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VERGANGENHEIT Das Leben nach dem Tod

Nach ihrer Befreiung aus dem Konzentrationslager wurden zwei Schwestern getrennt, sie galten als vermisst oder tot und finden nun, nach über sechs Jahrzehnten, zueinander. Jetzt versuchen eine Deutsche und eine Tschechin, das verpasste gemeinsame Leben nachzuholen. Von Jochen-Martin Gutsch
aus DER SPIEGEL 16/2007

Im August vergangenen Jahres hält die Tschechin Eva Hrasová einen Brief in den Händen, der all das zurückholt, was längst beendet schien. Die Geschichte war tot. Seit Ewigkeiten. So tot, dass sich Eva Hrasová zwingen muss, die Worte zu begreifen.

In Hamburg, so erzählt es der Brief, wohnt eine Frau Regine Böhmer, die womöglich ihre Schwester ist. Und sie, Eva Hrasová, ein tschechisches Waisenkind von 70 Jahren, ist womöglich gar kein tschechisches Waisenkind, sondern eine Deutsche. Erika Böhmer, geboren in Hamburg.

Eva Hrasová zittern die Hände.

Sie erinnert sich kaum. Es ist 61 Jahre her. Sie hat noch einen Namen im Kopf: Regina. Sie erinnert sich an ein flüchtiges Bild in einem Krankenhaus. Oder war es ein Kinderheim? Sie winkt durch ein Fenster, und ein Kind winkt zurück. Dann verschwindet das Kind. Sie erinnert sich an die Schulter eines Soldaten, der sie im Arm trägt. Und dass ihre Knie brennen, wie Feuer.

Aber das konnte alles Mögliche bedeuten. Sie ist jetzt 70 Jahre alt, und ihr Gedächtnis ist nicht mehr gut. Außerdem heißt die Frau Regine, e statt a. Andererseits könnte es dort in Hamburg endlich eine Antwort geben auf die Fragen, die sie ein Leben lang nicht losgeworden war: Wer bin ich? Woher komme ich?

Deutschland ist auch nicht schlecht. Sie sitzt hier in Volyne, einem kleinen Kaff in Südböhmen, und wohnt zur Untermiete bei einer Frau, mit der sie sich ein einziges Zimmer teilt. Sie hat hier nicht mal einen Fernseher. Und in Deutschland, so viel ist klar, haben alle einen Fernseher.

Ende September vergangenen Jahres setzt sich Eva Hrasová zu ihrer Tochter Irene in das Auto ihres Schwiegersohns und fährt nach Hamburg. Auf der Fahrt erzählt die Tochter, dass die Frau aus Hamburg, Regine Böhmer, eine Sintiza sei, eine »Zigeunerin« also. Demzufolge wäre die Mutter auch eine Sintiza. Eva Hrasová ist ein bisschen enttäuscht. Sintiza, das klingt nicht gut. Ihr Leben lang galt sie als Waisenkind. Es war wie ein ewiger Makel. Jetzt, wo es endlich eine Familie zu geben scheint, sind es ausgerechnet »Zigeuner«. Das Schicksal ist nicht gerecht.

Aber sie sind bereits auf dem Weg, das Auto fährt Richtung Hamburg, es fährt durch das Land, in dem Eva Hrasová geboren wurde, dessen Sprache sie einst sprach, sie fährt also nach Hause, in ihre Geburtsstadt. Sie kehrt zurück, 66 Jahre nachdem sie Hamburg in einem Deportationszug verlassen musste.

Am Morgen des 16. Mai 1940 waren Polizei und SS ins Haus ihrer Eltern in Hamburg-St. Georg gestürmt, unten auf der Straße stehen bereits die Lastwagen, auf denen Sinti sitzen. Die Eltern und die sieben Kinder werden wie alle anderen zum großen Fruchtschuppen gebracht, in

der Nähe des Hannoverschen Bahnhofs. Sie werden registriert, sie müssen Ausweise und Wertsachen abgeben. Am 20. Mai 1940 fahren die Züge. Insgesamt werden an diesem Tag mehr als 900 Hamburger und norddeutsche Sinti und Roma deportiert. Regine Böhmer ist acht Jahre, Erika drei Jahre alt. Die erste Station ist das Konzentrationslager Belzec in Polen.

