Dauerhaft ist nur die Trennung
Die haben es drauf: Abends gehn sie auf die Rolle, und keinen kümmert es, wenn sie dann mal die Balance verlieren. Wochenends ist Treffen mit der Clique - raus zum Grillen oder rein in die Kneipe, und niemand will wissen, wo sie morgens wach werden. Die leben, und zwar, wie sie wollen.
So verjuxen die sogenannten Singles ihre Zeit in den Köpfen vieler Leute - ihr wahres Dasein sieht zwar oft anders aus. Aber eine Wucht sind sie schon.
An die zwölf Millionen gibt es derzeit davon in der alten Bundesrepublik, noch nicht gerechnet die neuen Länder, und diese Zahl wächst stetig. Um 58 Prozent ist der Anteil der Alleinlebenden in den letzten 17 Jahren gestiegen, und kaum ein Sommer verging ohne ausführliche Berichte darüber, wie es um sie steht. Kein Blatt, kein Sender hat die Singles in Ruhe gelassen, und die wissen nun alles über sich.
»Wer allein steht, ißt mehr Brot«, hat zum Beispiel die Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft ermittelt. Singles haben mehr Katzen als andere, und mehr Pikkolo-Sekt trinken sie auch. Über »die Freiheit der Single-Frauen« wußte Bild am Sonntag ganz aufregende Sachen: »Du kannst das letzte Bier im Kühlschrank trinken. Du kannst dir ein Poster von Götz George aufhängen. Du kannst deine Lieblingsschallplatte immer wieder spielen.« Und wer möchte so etwas nicht?
Das Bedeutsame an den Singles hat sich allerdings noch nicht herumgesprochen. Denn diese Alleinlebenden spiegeln nur die populäre Seite eines weitgreifenden Prozesses, der das menschliche Miteinander umzukrempeln scheint.
Vom Zerfall heimgesucht sind praktisch sämtliche Grundstrukturen des privaten Zusammenlebens, ob Familie oder Ehe, Verwandtschaft oder Partnerschaft. »Singularisierung« heißt das Phänomen bei den Sozialforschern - ein Trend zur Vereinzelung und zu neuen, komplizierten Daseinsmustern, die mehr Freiheit, aber auch mehr Fremdheit bringen.
»Eine dramatische Entwicklung in Richtung fortschreitender Auflösungstendenzen« meldet der Wiener Bevölkerungswissenschaftler Professor Wolfgang Schulz. Und in Zürich fragt sich der Soziologieprofessor Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny, »ob wir auf dem Wege zu einer autistischen Gesellschaft sind«, deren Mitglieder »mehr und mehr zu Einzelgängern werden«.
Wegweisend sind schon die Zahlen. Auf zwei Eheschließungen kommt inzwischen eine Scheidung, und parallel dazu wächst die Quote der unvollständigen Familien. Die Lust auf Wiederheirat ist rapide gesunken, ebenso der Drang nach einem ersten Versuch: Während zu Beginn der sechziger Jahre noch neun Zehntel aller heiratsfähigen Männer aufs Standesamt gingen, traut sich jetzt nur mehr gut die Hälfte. Ob nicht die alte Trauformel »bis daß der Tod euch scheidet« besser ersetzt werden sollte, überlegten Experten auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing - durch das unverbindliche Angebot »solange es gutgeht«.
Der Entschluß, sich nicht einmal darauf einzulassen, kann die Auflösung offenbar nicht aufhalten: Die Anzahl der unverheiratet Zusammenlebenden hat sich nach den Berechnungen des Wiesbadener Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung bereits zwischen 1972 und 1982 um explosive 565 Prozent erhöht, und inzwischen leben so mehrere Millionen.
Lange gut geht es bei denen aber auch nicht oft. Das Kunststück, zu zweit miteinander auszukommen, fällt heute offenbar vielen noch schwerer als sonst, und das will ja etwas heißen. »Das große Problem der privaten Existenz ist für die Menschen unserer Epoche die Partnerschaft«, sagt die Psychologin und Fachautorin Eva Jaeggi. An der Spitze des Problems befinden sich nach allem Anschein die Partnerinnen. Es sei davon auszugehen, erklären die Wiesbadener Forscher, »daß die aktuellen familialen Veränderungen, zu denen der beobachtete Anstieg der Alleinstehenden in den letzten 15 Jahren gehört, schwerpunktmäßig von Frauen ausgelöst wurden«.
Und die Hauptrollen in dem Auflösungsdrama haben die Städter. Von den 650 000 Münchner Wohnungen zum Beispiel sind 330 000 Einpersonenhaushalte, mehr als die Hälfte. In Hamburg sind 43 Prozent der Frauen und 59 Prozent der Männer zwischen 25 und 34 ledig. Aber die Deutschen werden mit ihrer Vereinzelung nicht allein gelassen.
Die Singularisierung macht sich bei den französischen Nachbarn breit und ebenso in Italien, wo der um die Mama kreisende Familienverband doch in Sicherheit schien. In Zürich lebt schon die Hälfte aller Bürger allein daheim, und soviel sind es auch in Paris - wo jetzt jede zweite Ehe in die Brüche geht.
Solo sind in den USA 4,4 Millionen Männer zwischen 25 und 44, und offenbar wollen sie dabei bleiben. Schockwellen löste dort eine Studie der Harvard-Universität aus, die zu dem Schluß kam, »daß viele Frauen, die alles zu haben scheinen - gutes Aussehen und gute Jobs, höhere Bildungsabschlüsse und hohes Einkommen -, nie einen Mann haben werden«.
Frauen mit College-Bildung, so hieß es, bleibe mit 35 nur noch eine fünfprozentige Chance zu heiraten. Und für eine 40jährige sei die statistische Aussicht, von einem Terroristen erschossen zu werden, größer, als einen Ehemann abzukriegen.
Binnen Tagen, so beschrieb das Nachrichtenmagazin Newsweek die Folgen dieser Botschaft, kam es zu »einer tiefen Vertrauenskrise unter Amerikas wachsendem Heer alleinstehender Frauen. Jahrelang hatten gescheite junge Frauen mit Single-Bewußtsein ihre Karrieren vorangetrieben - in der Annahme, daß sie dann, wenn es denn Zeit werde für einen Ehemann, sich einen greifen könnten. Sie lagen falsch«.
