ERNÄHRUNG Das jüngste Gericht
Man nehme also frische Möhren und schicke sie durch diese Maschine. Gegart und geknetet treten sie danach aus einer Düse hervor, zu Küchlein geformt, und keiner merkt mehr, was es ist.
Ein interessantes Projekt.
Das Problem, sagt Frau Palberg, sie sagt es so, als sei es kein sehr großes, »das Problem ist die Sensorik der Endprodukte«. Zwei Dutzend Seminarteilnehmer nicken verständig, ein Problem, aber kein sehr großes, das Zeug fühlt sich nicht an wie Möhren. Außerdem, und das ist das zweite Problem, schmeckt es auch nicht wie Möhren. Die Maschine arbeitet unter hohen Temperaturen, sie hat jeden Geschmack gekillt. Aber nachher wird ein Vertreter der Aromafabrik »Symrise« sprechen. Der hat eine Lösung für das zweite, das wichtigere Problem.
Man wird es künstlich aromatisieren können und dann damit werben, dass das Küchlein aus Möhre besteht. Und Möhre ist ja im Prinzip gesund.
Es spricht Sabine Palberg aus Neumünster, Diplomingenieurin für Lebensmitteltechnologie, vor Fachpublikum auf der
»Anuga FoodTec«, sie spricht über neue Lebensmittel und diese Maschine, Extruder heißt sie, vieles ist möglich mit der Extruder-Technik, die man lange schon aus der Tierfutterherstellung kennt. Gemüse lässt sich verarbeiten oder auch billiges Separatorenfleisch, das sind die Schlachtabfälle, die noch an den Knochen haften, nachdem das brauchbare Fleisch entfernt worden ist. Treibt man sie durch den Extruder, dann falten sich die Proteine auf und strecken sich, und das Produkt nimmt eine neue Textur an, wie Brühwurst oder wie herkömmliches Fleisch. »Wir haben Fertiggerichte produziert«, sagt die Referentin und verweist auf Halle 10.1, Stand A.73. Dort sind diese Fertiggerichte auf Fotos zu sehen, Fleischanaloga nach Steak-Art, Soljanka, Spätzlepfanne, bayerischer Wurstsalat, sie sehen aus wie die echten Gerichte, aber sie kommen aus dem Extruder, der Gast braucht es nicht zu merken, wenn er sie im Wirtshaus serviert bekommt.
Die Soljanka gibt es zu kosten. Ja, sie sieht aus wie echte Soljanka, das immerhin.
Fortschritt, darunter versteht man auf Messen wie der Anuga FoodTec Bruchreis, der neu zusammengesetzt und zu Reiskörnern
geformt wird, oder Wurstdärme, die ihren Inhalt mit Raucharoma parfümieren, oder Schnittkäse, den man als »light« vermarkten kann, weil man ihn aus jener mageren Molke konstruiert hat, die bei der Käseherstellung übrigbleibt. Früher gab man sie den Schweinen. Man bringt Neues auf den Markt, jeden Monat, jede Saison.
Eine Möhre ist eine Möhre ist eine Möhre, ein Steak ist ein Steak ist ein Steak, doch der Mensch muss Neues erfinden, pausenlos und unerbittlich, wieso?
Wovon träumt der Mensch, wenn er an seine Nahrung denkt, warum muss das Essen der Zukunft ein anderes sein als bisher?
Man muss die Mythen, die Fiktionen kennen, die sich mit dem Thema Essen verbinden, um zu begreifen, was auf diesem Markt geschieht. Muss die modernen Schlaraffenträume verstehen, die sich aus den alten erklären, sagt eine Studie des Schweizer Gottlieb Duttweiler Instituts, die ebendies versucht.
»Food Fictions« heißt sie, eine Mischung aus Marktforschung und Philologie, sie analysiert Märchen, Film und Literatur, betrachtet Produktforschung von heute, um daraus die »radikalen Food Trends« von morgen abzuleiten - und kann wie ein Reiseführer gelesen werden durch die Welt der Züchter, Forscher und Erfinder, die heute an den Speisen arbeiten, die wir morgen essen sollen.
