Elterncouch Zurück zum Kinder-Knigge!

Das Eigentum anderer achten? Auch dafür ist Erziehung da.

Das Eigentum anderer achten? Auch dafür ist Erziehung da.

Foto: Michael Meißner

Kinder sind manchmal wahnsinnig süß - und manchmal machen sie uns wahnsinnig. Für SPIEGEL ONLINE legen sich eine Mutter und zwei Väter regelmäßig auf die Elterncouch.

Juno Vai schreibt auf der Elterncouch  im Wechsel mit Theodor Ziemßen und Jonas Ratz.

Lehrer respektieren? Das Eigentum anderer achten? Für viele Kinder und Eltern eine spießige Idee. Erziehungsanarchie ist ja auch manchmal prima - aber eben auch das verstaubte Mantra: "Das tut man nicht!"

Neulich fuhr ich mit dem Fahrrad zum Amt. Als ich müde vom trüben Antragstellen wieder rauskam, bot sich mir folgendes Bild: Ein etwa siebenjähriger Junge war gerade dabei, gegen das Hinterrad meines Bikes zu treten. Nicht einmal verschämt, aus Wut oder Hinterlist. Nein, etwa 20-mal, beharrlich, systematisch, als wolle er genau beobachten, wie sich die Speichen langsam verbiegen. Seine Mutter stand seelenruhig daneben und lächelte nachsichtig.

Ich war fassungslos und überlegte, was zu tun sei.

a) lächeln und zeigefingerwackelnd "Du-du-du!" sagen
b) dem Bengel gegen das Knie treten
c) seiner Mutter gegen das Knie treten
d) die Polizei rufen
e) laut "Scheiße!" rufen

Die Tendenz ging eindeutig zu Antwort c), ich entschied mich aber für Variante e), erweitert um ein "Das glaub ich jetzt nicht" und ein paar lahme pädagogische Tipps für die Mutter. Sie quittierte diese mit einem genervten Augenaufschlag.

Mein konservatives Ich fragt sich: Wo ist es nur hin, das gute, alte "Das tut man nicht"? Jener moralische Imperativ, der an das unbewusste Wissen um Gut und Böse appelliert. Der naiv davon ausgeht, dass im Grunde jeder weiß, warum bestimmte Dinge zu unterlassen sind, wenn Gesellschaft funktionieren soll, im Großen wie im Kleinen.

Filzige Hunde, verlauste Katzen, gutes Benehmen

In dieser Hinsicht habe ich von meiner russischen Wahlfamilie am meisten gelernt. Da weiß die Babuschka immer, wann sie den Kindern sagen muss: "Nelsja, eto ne krasiwo" ("Lass das, das ist nicht schön") oder "Gospodi, kakie nekulturnye ljudi" ("Gott, was für unkultivierte Leute"). Ansonsten regiert eine Art fröhliche Anarchie gepaart mit einem tiefverwurzelten Respekt vor Bildung und gutem Benehmen, gern etwas verstaubt, 19. Jahrhundert.

Auf der russischen Datsche herrscht bis heute Sommer für Sommer das totale Chaos: ins Bett gehen, wann es beliebt, schlafen bis in die Puppen, Bonbons ohne Ende, filzige Hunde, verlauste Katzen, besoffene Nachbarn, das ganze Programm. Im Winter, zurück in der Großstadt, erzieht man die Kinder beflissen zu klugen, gut instruierten Europäern, die später an der slawischen Realität scheitern oder rechtzeitig auswandern. Das "Lass das, das ist nicht schön" aber bleibt - gepaart mit einer großen Toleranz für chaotische Zustände.

In meinem Umfeld scheint das Fünfzigerjahre-Mantra fast ausgestorben. Das verwundert nicht, kann doch ein Kind, das halbwegs bei Sinnen ist, auf ein "Das tut man nicht" nur mit einem kecken "Warum?" antworten. Die Antwort lautet seit Jahrhunderten "Weil das so ist!" - was idiotisch ist und unbefriedigend für beide Seiten.

Dennoch kann ich mich gut daran erinnern, dass das vage, dräuende Gefühl, etwas GANZ SCHLIMMES und FALSCHES getan zu haben, bei mir immer großen Eindruck gemacht hat. Ich habe dann sofort alles gelassen, was sich angeblich nicht ziemte. Die fehlende Logik in der Argumentation der Erwachsenen konnte meine Schuldgefühle dabei kein Stück ausbremsen. Meiner Tochter scheint es ähnlich zu gehen, eines ihrer Lieblingsbücher im Kleinkindalter war ein megaspießiger "Kinder-Knigge" aus dem Jahr 1967, den ich wegen der flotten Illustrationen mal auf dem Flohmarkt erstanden hatte.

Bitte und Danke? Typfrage

Die Langzeitwirkung des Benimmbuches war allerdings bescheiden - ich brauchte drei Jahre, um Vic dazu zu bewegen, Bitte und Danke zu sagen. Sie fand das irgendwie überflüssig. Mein Sohn hingegen verstand schon bevor er des Sprechens richtig mächtig war, dass die beiden Zauberwörter in Kombination mit einem Grübchen-Lächeln beim Erreichen kindlicher Nahziele wahre Wunder vollbringen können. Höflichkeit, so scheint es, ist auch immer eine Typfrage.

Dennoch wird man das Gefühl nicht los, dass derzeit selbst Minimalstandards eines friedlichen Miteinanders als überflüssig angesehen werden. Ich frage befreundete Pädagogen, wie sie es in der Schule mit dem "Das gehört sich nicht" halten. Bitteres Gelächter. "'Lass das'", meint ein Gesamtschullehrer, "sagen bei uns nur Schüler - wenn du sie vom Prügeln abhalten willst und sie mit dem Anwalt drohen, weil du sie dabei am Arm berührt hast."

In einer Welt, in der viele Schüler mit einer Schimpfwortdichte von "Fack ju Göhte" sozialisiert werden und nicht wenige zu Hause die Hosen anhaben, ist Respekt gegenüber dem Lehrer offenbar nicht mehr als eine sehr ferne, irrwitzige Idee. Das ist irgendwie traurig, auch für die Kinder selbst. Traurig für die Lehrer, deren Maßnahmenkatalog bei sehr schwierigen Kindern begrenzt ist. Und traurig für uns alle, wenn es generell an Achtung für Ältere mangelt.

Zur Autorin
Foto: Michael Meißner

Juno Vai,
Mutter von Vic (15) und Vito (12)

Liebstes Kinderbuch: der Pinguin-Comic von meinem Sohn

Nervigstes Kinderspielzeug: alles mit komplizierten Anleitungen

Erziehungsstil: Liebe, Verlässlichkeit, Respekt

Mein Sohn erzählte mir neulich ganz irritiert von einer Begegnung auf der Straße: "Da war diese alte Frau, die ist mir total aufgeregt um den Hals gefallen und hat immer wieder 'Hach, dass es das noch gibt' gerufen", berichtete Vito. War sie ein bisschen gaga, die Dame? Mitnichten. Sie hat sich einfach nur gewundert, dass ein wildfremder Junge ihr auf dem Bürgersteig einen schönen Tag gewünscht hat. Traurig.

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