Von einer »um sich greifenden Zerbröselung der Gesellschaft« spricht der französische Kommunikationsexperte Bernard Cathelat. Die alten Gleise, auf denen der Bürger bis vor kurzem noch zuverlässig durch die Jahrzehnte holperte, sind einem verwirrenden Netz gewichen, und dauernd kommen Weichen. »Pluralisierung der Lebensformen« heißt das bei den Wissenschaftlern: die Form des Singles, freiwillig und aus mancherlei Zwängen, oder unverheiratet unter einem Dach; Ehe ohne Kinder oder »living apart together«, wie die Amerikaner die feste Beziehung mit getrennter Wohnung nennen; geschieden ohne Anhang oder alleinerziehender Elternteil und natürlich die überkommene Familie.
Und oft erlebt einer das alles nacheinander: »Es scheint fast so«, sagt der Pariser Professor Louis Roussel, ein Familiensoziologe, »als verfüge ein immer größerer Teil der Bevölkerung nicht nur über eine einzige kontinuierliche Biographie, sondern über mehrere unabhängige Lebenssequenzen.« Dauerhaft sind dann nur mehr Trennung und Wechsel - mit ständig neuen Rollen, sich wandelnden Milieus und immer anderen Beziehungen, die ohne Gewähr sind, markiert von Widerruf, Auflösung und Neubestimmung.
Dabei sieht es so aus, als passe den Leuten die ganze Richtung nicht. Immer dann, wenn die Demoskopen nach der Wertschätzung von Ehe und Familie fragen, sind Mehrheiten darauf gut zu sprechen: Das ist es, sagen sie, so sollte man leben. Aber sie leben oft anders.
Regierungsnahe Institutionen und auch manche Forscher haben dann ihre Freude an soviel Zustimmung für das Hergebrachte - so schlimm, wie die Rede sei, stehe es ja gar nicht um die gute Bürgerlichkeit. »Dieser Optimismus«, rückt der Wissenschaftler Schulz zurecht, »steht immerhin im Gegensatz zu schwerwiegenden Veränderungen traditioneller Verhaltensweisen.« Im übrigen ist den Experten das Phänomen vertraut: Ehrwürdige Richtwerte, an die man sich längst nicht mehr hält, werden gleichwohl noch laut beschworen.
»Die Leute denken, sie sehen Abweichungen von der Norm«, beschreibt Peter Morrison, Bevölkerungsexperte bei der amerikanischen Rand-Corporation, den Zustand, »aber die Abweichungen betragen jetzt 75 Prozent von der Norm.«
Diese Zerbröselung, der Zerfall großer Gruppen in lauter Einzelwesen, die zeitweilig einander begegnen - das begleitet, und hier ist sich die Fachwelt ziemlich einig, den kulturellen Umbruch, der die hochentwickelten Gesellschaften des Erdballs allenthalben aus dem Tritt bringt. »In vieler Hinsicht befinden wir uns schon in einem Wertechaos«, sagt der Wiener Sozialforscher Leopold Rosenmayr, »wir wissen gar nicht mehr, was wir in welcher Situation von Mitmenschen erwarten dürfen, und das alles in einer von Orientierungsschwächen und von tiefen Zweifeln umstellten Zeitlandschaft.«
Woran genau es nun aber liegt, daß die Familie so abbaut, Paare nicht mehr heiraten und die Singles sich vermehren, wird bislang nicht bündig beantwortet. »Zur Erklärung herangezogen«, so resümieren die Wiesbadener Wissenschaftler den Stand der Erkenntnis, werden »der Wertewandel der letzten Jahrzehnte, insbesondere der mit der Ehe verknüpfter geschlechtsspezifischer Erwartungen, die Säkularisierung der Ehe und die Liberalisierung der Sexualmoral, der allgemein gestiegene Wohlstand, der ,teure' Wohnformen in Einzelwohnungen erlaubt, die zunehmende Verstädterung und die steigenden beruflichen Anforderungen an Mobilität, zunehmende Individualisierung und ein allgemeiner politischer Institutionenprotest« - ein Sammelsurium also von sozialpsychologischen, moralischen, wirtschaftlichen und politischen Beweggründen oder Voraussetzungen.
Scharen von gradlinig und quer denkenden Autoren haben sich unterdessen über den Zeitgeist hergemacht. Diskutable Deutungen sind dabei herausgekommen und dicke Wolken. Frauen machten Männern den Prozeß, und mancher Mann verging sich am eigenen Geschlecht. Greifbar ist, was die Sozialwissenschaftler an Haltungs- und Handlungsmustern zutage förderten; sie können mit ihrer Arbeit noch nicht zufrieden sein, aber ein paar Wegmale in dem Durcheinander haben sie doch gesetzt.
Vielleicht ging alles zu schnell, denn die massenhafte Abkehr von der alten Bürgerlichkeit vollzog sich in nur knapp zwei Jahrzehnten, und das ist, gemessen an anderen kulturgeschichtlichen Prozessen, eine beispiellos kurze Zeit. Eine allmählich gewachsene Strömung - fort von Gemeinschaften und Abhängigkeiten, religiöser Bindung und unverrückbaren Weltbildern, hin zu einer individuellen und autonomen Daseinsgestaltung - mündete in einem jähen Absturz sozialer Normen. Mitte der sechziger Jahre, gleichsam über Nacht, war der Wertewandel da.
Er befiel die Deutschen in der längsten Aufwärtsbewegung ihrer Wirtschaftsgeschichte. Der Kampf ums Überleben war wohl gewonnen, und »zum ersten Mal«, sagt die Münchner Professorin Elisabeth Beck-Gernsheim, konnten »für breite Gruppen Fragen aufkommen, die über die unmittelbare Existenzsicherung hinausreichten« - so schwere wie die: »Wer bin ich? Und wozu bin ich da?«
Zu allem Überfluß, der etwa das unabhängige Wohnen ebenso erlaubte wie die Teilhabe an einem wuchernden Dienstleistungssystem, kam die Bildungsexpansion. Immer mehr junge Leute und darunter auch immer mehr Frauen waren dem Zwang entronnen, früh Geld zu verdienen. Der Gebrauch des Verstandes auch zum Zwecke des Nachdenkens wurde zum schichtübergreifenden Phänomen. Und spätestens mit dem Aufbegehren der Studenten am Ende dieses Jahrzehnts kam es heraus, daß der Mensch bis dahin nur ein Produkt vielfältiger Einflüsse und zeitlebens fremdbestimmt war.