Grenzenlos verfügbar, grenzenlos gut - so war das Essen im Mythos vom Schlaraffenland, entstanden in einer Zeit, als in der Wirklichkeit der Hunger Teil des Lebens war und dafür im Märchen die Tauben gebraten durch die Luft flogen, die Straßen aus Milch und Honig waren und in dem Schwein, das fertig gegart durch die Welt lief, schon Messer und Gabel steckten, für jedermanns Bedarf.
Grenzenlos gut, grenzenlos verfügbar - es sind die alten Träume, die noch immer den Konsum der Menschen bestimmen, ins Moderne gewendet allerdings. Die Angst vor dem Verhungern bestimmt ja nicht mehr die Existenz, in den entwickelten Ländern jedenfalls.
Grenzenlos verfügbar heißt heute: billig zu haben (bei Aldi) und jederzeit (als Fast Food) bereit zum Verzehr. Viel wichtiger als früher ist ein Bedürfnis, das in alter Zeit nur eine Minderheit betraf oder besondere Phasen wie die Fastenzeit: Essen mit gutem Gewissen.
Essen kann dick und krank machen, es kann Allergien auslösen, das hat der moderne Mensch gelernt. Also gilt der Traum einer Kost, die ihn gesünder, jünger, schöner, klüger werden lässt als zuvor.
Und die, falls er altruistisch denkt, seiner Umwelt so wenig schadet wie ihm selbst.
Das sind die Träume, deren Erfüllung die Erfinder versprechen müssen, und
zwar so überzeugend, dass eine Marketingabteilung das Versprechen in Werbung umsetzen kann.
Der Lebensmittelmarkt ist gesättigt in den westlichen Ländern, die Menschen können ja nicht wesentlich mehr essen als genug. Ein Konzern, der wachsen oder sich wenigstens am Markt behaupten will, sucht neue Produkte, neue Versprechen, Ideen. Also kämpfen Nestlé, Kraft, Unilever, Danone, jene vier Großen des Weltmarkts, um Innovationen. Nestlé beispielsweise, der größte Lebensmittelkonzern der Welt mit einem Jahresumsatz von über 60 Milliarden Euro, tut das in einem Forschungszentrum in Vevey, hoch über dem Genfer See.
Wir werden, so sprach unlängst der Nestlé-Chef Peter Brabeck, dem Fortschritt unsere eigene Richtung geben, werden nur noch Produkte auf den Markt bringen, die einen »gesundheitlichen Zusatznutzen liefern«. Und im Raum YR 10 in Vevey sitzt Werner Bauer, sein Forschungsleiter, und sagt, dass das eine »aufregende Vision« sei, die der Chef seiner Firma gab.
Nestlé. Gesundheit. Das seien künftig zwei Namen für dasselbe Phänomen.
Ich esse, und ich werde gesund - uralt ist diese Sehnsucht, im Märchen ist es die Frucht des Granatapfelbaums oder ein schlichter Apfel, der dem kranken Prinzen, der Prinzessin Genesung bringt. Im industriellen Zeitalter ist die Natur allenfalls Rohstoff, und der Job der Erfinder ist es, mit diesem Rohstoff effektiv und billig Nahrung zu produzieren.
In Deutschland wird daran gearbeitet, überflüssige Molke zu vermarkten oder auch Schlachtabfälle wie Separatorenfleisch. Der Raps wird in seiner Vielfältigkeit neu entdeckt, nicht nur für Motoren, sondern auch für Menschen; Speiseeis mit Rapsölanteil ist eine Erfindung des Fraunhofer-Instituts in Freising, ein neuer Clou.
Im Mittleren Westen der USA wächst Mais sehr gut, also hat der Maisanteil in der Nahrung so sehr zugenommen, dass der US-Wissenschaftsautor Michael Pollan von Amerikanern als »Maiskolben auf zwei Beinen« spricht. In Finnland, dem Land der Nadelwälder und der Holzindustrie, wird jetzt die gesundheitsfördernde Wirkung eines Stoffs namens HMR erforscht - er kommt in Fichtenzweigen vor.
Ein Industriebetrieb lebt von verarbeiteter Nahrung, von industrieller Kost, Nestlé kann nicht einfach Äpfel oder Möhren verkaufen wie der Biobauer auf dem Wochenmarkt. Verändert wird der Rohstoff sowieso, er wird konserviert, sterilisiert, homogenisiert, Bestandteile werden zugesetzt oder extrahiert - das ist die Logik der Massenproduktion. »Functional Food« folgt dieser Logik - es soll die Versöhnung bringen zwischen Gesundheit und industrieller Produktion.