Über die Deportation von Erika Böhmer gibt es ein Schriftstück in den Akten des Internationalen Suchdienstes. Der Name und das Geburtsdatum tauchen in einer »Liste von Zigeunertransporten« auf, ausgestellt vom Kriminalamt Hamburg. Danach wurde Erika Böhmer »am 20. Mai 1940 von der Kripo nach dem Generalgouvernement Polen umgesiedelt«. Von diesem Tag an verliert sich langsam ihre Spur.

Regine Böhmers Erinnerungen an die Lagerzeit sind schwach, es sind die Erinnerungen eines kleinen Kindes. »Wir kamen nach Belzec. Es war das erste Lager, ein riesengroßer Platz. Da stand dann so etwas wie ein Stall mit einem Zaun drum herum. Manchmal schmissen Frauen Essen über den Zaun. Wer dann geschnappt hat, hat geschnappt. Wir haben auf dem Boden geschlafen. Es war ein großes Lager.«

Die Orte wechseln ständig in den Papieren des Suchdienstes. Krychow. Siedlce. Lublin. Ravensbrück. Anfangs ist die Familie noch zusammen. Einmal gelingt die Flucht, sie irren monatelang durch Polen, verstecken sich in Wäldern, schaffen es bis nach Warschau. »In Warschau konnten wir bei einer Hamburger Sinti-Familie Laubinger untertauchen. Die Familie gab meiner Schwester Erika den zusätzlichen Namen Frieda«, steht in den Ausführungen zum Suchantrag. Später werden sie gefasst, und die Schwester wird nach Ravensbrück deportiert.

Der Name »Frieda« wird Jahrzehnte später noch wichtig werden. Wenn man so will, ist er der Schlüssel dafür, dass man sich 2006 wiedertrifft.

Anfang 1945 kommen Erika und Regine Böhmer nach Bergen-Belsen. Die Familie ist längst auseinandergerissen. Der Vater in Sachsenhausen, die Mutter in Majdanek, zwei Brüder in Auschwitz.

Im April 1945 wird das Konzentrationslager Bergen-Belsen von den Engländern befreit. Die Schwestern Erika und Regine werden in ein Hospital gebracht. Kurze Zeit später trennen sich ihre Wege. Es gibt eine letzte Szene, eine letzte Begegnung, an die sich Regine Böhmer erinnert. An den Abschied.

»Erika hatte Typhus, glaube ich, jedenfalls lag sie in einem geschlossenen Raum, in den ich nicht rein durfte. Ich schaute durch das Fenster, sie lag in einem Bett, ich winkte ihr zu. Ja, und dann war Ende. Ab da hab ich sie nicht mehr gesehen. Dann war aus und vorbei. Sie lag da in einem Bett. Sie erkannte mich auch. Sie wollte immer hoch, immer hoch.«

Es ist Juni 1945. Das ganze Land liegt in Trümmern. Die Menschen irren umher. Zwangsarbeiter, Überlebende aus Konzentrationslagern, Soldaten, Zivilisten, Flüchtlinge. Man geht schnell verloren. Es ist ein gewöhnliches Schicksal in diesen Zeiten.

Regine Böhmer geht nach Hamburg zurück, die Mutter und einige Geschwister haben überlebt. Erika Böhmer soll nach der Genesung abgeholt werden. Als Hedwig Böhmer, die älteste Schwester, Wochen später im Hospital auftaucht, ist Erika Böhmer verschwunden.

Die Familie sucht in Krankenhäusern und Kinderheimen. Sie fragt an beim Roten Kreuz, bei verschiedenen Suchdiensten. Später in der Gedenkstätte Bergen-Belsen, beim Archiv der Stadt Celle. Der letzte Suchauftrag an das Rote Kreuz stammt aus dem Jahr 1964, gestellt von der Schwester Hedwig Böhmer.

Zu diesem Zeitpunkt ist Erika Böhmer auf dem Papier längst tot. Auf Antrag der Mutter wird Erika Böhmer vom Amtsgericht Hamburg am 28. Februar 1952 für tot erklärt. Als Zeitpunkt des Todes wird der 31. Dezember 1945 festgelegt.

Am Tag des Wiedersehens sieht Regine Böhmer eine kleine, etwas runde Frau aus dem Auto steigen. Sie hatte vor dem Treffen kaum schlafen können, aber sie schläft sowieso schlecht, solange sie denken kann. Sie träumt noch immer vom KZ, sie wird das nie los. Und jetzt kommt diese alte Frau auf sie zu, mit getönten Haaren, Dauerwelle, mahagonibraun, einer Landfrisur also, eine Eva Hrasová aus Tschechien. Regine Böhmer, 74 Jahre alt, ist nie in Tschechien gewesen, sie ist überhaupt nie wieder im Ausland gewesen nach dem Krieg. Ihr Sohn Georg hatte ihr erzählt, dass die Menschen

in der Tschechoslowakei Kommunisten seien, ein dunkles, armes Land. Ausgerechnet von dort muss ihre Schwester kommen. Das Schicksal ist nicht gerecht.