In den Spielräumen, die nun aufgemacht wurden, war Platz für mehr als Heiraten und Kinderkriegen. Im Leben, so war unter anderem zu hören, gehe es vor allem darum, sich selbst zu verwirklichen. Und da half es gar nichts, wenn Johannes Gross in der Frankfurter Allgemeinen zu bedenken gab, doch vorsichtshalber »das Selbst zu prüfen, ob es sich zu verwirklichen überhaupt lohne«.
Sehr im Wege waren bei der Suche nach dem wahren Ich die sogenannten Pflicht- und Akzeptanzwerte, die das Tun und Lassen früherer Generationen bestimmt hatten: Disziplin und Fleiß, Autorität und Unterordnung und all das, ohne groß nachzufragen. Emanzipation sowie Selbstentfaltung besetzten nun die Gemüter, und Gefühle hatte man auszuleben.
Ob durch diesen Austausch die eigene Identität zum Vorschein kommt, steht noch immer nicht fest. Die Vielzahl der Vorschläge, die inzwischen zwecks Selbstfindung auf den Bücher- und Medienmarkt geworfen wurden, stimmt eher skeptisch. Langfristige Wirkungen auf die innere Verfassung aber sind offenbar damit verbunden.
Bei ihrer Standardumfrage nach dem Sinn des Lebens erkannten zum Beispiel die Demoskopen von Allensbach zwischen 1974 und 1986 eine »eindeutige Tendenz zu einem immer stärkeren Selbstbezug der Menschen (um nicht Egoismus zu sagen)« und einen »Trend zur Konzentration auf das eigene Glück«. Harmonisch fügt sich in dieses Bild die Hinwendung zum Individualismus - eine Haltung, die beispielsweise den Erlebniswert einer Sache hoch veranschlagt, bei wirklich oder vermeintlich wesentlichen Fragen nur die eigene Antwort duldet und die wählerisch macht beim Knüpfen menschlicher Kontakte. Bindungen sind bei diesem Kreuzzug nach Autonomie nur noch angebracht und zu bewahren, wenn sie der eigenen Wohlfahrt entsprechen, nicht etwa irgendeiner Verantwortung.
Der Umsturz der Werte im Bunde mit neuen ökonomischen und sozialen Entfaltungsmöglichkeiten bescherte dem endlich entfesselten Zeitgenossen eine Inflation an Handlungsperspektiven, die von Bildungs- und Medienbetrieb zügig in Gang gehalten wird. In der alten Welt waren einer Gestaltung der eigenen Biographie meist enge Grenzen gesetzt. Oft bestimmte schon die Hausnummer, hinter der einer geboren wurde, den weiteren Lebensweg. Doch in der neuen Vielfalt der Optionen kann sich einer auch leicht verheddern.
Mühsamer noch als für den progressiven, unbeirrt zu sich selbst schreitenden Mitmenschen mag das für einen Typus sein, der dem Sozialforscher Helmut Klages begegnete. Zwar schließen sich die Pflicht- und Selbstentfaltungswerte im Prinzip aus, doch der Professor fand bei den Studien zu einem Standardwerk über den Wertewandel auch »beträchtliche Gruppen von Menschen vor, welche beide Werte-Gruppen in hohen oder auch in niedrigen Ausprägungen besaßen«, und obendrein gebe es »die verschiedenartigsten Mischungsverhältnisse«.
Anders gesagt: Viele Leute sind durcheinander, und zu den Folgen der dauernden Suche nach »handlungsleitenden Orientierungen« zählt der Konstanzer Sozialwissenschaftler Michael Wehrspaun, daß die Ergebnisse dann individuell sehr verschieden ausfallen - was gemeinsames Leben mit einem anderen schwieriger und manchmal unmöglich macht. Durch die ständige Korrektur sei »die Einrichtung und Aufrechterhaltung einigermaßen stabiler Lebensformen offenkundig zum großen praktischen Problem geworden«.
Verschärft werden die Probleme zumeist in der Arbeitswelt der freien Wirtschaft. Denn die hat sich dem Wertewandel weitgehend widersetzt und baut unverändert auf Leistung und Pflichterfüllung. Und manch einen legt die Öffnung des privaten Daseinsbereichs - der nun aber auch persönlich auszufüllen ist - auf die Couch: Das »Leiden am sinnlosen Leben« hat der angesehene österreichische Psychotherapeut Viktor E. Frankl als eine Zeitkrankheit erkannt. Der typische Patient von heute schleppe »an einem abgründigen Sinnlosigkeitsgefühl, das mit einem Leeregefühl vergesellschaftet« sei.
Der Mischmasch von Normen zieht sich quer durch die Generationen. Wohl wurden unterdessen Wendezeiten ausgerufen, doch ob einer darauf hört, steht in seinem Belieben. Die Pflicht- und Akzeptanzwerte sind zu einer ganz privaten Angelegenheit geworden - geeignet für den Fall, daß es Spaß macht, und gewiß auch zum Geldverdienen. Da mag es denn Mode werden, enthaltsam zu leben oder wieder Kinder zu kriegen - wenn es nur ja der Entfaltung dient. Eine Wiederkehr der »ehemaligen Fraglosigkeit und Unbedingtheit der Wertgeltung« jedoch, so resümiert Klages, sei nicht zu erwarten.
Gewiß waren es nicht allein diese moralischen Verwerfungen, die jenen Auflösungsprozeß besorgten. Äußere Bedingungen haben diese Entwicklung begünstigt und oft erst zugelassen; diffuse Stimmungen mögen mitgeholfen haben, etwa diese »immer wieder offen zutage tretende Angst«, wie Leopold Rosenmayr vermutet, »die die praktische Verläßlichkeit im Lebensalltag, die bejahten und kontinuierlich verfolgten Lebensziele, die Solidarität, die Verbindlichkeiten bedroht«.