Schokolade mit extra Mineralstoffen, Müsli-Riegel mit Omega-3-Fettsäuren, Maggi-Tütensuppen mit Folsäure, Vitamin C, Vitamin E.
Probiotische Kost für Senioren. Für Babys. Es gibt jetzt auch probiotisches Pulver für den Hund.
Spricht Werner Bauer von probiotischen Joghurtkulturen, dann schwirren Wörter wie »traumhaft« durch den Raum, »phantastisch«, »wunderschön«.
Wobei er gebranntes Kind ist, eigentlich, denn der LC1-Joghurt, der Magen und Darm mit Laktobakterien füllt und bessere Verdauung verspricht, das war seine Entwicklung, aber in der großen Begeisterung fiel damals niemand ein, wie man dem Kunden das Zeug schmackhaft machen könne. Danone kam später mit Actimel und hat es besser gemacht. Findet Werner Bauer.
Schwierig manchmal, dieser Konsument.
Nestlé, das ist jener Konzern, der bekannt ist für Erfindungen wie den gentechnisch veränderten Knabberriegel »Butterfinger«. Der Hightech-Bissen verschwand aber nach wenigen Monaten, weil ihn keiner wollte, aus den deutschen Regalen.
Die »verkrampfte Haltung« der Deutschen gegenüber Gentechnik, ihre »geistige Blockierung« hat vor einiger Zeit Bauers Chef, der oberste Nestlé-Mann Brabeck, beklagt. Seit Jahren forschen Biologen und Pflanzenzüchter an gentechnisch veränderten Pflanzen, Gen-Reis, Gen-Raps, Gen-Kartoffeln, die nicht nur gegen Schädlinge resistent sind, sondern deren Stärke oder Fettsäuren sich auch anders zusammensetzen oder die mehr Vitamine enthalten sollen. Aber die Mehrheit der Konsumenten in Europa will diese Produkte nicht.
Wir werden, spricht seufzend der Forschungschef Werner Bauer, »in Europa vorerst kein Genfood« vermarkten, »wenn es der Konsument nicht will, werde ich es ihm nicht servieren«, auch wenn er diese Haltung nicht versteht.
Was also ist das Essen der Zukunft?
Am Tisch bei Nestlé in Vevey sitzt Heribert Watzke aus Österreich, Head of Food Science Department, und sagt: »Wir verbessern die Natur.« Am Tisch sitzt Peter van Bladeren, Niederländer, Head of the Research Center, und sagt: »We bring out the best of nature.« Am Tisch sitzt Werner Bauer aus Bayern, Chief Technology Officer, lacht glücklich und sagt: »Das bringt die Sache auf den Punkt.«
Nestlé lässt auch im Fernen Osten forschen, in China, und nutzt die dortigen traditionellen Kulturpflanzen. So wird etwa die Wolfsbeere in der chinesischen Medizin gegen Bluthochdruck, bei Augenerkrankungen und zur Krebsbehandlung verwendet. Sie wird, auch in anderen Ländern Asiens, als Suppe gegessen, getrocknet kaut sie sich wie Kaugummi. Man habe, schwärmt Heribert Watzke, das Kalzium und noch ein paar andere Sachen, die in dieser Beere stecken, an Milchproteine gebunden, so werde sie vom Körper besser aufgenommen als das Kalzium der Beere, wie sie in der Natur vorkommt.
Sie verbessern die Natur? Na gut, sagt Watzke, wir verbessern nicht die Natur, »wir kombinieren sie neu. Das Problem ist, die Natur hat die Dinge ungleich verteilt«.
Die Zukunft ist ein neues Bakterium, ein Protein, ein Molekül.
Seit elf Jahren setzt Nestlé auf solche Zusatzstoffe, so lange ist LC1 jetzt auf dem
Markt, aber immer noch vertreten etliche Wissenschaftler die Meinung, die Bakterienzufuhr sei nicht gut für den Körper, sondern womöglich sogar schädlich, gibt es eigentlich Langzeitstudien?