In ihrer Erinnerung ist Erika Böhmer, die Schwester, ein Mädchen mit blonden Haaren. Sie ist nie gewachsen, sie blieb unverändert, jahrzehntelang. Ein ewiges Bild. Es gibt nichts, was Regine Böhmer noch wiedererkennt im Gesicht der Frau, die da auf sie zukommt. Sie schaut in das Gesicht eines fremden Menschen.

Die Augen, der Mund, sehen die nicht aus wie ihr eigener Mund, ihre eigenen Augen? Der Wunsch ist groß. Sie umarmt also die alte Frau, die jetzt vor ihr steht, sie weinen, und das ist ein gutes Gefühl. Die Geschichte fügt sich. Es scheint endlich ein Ende zu geben, nach 61 Jahren. Der Rest würde sich ergeben.

Ein paar Tage später fahren sie nach Bad Arolsen zum Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes, um sich dort gemeinsam ihre Akten anzuschauen. Beim Suchdienst liegen 50 Millionen Dokumente über rund 17,5 Millionen Menschen. Eine riesige Aktenmaschine, errichtet, um nach Menschen zu suchen, die von den Nazis verschleppt oder gefangen gehalten wurden. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass eine Anfrage im Bauch der Maschine verschwindet, dass sie dort liegt und wartet, aufgenommen und katalogisiert wie all die anderen, aber unbeantwortet. Nicht mehr als eine weitere Einzelinformation, weil die Spuren längst verwischt sind, über 60 Jahre nach Kriegsende. Und weil die Menschen sterben, die man zu finden hofft. Man erfährt hier viel über die Toten, aber nur wenig über die Lebenden.

Diesmal passt alles. Zwei Akten von Millionen, die Suchvorgänge T/D-246 046 und T/D-1 846 532 finden zueinander wie die verlorenen Teile eines Puzzles. Eine Frau, die 61 Jahre lang verschwunden war, taucht plötzlich wieder auf. Zwei Schwestern, die sich im Juni 1945 zum letzten Mal gesehen hatten, stehen jetzt nebeneinander, wieder vereint.

Bevor Eva Hrasová nach ein paar Tagen zurück nach Tschechien fährt, ist entschieden, dass sie umziehen wird. Nach Hamburg zu ihrer Schwester. Es war eine Geschichte, die ein Happy End verdiente.

Sie haben in diesen ersten Tagen kaum miteinander geredet, es ging nicht. Eva spricht Tschechisch, Regine Deutsch. Sie haben sich angeschaut und im Gesicht der anderen nach einem Hinweis gesucht. Die 61 Jahre Trennung lagen zwischen ihnen wie ein fremdes Land, sie wussten nicht viel übereinander, eigentlich nichts, aber sie waren Schwestern, und das sollte reichen.

Zwischen Weihnachten und Silvester ist Eva Hrasová noch einmal in Hamburg. Mitte Januar kommt sie schließlich, um zu bleiben, zusammen mit ihrer Tochter Irene, die sich in der Zwischenzeit von ihrem Mann getrennt hat. Sie stellen ihre Taschen in die kleine Drei-Zimmer-Neubauwohnung von Regine Böhmer wie für einen Wochenendbesuch und hoffen auf einen gemeinsamen Neuanfang.

Schwer zu sagen, wann er beginnt oder wie er aussehen soll.

Im Moment warten sie wieder. Sie sitzen zu dritt in dem Zimmer, das Irene, die Tochter, gerade bewohnt. Sie sitzen an einem Tisch, auf dem Kaffee und ein Teller mit belegten Brötchen steht. Regine Böhmer trägt Schwarz, so wie jeden Tag, seit vor ein paar Monaten ihr Bruder starb. Eva Hrasová legt die Hände in den Schoß und schweigt. Irene raucht. An der Wand tickt leise eine Uhr. Sie warten auf Georg, Regine Böhmers Sohn. Er soll die Sache mit der Wohnung regeln, Eva Hrasová könnte dann umziehen, in eine Wohnung um die Ecke, ein paar Straßen weiter, so, wie sie es geplant hatten, damals im September. Sie beginnen, ihre Leben zu vergleichen.