Aber er ist sich sicher, daß die Normenbrüche der sechziger Jahre »tiefer in das Selbstverständnis der Menschen und damit in ihre Liebes-, Intim- und Vertrauensbeziehungen in Partnerschaft und Familie« eingegriffen haben als im Jahrhundert davor die Industrialisierungs- und Verstädterungsphase. Weithin einig sind sich die Gesellschaftsforscher in der Bewertung des Beitrags, den die Frauen in die neue Labilität des Zusammenlebens eingebracht haben - und der wohl unvermeidlich war. »Die Frauen«, so sagt nun die Oldenburger Professorin Rosemarie Nave-Herz, »sind die Unzufriedeneren« in der Beziehungskiste, »das belegen alle Studien, auch in anderen Ländern«.
Zur gleichen Zeit, da sich unter den hochentwickelten Völkern die Orientierungsmuster verformten, kündigten Frauen - und vor allem die jungen - in breiter Front ihre traditionelle Rolle auf: Es paßte wie die Faust aufs Auge. Ein weiteres, diesmal geschlechtsspezifisches Ich-Bewußtsein stellte sich ein. Für die Partnerschaft wurde die Durchsetzung »eigener Bedürfnisse« und des »persönlichen Glücks« proklamiert, und man hätte meinen können, die Selbstverwirklichung sei eigens für die Frau erfunden worden.
Eine Flut von Frauenliteratur und einschlägiger Medienbeiträge wies den Weg in die Befreiung, und die Titel mancher Bücher waren programmatisch: »Nun aber ich selbst . . .« Und an den extremen Rändern der Emanzipationsbewegung fand sich der Mann als ein Monstrum wieder, zum menschlichen Zusammenleben gänzlich ungeeignet. »Die Suche nach der eigenen Identität«, beschreibt es Elisabeth Beck-Gernsheim, »führt in eine pauschale Abgrenzung gegen Männer hinein, und der Blick wird, den Gesetzen der Reaktionsbildung folgend, einseitig verengt auf die eigenen Rechte.«
Gleichberechtigung geriet - jenseits der überfälligen in der Arbeitswelt und im gesellschaftlichen Leben - tief in die partnerschaftlichen Handlungsfelder und nahm dort zuweilen seltsame Gestalt an. Die überkommene Zuständigkeit für den emotionalen Teil der Beziehung zum Beispiel wurde umständehalber abgegeben. Einfühlsam und sanft, so wollte es das neue Verständnis, hatte nun auch mal der Herr Partner zu sein.
Andererseits durfte er sich nicht ganz vergessen, denn »die Vorstellung, der Mann solle überlegen sein, ist nach wie vor vorhanden«, schloß 1975 die Sozialforscherin Elisabeth Pfeil aus einer Studie. Und auf derlei »normative Ambivalenzen« weist in ihren neueren Arbeiten auch die Kollegin Nave-Herz hin: So werde »zwar auf der Wertorientierungsebene gleiche allgemeine Entscheidungsmacht zwischen den Geschlechtern« gefordert, aber »gleichzeitig hält man vielfach an der ,legitimen Autorität des Mannes' und - seitens der Frauen - an dem Prinzip des ,Aufsehen-Könnens' zum Manne fest«.
Bocksprünge, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, auch in den Betten. Einerseits galt es, die weibliche Sexualität zu befreien, wurde das Recht auf Orgasmus eingeklagt. Die männliche Begierde wiederum war prinzipiell des Teufels und Ausdruck der schon immer betriebenen Ausbeutung der Frauen durch den Mann.
Es gab und gibt mehr davon, und natürlich: Ohne ihre Widersprüche und Provokationen hätte diese fundamentale Einforderung von Rechten gar nicht auskommen können. Den Umgang miteinander und die allseits kompliziert gewordene Interpretation des Alltags hat das aber sicher nicht leichter gemacht.
Zugewinn bekam der ja ohnehin reichliche Vorrat an Reibungsflächen in der Paarbeziehung, und Helmut Klages kam in seiner Werte-Untersuchung zu »Daten, die anzeigen, daß sich zunehmend viele Frauen in Partnerschafts- und Ehebeziehungen in einer permanenten Abwehrstellung gegenüber der männlichen Seite befanden«.
Das Imperium schlug keineswegs zurück. »Daß jeder Mann«, so maulte da mal einer im Sonntagsblatt, »der eine Frau verläßt, eine miese Type ist, wohingegen jede Frau, die einen Mann verläßt, den goldenen Pfad zur Selbstverwirklichung betreten hat, leuchtet mir nicht ganz ein.« Im übrigen jedoch erlebten weite Teile der Männerwelt den Aufbruch der anderen Seite eher verdattert und allenfalls verdrossen.
Unverändert gilt auch für die »nichtehelichen Lebensgemeinschaften«, was in einer Studie des Bonner Familienministeriums steht: daß »die weiblichen Partner sozusagen den ehefeindlichen ,harten Kern' ausmachen«. Der begründete Verdacht, eine allzu feste und womöglich amtlich bescheinigte Verbindung könne der eigenständigen Lebensplanung im Wege sein und schließlich am Herd enden, hat offenbar Bestand.
Die Fahndung nach dem geschlechtsspezifischen Selbst, mit unvermeidbaren Folgen für die Zweisamkeit, ist jedenfalls noch nicht abgeschlossen. Den Frauen, so erklärt die Professorin Nave-Herz jene Ambivalenzen, »fehlt es an Leitbildern«. Und das Leitbild Familie, nach außen hin noch immer ein hohes Ziel, kommt dafür nicht mehr in Frage, denn es hat seine Anziehungskraft für einen zunehmenden Teil der hochentwickelten Mitbürger verloren.
Schon zu Beginn der Auflehnung gegen die Institutionen, die den Normenprotest begleitete, stand das traute Heim im Feuer. Und die Jugendrevolte in den späten Sechzigern ließ wissen, daß die Familie zu den gräßlichsten Einrichtungen überhaupt gehört, von Natur aus reaktionär und repressiv.