Nein, sagt Werner Bauer, »man kann doch nicht Konsumenten zwingen, über Jahre hinweg diesen Joghurt zu nehmen«.
Jedem das seine, »Personal Nutrition«, auch das ist so ein Trend. »Nutrigenomics« kommt aus den Vereinigten Staaten, eine Gendiagnose wird dem Konsumenten sagen: Das ist mein Nahrungsprofil, das ist mein Joghurt, den kaufe ich jetzt. Spezielles Essen für Alte, auch daran sitzt Nestlé, hofft auf einen wachsenden Markt.
Rund 650 Konstrukteure, Rechercheure, Materialforscher, Probiotiker, Stoffwechselexperten arbeiten in Vevey, Prinzip ist die permanente Innovation.
»Nanotechniker«, dieses Wort taucht in einer Nestlé-Informationsbroschüre auf, in einem Porträt des Materialwissenschaftlers Watzke. Ein neues, ein schwieriges Wort.
»Nanotechnologie« - das ist der Umgang mit den Kleinteilen der Materie, auf Atom- oder Molekülebene, mit der man Stoffe anreichern, verändern, in ihren Strukturen verwandeln kann. Es wird jetzt schon, wenn auch selten, angewandt in der Lebensmittelherstellung, Nano-Kieselsäure als Zusatzstoff im Ketchup beispielsweise, die ihn fließfähig machen soll. »Nano« ist ein Zukunftswort, es beflügelt Phantasien. Organische Verbindungen können als »Nanocontainer« Substanzen schneller oder effektiver in den menschlichen Körper schaffen, Aromen, Vitamine, Enzyme transportieren. Nanopartikel aus Titandioxid könnten auf die Oberfläche von Schokolade aufgetragen werden, um sie haltbarer zu machen.
Ideen kursieren wie die einer »Pizza multi«, bei der erst der Käufer bestimmt, wonach sie schmecken wird - je nachdem, wie er seine Mikrowelle programmiert. Nach Science-Fiction klingt das und nicht unbedingt verheißungsvoll, und über die Risiken ist bisher wenig bekannt.
Sehr zurückhaltend geht Nestlé bisher mit der Vokabel »Nano« um. Wer weiß, ob der Mensch so viel Zukunft überhaupt wünscht. Kann ja sein, dass er sich eher an »Tricatel« erinnert fühlt, das ist jene Firma, die im Louis-de-Funès-Film »Brust oder Keule« aus Plastikmasse künstliches Essen formt - ganz nach Belieben Hühnchen, Pastete, Salat.
Es ist ein Spiel mit der Materie, das die Nanotechniker, die Lebensmittelkonstrukteure, das die Functional-Food-Erfinder betreiben: Du magst denken, es sei ganz normale Milch, was du trinkst. Täusch dich nicht. Da ist Fischöl drin.
Es steckt die Absicht hinter diesem Spiel, die Abhängigkeit von der Natur und ihren Erscheinungsformen zu überwinden - eine Hoffnung, so sehen es deren Vermarkter. Eine Vermessenheit, sagen andere, die diese Dinge mit mehr Abstand sehen. Ein »Hochmut der zweckrationalen Vernunft, welche glaubt, eines Tages die eigene Natur gänzlich unter Kontrolle zu haben«, so hat es der Philologe Peter von Matt in der Schweizer »Food Fictions«-Studie beschrieben.
Wieder andere betreiben die Überwindung der Natur als abstraktes, intellektuelles Vergnügen - in Fachkreisen heißt es »molekulare Gastronomie«.
In Bremerhaven, an einem Nebeltag im Fischereihafen, in einem Forschungslabor des Technologiezentrums ttz, zwischen Töpfen und Schaumsprühern, legt eine Gestalt im weißen Kittel ihre Schutzbrille und Arbeitshandschuhe an, hantiert an einer Art Thermoskanne, öffnet sie, gießt weißen Rauch, der wolkenartig wabert, in einen Kochtopf, klemmt ein Basilikumblatt in eine Zange und taucht es ein. Es kommt heraus und ist gefroren, im Stickstoff, bei minus 190 Grad. Eiweißschaum, mit Zucker und Absinth verfeinert, verschwindet im Kühltopf und verwandelt sich in erstarrte Masse, eiskalt bröckelig, mit harter Kruste und weichem Kern.