Regine Böhmer blieb nach dem Krieg in Hamburg. Sie heiratet, bekommt drei Kinder und ist Hausfrau. Der älteste Sohn stirbt bei der Bundeswehr - er gerät unter einen Panzer. Sie besucht nie eine Schule, lernt nie Lesen und Schreiben. Sie ist 13 Jahre alt, als sie das Konzentrationslager Bergen-Belsen verlässt. »Ich konnte das später nicht mehr schaffen. Ich war müde, immer erschöpft, ständig krank.«

Eva Hrasová geht in Tschechien zur Schule, unregelmäßig, sie muss auf dem kleinen Hof der Pflegefamilie helfen. Die Verhältnisse sind ärmlich. Der Pflegevater, den sie liebt, stirbt früh, sie ist noch ein Kind. Mit 17 beginnt sie eine Lehre in einer Textilfabrik. Ein Jahr später heiratet sie.

Die Ehe ist eine Hölle. Ihr Mann trinkt, er schlägt sie, schlägt die Kinder, schlägt sogar die Pflegemutter. Eva Hrasová übergießt ihren Mann aus Verzweiflung mit kochendem Wasser, er verprügelt sie danach so, dass sie ins Krankenhaus kommt. Sie bleibt trotzdem bei ihm. Aus Angst - und weil sie glaubt, dass die drei Kinder einen Vater brauchen, unter allen Umständen. Sie arbeitet in der nahe gelegenen Stadt als Hilfskraft in einer Kneipe, sie arbeitet an der Fräse einer Motorradfabrik. Erst 1995 lässt sie sich scheiden, nach 42 Jahren Ehe, und verlässt das Haus. Sie wohnt dann im Nachbarort. Nur fünf Kilometer entfernt.

1998 stellt Eva Hrasová, geborene Kamenická, einen Antrag beim Suchdienst des Roten Kreuzes in München. Sie hofft, auf diesem Weg, etwas über ihre eigene Vergangenheit herauszufinden. Ob es möglicherweise nicht doch irgendwo eine Familie gibt.

Frühere Nachforschungen in Tschechien nach Eltern oder Verwandten sind ohne Erfolg geblieben. Der Antrag wird weitergeleitet an den Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen, er bekommt die Nummer T/D-1 846 532.

Als sich ihr Mann 2004 beim Internationalen Suchdienst nach einem Bruder erkundigen will, bittet ihn Regine Böhmer, auch in der Angelegenheit ihrer verschollenen

Schwester noch mal einen Antrag zu stellen. Der bekommt die Nummer T/D-246 046.

Beide Anträge haben nicht viel miteinander zu tun. In T/D-1 846 532 wird nach Hinweisen auf die Identität von Eva Hrasová, geborene Kamenická, gefragt. In T/D-246 046 erhofft man sich Auskünfte über das Schicksal von Erika Silvia Frieda Böhmer. »Sinti-Name: Silvia, auf der Flucht Frieda genannt«, heißt es im Antrag.

Die Verbindung findet schließlich ein Rechtsanwalt aus Prag, den der Sohn von Eva Hrasová Ende 2004 mit Nachforschungen über die Herkunft der Mutter beauftragt hatte. Der Anwalt recherchiert, forscht in Archiven, auf Ämtern, findet Dokumente. Am Ende formt sich alles zu einer Geschichte. Einer möglichen Erklärung dafür, wie aus Erika Böhmer Eva Hrasová wurde.

Am 2. Oktober 1945 wird ein Kind mit dem Namen »Frieda Böhmer« in das Evangelische Kinderheim in Celle aufgenommen. Frieda Böhmer kommt aus dem Kinderhospital, es ist vermerkt, dass sie sich zuvor im Lager Bergen-Belsen aufhielt. Zu jener Zeit sind Soldaten der Tschechoslowakei unterwegs, um nach von den Nazis verschleppten Kindern zu suchen. Am 30. November 1945 wird Frieda Böhmer »nach Prag, Nationalausschuss«, entlassen. Womöglich war das der entscheidende Fehler.