Heutzutage ist Familie für manchen nur mehr ein Zwischenstopp, für viele kein Thema mehr. Sie leidet, sagt Professor Hans Bertram, Chef des Deutschen Jugendinstituts in München, »unter einer Schwächung sozialer Lebenszusammenhänge infolge zunehmender Individualisierung; die Einbindung in familiäre Netze nimmt ab, und immer mehr Menschen suchen nach außerfamiliären Lebensformen«.
An gesellschaftlichem Stellenwert, als Kulturträger und Instanz für die Sozialisation allerdings hatte die Familie schon mächtig eingebüßt, bevor der Werte-Umbruch auch über sie herfiel.
Bereits im Zuge der Industrialisierung und Verstädterung waren zahlreiche wirtschaftliche, rechtliche und soziale Leistungen des Familienverbands an die öffentliche Hand genommen worden. Unsere Gesellschaft, erklärt Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny, habe »Strukturen entwickelt, die ,Gemeinschaften' für die persönliche Lebensführung und -gestaltung entbehrlich erscheinen lassen«.
Von Zeit zu Zeit ist Gegenwind zu spüren, setzt es Appelle zu mehr Gemeinsinn und Selbsthilfe, etwa für Alte und Abhängige. Das gibt es auch noch, und zwar zum Wohle des Staates, dem dank privater Mühe ein paar Millionen sozialer Notfälle erspart bleiben. Doch schon die demographische Entwicklung - immer mehr Greise, weniger Kinder - nimmt dem die Zukunft, und der Titel, den der Soziologe Wolfgang Schulz einem Aufsatz voranstellte, trifft den ganzen Trend: »Von der Institution Familie zu den Teilbeziehungen zwischen Mann, Frau und Kind«.
Was die Teilung wohl vorantreiben könnte, untersuchte der Kölner Professor Henning Günther an einer Auswahl von 25- bis 45jährigen Bundesbürgern, verheiratet und mit Kind. Und wie diese Leute an ihre Ehe und den Nachwuchs gekommen sind, möchte man schon wissen: 86 Prozent strebten nach Freiheit und Unabhängigkeit, und für mehr als zwei Drittel war eine Selbstverwirklichung wichtiger als die Familie.
Kinder, so ermittelte Günther, wurden von vielen als Beschränkung empfunden; keine Frage zudem, daß sie nicht nur materielle Minderung bedeuten, sondern im derzeitigen Wertebild auch Selbstentfaltung und Emanzipation über den Beruf behindern. Weder die Arbeitswelt noch das öffentliche Betreuungssystem sind auf erwerbstätige Mütter eingerichtet.
Auf 1,7 Kinder pro Paar ist der Bundesdurchschnitt inzwischen gesunken - eine Mehrheit von Einzelkindern. Tanten und Onkel, Vettern und Cousinen zählen nun zu den bedrohten Arten der Gattung Familie, und Geschwister, deren Bedeutung für die Sozialisation von den Fachleuten hoch eingeschätzt wird, sind schon weithin unbekannte Wesen.
Spitze der Singularisierung: Wenn zwei Einzelkinder heiraten, deren Eltern auch Einzelkinder waren, dann haben die nach dem Tode ihrer Eltern keinen einzigen Verwandten mehr - vielleicht zu ihrem Glück, auf jeden Fall aber ist es eine Lebenslage, die sich häufen wird.
Fraglich ist allerdings, ob sie denn überhaupt noch heiraten wollen. »Die Institution Ehe«, schreiben die Wiesbadener Forscher, »erweist sich zunehmend als obsolet« - und wenn geheiratet wird, so immer öfter nur dann, wenn ausdrücklich ein Kind erwünscht ist.
Schuld daran ist die Liebe. Denn der ist in den letzten Jahrzehnten eine Glanzrolle zugefallen, die sie vorher nur selten gehabt hat. Sicher war dieses große Gefühl, bei dem einem die Worte fehlen, oft mit dabei, wenn geheiratet wurde. Doch fast immer war es eingebettet in ein Koordinatensystem, an das Paare sich halten konnten und oft genug halten mußten - materielle Aspekte oder der gleiche Glaube, die soziale Zugehörigkeit und vor allem eine wechselseitige Abhängigkeit und Absicherung von Mann und Frau gegen die Forderungen des alltäglichen Daseins.
In der säkularisierten, liberalisierten und vom Wohlstand umgebenen Gesellschaft haben diese Stützpunkte weithin an Bedeutung verloren; verblieben ist die menschliche Zuwendung - die nun alles allein machen muß. »Die Ehe«, sagt Rosemarie Nave-Herz, »wird bei uns derart überfrachtet mit Erwartungen, mit immateriellen Leistungsansprüchen, daß es leicht in Überforderung umkippt.«
Zwar sind noch Rahmenbedingungen erwünscht: Treue und gegenseitige Achtung, glückliche sexuelle Beziehungen und gemeinsame Interessen gelten etlichen Untersuchungen zufolge als Grundlagen einer erfolgreichen Ehe. Langfristig aber geht es nicht ohne den inneren Kraftschluß.
»Dauerhafte Beziehungen allein auf der Basis von Emotionen aufzubauen«, sagt der Zürcher Hoffmann-Nowotny, »das hat es nie in der Geschichte der Menschheit gegeben.« Stets und bis in die fünfziger Jahre hätten Normengerüst und gegenseitige Bedürftigkeit jene Gefühlsleere, die nicht selten der Herzenssache folgt, überbrücken können. »Man konnte zusammenbleiben, auch wenn es mit der Liebe vorbei war.«
Der wahren Liebe aber ist nun nicht nur deren wankelmütige Natur gefährlich, nicht minder auch das freiheitliche Menschenbild. Seit die Gestaltungsvielfalt herrsche, sagt Elisabeth Beck-Gernsheim, sei nicht allein »der einzelne auf immer mehr Ebenen mit Entscheidungen konfrontiert«, sondern auch der Zweierbund; »denn dann müssen bei allen Fragen, die direkt oder indirekt den Partner betreffen - vom Fernsehprogramm bis zum Urlaubsziel, von der Wohnungseinrichtung bis zur Erziehung der Kinder -, die Vorstellungen und Wünsche, Gewohnheiten und Normen gleich zweier Personen in den Entscheidungsprozeß eingespeist werden«. Die Folgen sind absehbar: »Je höher die Komplexität im Entscheidungsfeld, desto größer auch das Konfliktpotential in der Ehe.«
Für eine solche Mühsal aber braucht man nicht die Erlaubnis vom Standesamt, die auch nicht mehr nötig ist, um in Liebe zusammenzuwohnen. Und dieser Gedanke leitet offenbar immer mehr Paare in die nichteheliche Lebensgemeinschaft, auch wilde Ehe genannt. In Frankreich etwa hatte sich die Zahl der ungetraut in einem Haushalt Lebenden bereits zwischen 1972 und 1982 verdoppelt, in Westdeutschland sogar verdreifacht. Neuere Rechnungen gehen von rund drei Millionen Bundesbürgern aus, die wild beisammen sind.