Heißes Eis, nicht süßes Karamell, Spaghetti, die aus Tomate bestehen, auch das sind Produkte des ttz. Zucchini-Hühnerspieß, in Wasser frittiert. Orangensaftdrops in Campari, es sieht aus wie Baked Beans, man muss nur noch den Toast dazu erfinden, dann kann man es als verfremdeten Nachtisch servieren. Optische Täuschungen, bei denen das Gehirn noch mal nachfragt: Wie bitte? Was war das eben?
»Wir forschen eben. Dafür werden wir bezahlt.« Der das sagt, ist ein Herr mit leicht ironischem Blick und Pilzkopffrisur, Werner Mlodzianowski heißt er und ist Chef des ttz, des Technologie-Transfer-Zentrums Bremerhaven, einer Ausgründung der Universität, und hält »angewandte Forschung« bereit, für Lebensmittelfirmen, Caterer, Restaurants.
Auch Restaurantchefs, nicht nur Industriebetriebe sehen sich ja gezwungen, Neues und immer wieder Neues zu servieren. Im ttz stellen sie Prototypen her, Köche und Caterer beeindrucken ihre Kundschaft damit gern, selbst ehrgeizige Freizeitköche können jetzt die Zutaten ordern für Molekulargastronomie. Man spielt nicht mit dem Essen? Doch, man tut es. Hier wirkt der Kinderstolz wie beim Baukastenspielen: Schaut mal, was ich alles kann.
Das ist das Spektakuläre, Minderheitenprogramm, das die Neugier, die Lust auf Exklusivität bedient.
Schäume, Algenkugeln, dafür ist Mlodzianowskis Institut unter Gastronomen berühmt. Auch der Starkoch Ferran Adrià hat hier forschen und erfinden lassen. Adrià, der Avantgardist, der Großmeister der Molekularküche, der sich nun in diesem Sommer, vom normalen Leben und Kochen entrückt, als Eingeladener der Documenta wiederfindet, vielleicht der Höhepunkt, vielleicht auch das Ende der Molekulargastronomie. Essen als Kunst - ist das nicht genauso sonderbar wie Möhren durch einen Extruder zu treiben und dann künstlich zu aromatisieren, um den verlorenen Geschmack zu kompensieren?
Keineswegs, sagt Mlodzianowski und weist darauf hin, dass sich die Kochkunst Adriàs und seiner Jünger, ambitioniert betrieben, nicht am Geschmack der Rohstoffe
vergreife, und mit der industriellen Welt der Konservierungsstoffe und Geschmacksverstärker habe sie nichts zu tun.
Nicht an »Tricatel« erinnert diese Molekularkost, sondern eher an das, was der Reisende Gulliver bei den merkwürdigen Laputiern zu essen bekommt, in Jonathan Swifts Satireroman von 1726: Kalbsbrust in Harfenform, rhombisches Rindfleisch. Die Form ist verändert, doch die Substanz bleibt sich treu.
»Essen«, sagt Werner Mlodzianowski, halb entschuldigend, »hat ja auch was Irrationales«.
Er führt weiter in die Backstube, ein paar Häuser weiter, es riecht nach Brot dort, archaisch und erdenschwer.
Die Abteilung Bäckereitechnik hat Verfahren entwickelt, wie man auf Emulgatoren, Zusatzenzyme, Treibmittel verzichten kann, Mlodzianowski scheint sich hier wohler zu fühlen, es riecht nach Brot hier, wirklich nach Brot, Mlodzianowski atmet durch.
Alte Getreidesorten werden wieder zu Brot gebacken, Emmer, Einkorn, man sucht den Geschmack, wie es ihn früher gab, man sucht - Natur? Ist es das?
Mlodzianowski hat etwas Ökologisches in seinen Reden, hofft auf Bio- und Besseresser und deren Suche nach dem verlorenen Geschmack. Bioboom, Klimakatastrophe, die Zeiten sind besser geworden, die Nachfrage wandelt sich, doch als Chef des ttz mag er sich nicht festlegen im ökologischen Sinne, nur als Dienstleister, nicht als Dogmatiker kann er sein Institut erhalten. Natur, so sagt er abwehrend, »das ist doch ein romantisch aufgeladener Begriff«.
