzt fragt seinen Patienten ja auch nicht um Rat«, sagte Wacker.

Das sah Martin Schneider anders. Er wollte Tilman Wacker aus Friedrichshagen austreiben wie den Teufel. Er brachte zunächst seine drei Töchter in Sicherheit. Im vorigen Sommer nahm er sie von der Novalis-Schule, dann zerschlug er das System Wacker. Auf einer Elternversammlung organisierte sich Schneider eine Mehrheit im Elternvorstand und vertrieb damit Wacker und seine Jünger.

Martin Schneider will sich jetzt aus dem Elternvorstand zurückziehen. Er hat hier nichts mehr zu tun. Die Schule ist bei seinem Exorzismus ja leider praktisch mitgestorben. In einer Fragestunde des Berliner Abgeordnetenhauses gab es ein paar Informationen zur Zukunft der Schule, die nicht besonders hoffnungsvoll klingen. Der Staat wartet noch das Schuljahr ab, um zu entscheiden, ob sich eine weitere Subventionierung lohnt. Eine Lizenz für die Oberstufe gibt es jetzt schon nicht mehr. Die wenigen verbliebenen Schüler der zehnten und elften Klasse wurden zusammengelegt, die fünfte und zwölfte Klasse wurden wegen Schülermangels aufgelöst, für das neue Schuljahr gibt es sieben unverbindliche Anmeldungen, darunter ist der Sohn des neuen Geschäftsführers. Die ehemaligen Lehrer wollen gezählt haben, dass nur noch 57 Schüler regelmäßig zum Unterricht erscheinen. Der Bund der Freien Waldorfschulen hat sich vom Projekt in Friedrichshagen öffentlich distanziert. Ein Hellersdorfer SPD-Politiker namens Huhn würde die Trümmer der Novalis-Schule gern in seinen Wahlkreis holen, um damit eine neue Waldorfschule zu gründen.

Auch Tilman Wacker hat mit Friedrichshagen abgeschlossen. Er schimpft auf den Ortsteil mit seiner versoffenen Boheme, die evangelische Kirche, die in jeder unabhängigen Gruppierung gleich eine Sekte sehe, auf den Bund der Freien Waldorfschulen, das Berliner Schulgesetz mit seinem einengenden Regelwerk, auf Deutschland und immer wieder auf die Eltern, die nicht bereit waren für seine Idee einer völlig freien Erkenntnissuche.

»Am Anfang kannten die Ostleute hier Waldorf gar nicht, die wollten einfach etwas Neues«, sagt Wacker. »Aber wahrscheinlich fehlt ihnen das Bewusstsein und die Phantasie.«

Vielleicht geht er mit seiner Lebensgefährtin nach Italien, vielleicht mit seinem entlassenen Lehrerkollegium nach Schöneiche, einem Vorort von Berlin. Sie haben ein paar brandenburgische Kleinstädte sondiert und in Schöneiche ein verlassenes Hortgebäude gefunden, in dem sie eine neue Novalis-Schule gründen könnten. Bedarf an freien Schulen gibt es in Ostdeutschland überall. Die meisten haben lange Anmeldelisten. Der Osten bleibt ein weites, unbeackertes Feld für die reine anthroposophische Lehre, und auch Rudolf Steiner hatte es oft nicht leicht.

Bei Einbruch der Dunkelheit trifft Thoralf Wendt mit seiner kleinen Familie in einem Dorf vor den Toren Greifswalds ein, um ihr neues Leben zu beginnen. Sie parken den Opel Corsa in der Einfahrt eines großen Gutshauses, in dessen Tür kurz darauf ein hochgewachsener Mann in einem buntgemusterten Wollpullover erscheint. Das ist Ekkehard Schutsch, ihr Gastgeber.

»Habt ihr Hausschuhe dabei?«, fragt Schutsch.

Ein paar Minuten später sitzen Wendt, seine Frau und seine beiden Töchter in der großen, aufgeräumten Küche der sechsköpfigen Familie und trinken Tee. Auri Schutsch stillt ihr jüngstes Kind. Wendt ist müde, auf der langen Fahrt in dem kleinen Auto ist ihm ein Bein eingeschlafen, aber Schutsch hält eine kurze und trotzdem sehr grundsätzliche Begrüßungsrede für seine vertriebenen Gäste. Im Wesentlichen kann man sie so zusammenfassen: Die deutsche Gesellschaft steht in Flammen, weil sie sich nicht um ihre Kinder kümmert.

Schutsch hat vor ein paar Wochen einen Brief an die Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen aufgesetzt, in dem er ihr Kinderkrippenkonzept kritisiert und die Schulpflicht an sich in Frage stellt. Jeder Bürger solle das Recht haben, seine Kinder so zu erziehen, wie er es für richtig hält. Seine Augen leuchten, als sei auch ihm einst ein anthroposophischer Engel erschienen.

Ekkehard Schutsch hat eine West-Berliner Walddorfschule durchlaufen, Maschinenbau studiert und irgendwann seine Karriere abgebrochen, um ein neues Leben zu beginnen. Er kennt Tilman Wacker aus Berlin und bewundert ihn. Vielleicht eifert er ihm sogar nach. Zunächst versuchte Schutsch, in einer alten Fabrik im Harz eine anthroposophische Schule zu eröffnen, jetzt hat er sich mit seiner Frau und den vier Kindern hierher nach Mecklenburg-Vorpommern zurückgezogen, um etwas Neues auszuprobieren. Vielleicht hat es mit ökologischem Landbau zu tun, damit hat sich ja Rudolf Steiner auch beschäftigt, sagt er. Es gibt wenig, womit sich Steiner nicht beschäftigt hat, aber das trifft ja auch auf Kim Jong Il zu. Irgendwann kraucht Thoralf Wendt mit vollem Kopf ins Bett. Es geht immer weiter.

Am nächsten Morgen steht er im riesigen Garten des Guts und raucht eine Zigarette.

»Eigentlich wollt ick ja erst ma keen neuet Projekt anfangen hier. Aber ick spüre schon wieder, wie ick rinrutsche«, sagt er, schnippt die Kippe weg und mustert eine alte, verwitterte Feldsteinscheune.

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