Ehe sei eben schwerer geworden, sagt der Stuttgarter Familienforscher Professor Max Wingen, und mehr als früher komme es darauf an, »daß die Partner in ihren Eigenschaften und Vorstellungen zueinander passen«. Er vermutet allerdings auch noch andere Gründe, die der amtlichen Bescheinigung entgegenstehen: die Bestimmungen des Scheidungsrechts »über die nacheheliche Unterhaltsgewährung mit ihren nachhaltigen Auswirkungen auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse«.
»Angst-Konkubinate« nennen die Fachleute das, doch in den Scheidungsquoten scheinen sich die beiden Lebensweisen nicht viel zu geben. Sozialforscher gehen davon aus, daß Trennungen unter den Gesetzlosen eher noch häufiger vorkommen, und in diese Richtung weist auch eine Langzeitstudie der Universität von Wisconsin mit 13 000 Paaren. Danach ist bei Eheleuten, die vor der Heirat zusammengelebt haben, die Wahrscheinlichkeit einer Scheidung in den ersten zehn Jahren doppelt so hoch wie bei denen, die bis zur Trauung allein wohnten.
Was bleibt da noch für die freischwebende Partnerschaft, die nicht unter einem Dach stattfindet und doch aus irgendeinem Grunde und vielleicht auch der Liebe wegen entstanden ist? Unverbindlich ist schon das Wort. Partnerschaft, das bedeutet für Günter Graß nur noch »Umschreibungen eines Verhaltens zueinander, das bindungslos ist, jederzeit auflösbar, von Vorsicht diktiert. Nur nicht sich aufeinander einlassen«.
Am Anfang, wir kennen das, läßt die Himmelsmacht schweben: Ein »relativ hohes Maß an Zufriedenheit« bei den jungen Paaren registriert eine Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts für die Brigitte, weist aber dann darauf hin, daß sich im Laufe der Zeit »Dissonanzen entwickeln« und sich bei Studien mit Älteren »mehr Konflikte und Unzufriedenheit zeigen, besonders bei den Frauen«.
Die Schwelle, an der Paare sich wieder trennen, ist jedenfalls so niedrig wie nie - als sei das nach ein paar Versuchen mit Sicherheit zu schaffen: den absolut Richtigen oder die ganz und gar Passende zu finden. Schwer genug ist es ja schon, sich darüber Gewißheit zu verschaffen, und sei es auch nur für eine Weile, was überhaupt richtig und passend sein könnte. Der Entzug der altbackenen Orientierungshilfen, so glaubt Jürg Willi, Schweizer Psychiater und Buchautor über die »Zweierbeziehung«, sorge eher für »eine hypothetische Freiheit«, die »oft mehr verunsichert als glücklich werden läßt«.
Wieviel Raum wohl bleibe in der selbstentworfenen Biographie mit all ihren Zwängen, fragt sich Elisabeth Beck-Gernsheim, »für einen Partner mit eigenen Lebensplänen und Zwängen? Muß der andere hier nicht zur ,Fremderwartung', ja zum ,Störfaktor' werden?« Und wie oft »müssen Situationen enstehen, wo selbst bei bestem Willen auf beiden Seiten letztlich doch zwei Monaden miteinander verhandeln: die nicht ein gemeinsames Universum aufbauen, sondern ihre getrennten Universen verteidigen?«
Seltsamerweise begeben sich die Monaden oft mit höchsten Glückserwartungen in die einsame Zweierbeziehung, es geht um Qualität: »I'm okay you'd better be perfect«-Syndrom nennt das der Amerikaner William Novak, Autor des Bestsellers »The Great American Man Shortage«. Ein Mädchen hat einen Mann getroffen, beschreibt die Frauenzeitschrift New Woman mit sanfter Ironie diese Position, die neben der wahren Liebe noch andere Dinge in Betracht zieht - den hat sie schon immer gesucht. Aber sechs Wochen später, als jemand Betsy nach ihrem Traummann fragt, sagt sie verwundert: »Welcher denn? Ach der. Also . . .« Wie sich herausstellt, war er »immer noch innerlich mit seiner letzten Liebe beschäftigt, befrachtet mit Unterhalt für ein Kind, schließlich doch nicht so gut im Bett, zu sehr mit seinem Beruf verwachsen, nicht erfolgreich genug - du sagst es«.
Leibhaftig erschien so jemand einer Mitarbeiterin der Frankfurter Rundschau. Mit Männern, die sie nur zu Dreivierteln mochte, so erläuterte da eine Psychologin in mittleren Jahren, habe sie schlechte Erfahrungen gemacht: »Ich bin eine interessante, erwachsene Frau, und so einen Partner möchte ich auch haben. Ich hab' da ein Bild im Kopf: ich bin eine Prinzessin und möchte auch einen Prinzen.« Wie, so fragt da die Autorin Heide Soltau, der das nicht als Einzelfall erschien, »sollen eigentlich die Männer beschaffen sein, die sich diese Frauen erträumen?«
Prinz und Prinzessin müssen sich überdies in der Quadratur des Kreises auskennen. Bei der Untersuchung über die nichtehelich Zusammenlebenden für das Bonner Familienministerium stießen die Rechercheure dauernd auf zwei Wunschvorstellungen, »die im Alltag des Zusammenlebens oft schwer zu vereinbaren sind«. Einerseits legten die Paare, die sich da doch wenigstens halbwegs au feinander eingelassen hatten, »größten Wert auf Gemeinsamkeiten im Tun, Fühlen und Denken«. Andererseits gehörte es »zu den zentralen Forderungen an die Partnerschaft, daß sie beiden Partnern einen größtmöglichen Freiraum gewährt«.