Kann der noch taugen? Taugt er noch?
Es hat geregnet, gestern in der Wetterau, der Pflanzenzüchter Dietrich Bauer schaut auf die schweren Stiefel, mit denen er im Matsch versinkt, es regnet nicht oft in Bad Vilbel, für Pflanzenzüchtung ist das im Prinzip eher gut.
»Ach ja, meine Rodelika« sagt Dietrich Bauer. Seine Rodelika ist die von ihm nach Demeter-Prinzipien gezüchtete, vom Bundessortenamt zugelassene Möhre, belobigt für »hohen Zucker- und Karotingehalt« - niemals, wenn es nach Dietrich Bauer geht, würde sie durch einen Extruder gepresst, um am Ende ein künstlich aromatisierter Möhrenburger zu sein.
Bauer ist ein wettergegerbter Mensch, Jahrgang 1938, er lebt mit knapp hundert Mitbewohnern auf dem Dottenfelder Hof, 180 gepachtete Hektar bei Bad Vilbel, die dem Land Hessen gehören. Gärtner ist er, und Züchter geworden, um sich dem Konventionellen und vor allem dem Gentechnischen entgegenzustellen, mit biologisch-dynamischen Kohlköpfen, Pastinaken, Rodelika-Möhren, die isst man mittags gemeinsam als Auflauf, nach einem Sinnspruch von Rudolf Steiner: »Es keimen die Pflanzen in der Erdennacht.« Dietrich Bauer spricht ihn wie ein Gebet.
Man schaut ihn an und schaut auf seine Möhren, und man denkt an den Film »Soylent Green«, einer Science-Fiction von 1973, darin leben Menschen auf dem übervölkerten Planeten Erde und ernähren sich von einer Mahlzeit, die aus Toten gemacht ist, aber das wissen sie nicht, und wenn ein sehr, sehr bedeutender Tag gefeiert wird, zieht der, der so etwas noch beschaffen kann, aus seinem Kühlschrank eine müde Möhre, einen traurigen Salat.
Die Zukunft für Dietrich Bauers Möhren sieht die »Food Fictions«-Studie so: »Natürlich hergestellte Bio-Nahrungsmittel werden zum ultimativen Luxus in einer Welt der vollständig prozessierten Nahrungsmittel.« Muss es so kommen?
Dietrich Bauer steht in Gummistiefeln, er wird anthroposophisch jetzt. Wenn der Mensch auf dem Acker wohlgewachsene Pflanzen sehe, schon da beginne er, einen Hunger, den nach Schönheit nämlich, zu stillen.
Von neuentwickelten »bildschaffenden Verfahren« spricht er dann, die nachweisen könnten, wie gesund und harmonisch die Demeter-Gewächse seien, Eurythmie kommt ins Gespräch und dass es der Pflanze guttue, wenn man ihre Bewegung nachvollziehen und miterleben könne; den Pflanzen etwas vortanzen, damit sie gedeihen, ja, das tun manche, und man muss wohl Anthroposoph sein, um darin einen Sinn zu sehen. Aber um seine Möhre zu essen, braucht man diese Weltanschauung nicht.
Die Menschheit erfindet Biomöhren wie seine Rodelika, aber auch Schmelzkäse aus der Sprühflasche, Seeigel-Seetang-Limonade, Trinkhalme aus Lakritze, Prosecco aus der Dose, Geschmackssprays, mit denen fades Fleisch wahlweise nach Honig, Tomate, Räucherspeck oder Blauschimmel schmecken kann. Man denkt an solche Dinge, die es schon zu kaufen und zu kosten gibt, an Nestlés Tütensuppe mit Vitaminen, und man denkt an den Nestlé-Forschungschef Werner Bauer, der mit dem Dottenfelder Demeter-Züchter nichts gemeinsam zu haben scheint als zufällig den Namen. Und der in diesem Gespräch über Fischöl und Bakterienjoghurt nebenbei von seinem Garten erzählt hat, wo er Gurken, Chili, Honigmelonen wachsen lässt, er sei »eigentlich organisch, dieser Garten«, und dass er am liebsten Schweinebraten isst, Heimwehkost.
Seltsam eigentlich. Und doch auch wieder nicht.
* Gemälde von Pieter Brueghel dem Älteren, 1567.