Ein Mann von der tschechoslowakischen Repatriierungsbehörde, ein Fähnrich Moravec, nimmt das Kind mit nach Prag. In einem Dokument, das auf dem Bericht des

Soldaten beruht, heißt es: »Der Fähnrich Moravec behauptet, dass dieses Kind ein Töchterchen des Arbeiters Hajek aus Lidice sein könnte. Im Heim hatte man keine Papiere des Mädchens, es wurde bloß Frieda aus Böhmen genannt. Das Mädchen hätte jedoch gesagt, dass es auf Tschechisch Evicka heißt.«

Am 4. Dezember 1945 wird das Mädchen im Kinderheim Olesovice aufgenommen. Es wird nach Verwandten des Mädchens gesucht, in der Presse werden Fotos veröffentlicht, erfolglos.

Am 31. August 1946 wird das Mädchen »Evicka Frieda Böhmer oder aus Böhmen« ins Kinderheim von Kamenice gebracht. Hier bekommt es seinen neuen Namen. Es wird nach dem Ort benannt. Eva Kamenická. Das Alter wird geschätzt, als Geburtsdatum wird der 9. Mai festgelegt, der Tag der Befreiung. Geboren am 9. Mai 1938 wird in der Geburtsurkunde stehen. Geburtsort: Celle/Hannover.

Am 16. September 1946 wird sie dem kinderlosen Ehepaar Václav und Antonie Svehla aus Doubravice zur Pflege übergeben. Adoptiert wird sie nie. Im Dorf Doubravice in Südböhmen wird sie den Großteil ihres Lebens verbringen. Mit 18 heiratet sie den Kraftfahrer Josef Hrase, den sie beim Tanzabend kennenlernt.

Ihr Name ist jetzt Eva Hrasová.

Über 60 Jahre später beginnt der Weg zurück. Aus Eva Hrasová soll wieder Erika Böhmer werden. Im Moment ist Regines Sohn Georg ihre einzige Verbindung zur Außenwelt. Zu den Behörden. Zu den ganzen Dingen, die dort draußen geregelt werden müssen, damit das Wunder funktionieren kann. Eva Hrasová spricht kein Deutsch. Ihre Tochter Irene nur schlecht. Regine Böhmer kann nicht lesen und schreiben.

Jetzt warten sie wieder. »Es dauert alles so lange«, sagt Regine Böhmer und guckt zu Eva Hrasová. »Der ganze Umbruch ist

sehr schwer für mich«, sagt Eva Hrasová und guckt auf ihre Hände.

Dabei liefen die Dinge gut an. Georg, der Sohn, schrieb einen Brief an Romani Rose, den Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, in dem er um Unterstützung bat in dem ungewöhnlichen Fall. Rose schrieb an Ole von Beust, den Hamburger Ersten Bürgermeister, daraufhin meldete sich aus der Innenbehörde eine Frau und sagte, dass sie von nun an als Ansprechpartnerin in allen Angelegenheiten zur Verfügung stehen würde.

Eva Hrasová bekommt schnell ein Aufenthaltsrecht bis zum 28. Januar 2012, das Bezirksamt Wandsbek zahlt ihr jetzt monatlich 246 Euro Grundsicherung, und eine Frau von der »Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes in Hamburg e. V.« prüft für sie bereits die Möglichkeit einer Entschädigungszahlung.

Die deutsche Bürokratie zumindest funktioniert. Man will dem Wunder nicht im Wege stehen. Und man ist ja auch irgendwie in der Schuld, historisch gesehen.

Georg hat einen Termin bei der Wohnungsgesellschaft, bisher ergab sich nicht viel. Regine Böhmer nennt Eva immer Erika. Eva Hrasová sagt, sie heiße nicht Erika, sondern Eva. »Ich bin Tschechin.«

Eine Tschechin ohne Geld. Die arme Verwandte. »Ich habe ja keinen Pfennig hier. Ich schäme mich sehr dafür, ich bin daran nicht gewöhnt. Ich will mich auch nicht aufzwingen.«

»Das soll Erika mal nicht peinlich sein«, sagt Regine Böhmer. »Bin ja froh, dass ich sie hier hab.« Eva Hrasová nickt und schaut nach unten, auf ihre Hände, und wirkt wie der Ostbesuch, der ahnt, dass er schon zu lange geblieben ist.

In den vergangenen Wochen begleitete Eva Hrasová ihre Tochter Irene ein paarmal auf irgendwelche Ämter oder in den Supermarkt. Einmal ging sie auch allein vor die Tür, um durch das Neubauviertel des Hamburger Stadtteils Rahlstedt-Meiendorf zu spazieren. Die neue Nachbarschaft. Aber irgendwann wurde sie panisch, sie bekam plötzlich Angst, sie könnte nicht mehr zurückfinden. Es sah alles so gleich aus. Die Hauseingänge. Die langen Reihen vierstöckiger Bauten. Sie gehe jetzt nicht mehr allein vor die Tür, sagt Eva Hrasová.