Das will erst gelernt sein, und weil die Fähigkeit zum Kompromiß in den dynamischen Zeitläufen immer seltener geworden ist, sollen deutliche Worte die Widersprüche klären. Ein weiterer Bereich, ermittelten die Bonner Forscher, »in dem partnerschaftliche Wertvorstellungen und die Realität des Zusammenlebens auseinanderfallen«, sei das Verlangen »nach offener Auseinandersetzung über anstehende Konflikte«.
Die »Verbalisierung von Emotionen«, so bestätigt die Oldenburger Professorin Nave-Herz, habe in den vergangenen Jahren enorm zugenommen, »bei Frauen noch mehr als bei Männern«, und besonders den Männern, so ist zu erfahren, fällt die endlose Sabbelei schwer. Sie neigen dazu, sagt die Ministeriumsstudie, »Unverträglichkeiten auszublenden und die Beziehung durch eine innere Haltung der Loyalität zu erhalten«.
Ob sich lose verbundene Einzelwesen durch die Verbalisierung tatsächlich näherkommen, ist weder den Fachschriften noch der populären Literatur eindeutig zu entnehmen. Der Frankfurter Psychoanalytiker Michael Lukas äußerte in dem Periodikum Psychologie heute dazu seine Zweifel - »weil ständig versucht wird, dem anderen klarzumachen, wie er eigentlich fühlt und wie er sein müßte«.
Die Chancen, vom Trend zur Singularisierung berührt zu werden, sind unterschiedlich: Stadtleben, höhere Bildung und eine günstige soziale Grundausstattung machen besonders anfällig für den unverbindlichen Umgang mit Menschen und Maßstäben und für das Risiko, auf eine Weile oder dauernd mit dem Ich unter sich zu sein. Im Arbeitermilieu des Ruhrgebiets hingegen und im ländlichen Südbaden trafen die Wiesbadener Bevölkerungsforscher in einer weiteren Untersuchung »noch häufig das traditionelle Muster« an, wonach zum Beispiel »es selbstverständlich ist und keinerlei Begründung bedarf, daß man heiratet«.
Das Rollenverständnis von Mann und Frau hat dort nahezu ungebrochen den Umsturz überstanden, und darüber, wer nun was erledigt, wird nicht lange verhandelt. Seitensprünge etwa werden keinesfalls als kleine Unfälle oder unvermeidliche Geschehnisse im Zuge der Selbsterfahrung betrachtet.
»Ach nä«, sagt da im Kohlenpott eine Mutter von zwei Kindern über die modernen Zeiten, »wenn man jetzt so inner Ehe streitet, und man sacht mal, dat funktioniert nich mehr, muß man vorn Richter. So - im Endeffekt jetzt das Gröbste, wat et gibt, ne. Und so, wenn man eben so zusammenlebt, kann man eben sagen, hör mal, dat geht nich mehr, wir tun uns eben, wir trennen uns nur'n bißchen, mal kucken, ob wir Abstand gewinnen und ob dat dann wieder funktioniert. Dat kann man inner Ehe nich. Da kann man nich einfach sagen, hör mal, ich hör' jetz mal auf, ich spiel' jetz mal nich mehr Ehe, ich bin jetz mein eigener Mensch.«
Wer in Hamburg oder Frankfurt wohnt, kann sich über solche Antiquitäten nur wundern, und im Berliner Akademikermilieu oder unter den arrivierten Angestellten in Münchner Vorstädten trafen die Rechercheure so etwas kaum noch an. Dort »ist das Modell von ,temporärer Partnerschaft' für viele zu einer praktizierbaren Vorstellung« geworden, und der »wichtigste Trennungsgrund besteht in dem Auseinanderstreben der jeweiligen Lebenswege und -entwürfe«.
Jene Frau »inner Ehe« und diese temporär Gestimmten - sie sind Teile eines komplizierten Puzzles, in das sich Privatleben binnen weniger Jahrzehnte zerlegt hat. Voraussetzung waren ein jäher Wandel des Sozialklimas von temperierter Bürgerlichkeit zu weitreichender Permissivität, die Abkehr von einengender Norm und die Hinwendung zur Autonomie. Die Ausbreitung des Wohlstands und der Anstieg des Bildungsstandes boten das Bedingungsgefüge für diese Wendung; Schubkraft verliehen ihr die Frauenbewegung und die Liberalisierung der Sexualmoral.
Die wissenschaftlichen Streifzüge durch diese gesellschaftliche Landschaft und sozialpsychologische Deutungen hinterlassen noch manchen weißen Flecken. Und selbstverständlich erfaßt die Draufsicht nicht alle Individualität, verwischen sich dabei leicht die Nuancen des mitmenschlichen Umgangs. Dem Raster entgehen Paare, die sich umeinander bemühen und auch den jeweils anderen finden möchten, ebenso wie die intakte Familie, die mit sich zufrieden ist und die es ja auch noch gibt, oder jene, die durchs Leben geschoben werden und am Ende nicht wissen, was mit ihnen geschehen ist.
Eine allgemeine Verbreitung neuer Handlungsmuster und Daseinsentwürfe aber ist unverkennbar, und nicht zu übersehen sind die Pluralisierung der Lebensformen und die Auflösung familiärer Verbände in Teilbeziehungen, zunehmende Vereinzelung und wachsende Distanz zueinander.
Auffälligste Folgeerscheinung ist vorerst der Single - ein untauglicher Sammelbegriff für eine überaus verschiedenartige Gruppierung. Da ist das Heer der Geschiedenen und Beziehungsgeschädigten jeglichen Alters, es sind Kontaktarme und Eigenbrötler, betagte Witwen und verbissene Workaholics, wohl viele, die den Partner einfach nicht finden, und welche, die aus Überzeugung allein bleiben. Und darunter ist mancher mit einer selbstgefertigten Single-Philosophie, weil das Solistenleben dann leichter zu tragen ist.