In Doubravice kann man sich nicht verlaufen. In Doubravice gibt es nicht mal

ein Geschäft. Doubravice ist so klein, dass man mit dem Auto hindurchfährt und es kaum bemerkt. In Doubravice, einem Dorf in Südböhmen, hat Eva Hrasová ihr Leben verbracht.

Jetzt also Hamburg.

In der Stadt, in Hamburgs City, war sie bisher ein einziges Mal. Eine Freundin ihrer Schwester zeigte ihr damals einige Sehenswürdigkeiten. Eva Hrasová hatte gehofft, etwas wiederzuerkennen, aber sie erkannte nichts wieder. Ihre Geburtsstadt blieb ihr fremd wie die deutsche Sprache.

Im Prinzip haben sie in den vergangenen zwei Monaten, in denen sie zu dritt auf 70 Quadratmeter leben, nicht viel mehr gemacht, als gemeinsam darauf gewartet, dass es irgendwie losgeht. Das neue, gemeinsame Leben. Das Wunder.

Sie haben gemeinsam abgewaschen, gemeinsam den Tisch gedeckt, gemeinsam geputzt, gemeinsam gegessen, gemeinsam auf einer Couch gesessen und gemeinsam ferngesehen. Sie sehen viel fern.

Mit den Wochen blieb dann jeder immer öfter in seinem Zimmer. Sie haben einander lange gesucht, aber jetzt wissen sie nicht, was sie miteinander anfangen sollen. Es gibt nichts zu sagen. Sie leben still nebeneinander her, wie die Bewohner eines Seniorenstifts.

Wenn man so will, war das Schicksal nur einmal gut zu Regine Böhmer und Eva Hrasová. Es schenkte ihnen das Wiedersehen, nach 61 Jahren. Es schien wie eine Art Wiedergutmachung für all das verpfuschte Leben. Seitdem versuchen sie, dem irgendwie gerecht zu werden und Erwartungen zu erfüllen.

Regine Böhmer räumte zwei Zimmer ihrer kleinen Wohnung für eine fremde Frau und deren 50-jährige Tochter. Eva Hrasová ging zweimal zum Deutschkurs, den ihr die Innenbehörde vermittelte. Am ersten Tag hatte sie kein Papier und keinen Stift dabei. Sie hatte das vergessen. Am zweiten Tag legte sie ihre neue Federtasche auf den Tisch, bedruckt mit einem lachenden Fisch wie für ein Kind. Fizzy The Fish. Sie nahm den Platz ganz außen rechts, und wenn die Lehrerin in ihre Nähe kam, begann sie stark zu schwitzen. Sie saß dort, 70-jährig, zwischen jungen Menschen und verstand kein Wort. In der Pause ging sie hinaus und kam nie wieder.

»Ich schaffe das nicht mehr«, sagt Eva Hrasová. »Es ist nicht leicht mit Erika«, sagt Regine Böhmer.

Ein paar Blocks entfernt wohnt eine Bekannte von Regine Böhmer, die Tschechisch spricht. Eva Hrasová geht jetzt täglich zu ihr. Zum Deutschunterricht und wohl auch, um irgendwie anzukommen in Hamburg.

Die Frage ist, ob sie hier bleibt. Und ob diese Gegenwart nicht zu schwach ist für diese Vergangenheit. Die gemeinsame Geschichte ist irgendwo versandet. Die letzte Verbindung, die es gibt, sind fünf Jahre Konzentrationslager. Und letzte Zweifel gibt es auch, vielleicht ist doch alles nur ein Irrtum.

Es sei eigentlich die Idee ihrer Tochter gewesen, nach Hamburg zu ziehen. Die Tochter wollte gern nach Deutschland, sagt Eva Hrasová.

Sie kann sich jetzt vorstellen, wieder zurückzugehen nach Tschechien. »Wenn ich ehrlich bin: ja. Ich habe Sehnsucht. Ich habe dort schließlich mein ganzes Leben verbracht.«

Würden sie einander vermissen?

»Wir haben uns eigentlich nicht ein einziges Mal länger unterhalten«, sagt Regine Böhmer und schaut ihre Schwester an.

»Nein, nie«, sagt Eva Hrasová.

* Oben: 1943 in Remscheid; unten: in Bad Arolsen.

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