Mit dem lustigen Single-Leben ist es, wie etliche Untersuchungen zutage förderten, nicht so weit her. Nach allem, was man wisse, sagt Rosemarie Nave-Herz, »ist der Bekanntenkreis gar nicht derart groß« und die muntere Clique keineswegs die Regel.
Und daß die Mehrheit der Singles aus freier Wahl hervorgegangen ist, darf bezweifelt werden. Mehrheiten bekunden statt dessen, wenn sie befragt werden, daß sie gern einen festen Partner hätten. Klappt es dann anscheinend, stellt sich womöglich wieder das autonome Ich in den Weg und bereitet die Trennung vor - ein sich selbst fütternder Prozeß.
Natürlich gibt es den fidelen Single, der sich jeden Tag zum Alleinsein gratuliert und die Freiräume, die niemand sonst hat, auf das schönste ausstaffiert. Doch das Wohlbefinden des Solisten hängt ganz entschieden von der Kommunikation mit anderen ab - womit heutzutage nicht erst die Singles ihre Not haben. Wer sich niemandem mitteilen kann, dem fehlt es am Einfachsten: »Du hattest einen fabelhaften Tag bei der Arbeit«, zitiert Newsweek einen Betroffenen, »und das möchtest du loswerden, aber du hast niemanden, dem du es sagen kannst. Oder du hattest einen schlechten Tag, und alles, was du möchtest, ist jemand, der seine Arme um dich legt.«
Dann bleibt vielleicht nur noch der Griff zum Hörer. Weil »die Gesellschaft immer mehr versingelt«, erklärt ein leitender Mann der Berliner Telefon-Seelsorge, nähmen die fernmündlichen Hilferufe dramatisch zu. Das Gros seiner Anrufer ist zwischen 30 und 45, zu zwei Dritteln sind es Frauen, viele gehören zur Mittel- und Oberschicht, und so manch einer ist wohl bei der Entfaltung des Selbst einsam abgestürzt.
Am schlimmsten, dichtete Erich Kästner, ist die Einsamkeit zu zweit, aber so recht zu beneiden sind jene frei Umherschweifenden offenbar auch nicht. Singularität, das belegen vor allem amerikanische Untersuchungen, kann durchschlagen auf Leib und Seele. Alleinstehende, so heißt es, sind anfälliger für psychische wie körperliche Beschwerden. Unterstellt, der Mensch sei ein soziales Wesen, zieht Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny einen Strich darunter, »dann würde das heißen, daß wir von dieser anthropologischen Grundausstattung her doch auf etwas dauerhaftere Beziehungen angewiesen sind, um psychisch gesund zu sein«.
Überraschen kann das niemanden, und wer nicht schon selbst genug abgekriegt hat, muß sich nicht lange umblicken, um den Bruch aus all der Auflösung vor Augen zu haben. Und es gibt keinen Hinweis darauf, daß diese Singularisierung gebremst wird oder gar Ehe und Familie wieder die frühere Stabilität gewinnen könnten. Schon der demographische Trend zu immer weniger Geburten müßte der Vereinzelung entgegenkommen, nicht zu reden vom veränderten Menschenbild.
Die Familie von ehedem, prophezeit der kanadische Professor Edward Shorter, Verfasser etlicher Standardwerke, werde über kurz oder lang »durch das freischwebende Paar ersetzt«, das »dramatischen Spaltungen und Fusionen ausgesetzt ist und ohne die kreisenden Satelliten pubertärer Kinder, enger Freunde oder Nachbarn« lebt. Einige seiner Kollegen rechnen mit einer weiteren Zunahme der Beziehungsexperimente, mit wechselnden und ziemlich labilen Lebensformen.
Die Zeit der »ewigen Wahrheiten« einer bürgerlichen Gesellschaft, sagt der Wiener Rosenmayr, sei »für immer vorbei«, und er kann sich etwas Gutes dabei denken: eine bessere, nicht mehr von starren Normen begrenzte Qualität der Beziehungen, Kommunikation auf ausgesuchtem und daher adäquatem Niveau, die »Familie a la carte« zum Beispiel. Und dann wären die Orientierungsschwächen, die das Leben und zumal das gemeinsame nun so mühsam machen, nur Merkmale eines Übergangs. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny in Zürich allerdings hält es für denkbar und meint das »durchaus nicht zynisch«, daß »die autistische Gesellschaft, in der ein hohes Maß an Freiheit und Individualität verwirklicht erscheint, den Höhepunkt und zugleich das Ende unserer Geschichte darstellt« und sich einfach aussterben läßt.
Erst einmal sieht es so aus, als werde der Anstieg auf die Höhen vorrangig mit den Ellenbogen bestritten. »Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung bilden das hervorstechendste Trendmerkmal«, beschreibt der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter den jüngsten Stand einer Langzeitstudie der Universität Gießen. »Egozentrische Züge prägen das neue Selbstbild«, ein »moderner Narzißmus«, und in dieser Eigenliebe unterscheiden sich die Älteren zwischen 35 und 60 gar nicht mehr so sehr von den Jüngeren - wie noch Mitte der siebziger Jahre.
»Wir können uns diese Lebensstile erlauben«, sagt Hoffmann-Nowotny, und er möchte, »kritisch betrachtet, von einer Art Verarmung im Wohlstand reden«. Zur kritischen Betrachtung gehört dann vielleicht die Frage, ob nicht auch Menschen, deren größter denkbarer Zusammenhang sie selber sind, sich in wechselseitiger sozialer Abhängigkeit voneinander befinden - so seltsam das manchem erscheinen mag.
Vor den Bedrohungen des Lebensraumes, die sich vor allem die hochentwickelten Bewohner des Globus zugezogen haben, macht der Kult um die eigene Person schon etwas nachdenklich. Und wenn nun, wie Konrad Lorenz glaubte, die Zeit ist, in der Noah Segel setzen würde, kommen Zweifel auf an der Mannschaft, die gemeinsam das Tuch hochbringen müßte. Ganz aussichtslos muß die Sache nicht sein: falls dieser Job richtig Spaß macht oder sich dabei nicht nur ein Segel, sondern auch noch das Ich entfalten läßt.
Aufs Spiel setzt Narziß jene Erlebniswerte, auf die das Individuum dem Vernehmen nach ziemlich angewiesen ist: die Freude am Genuß des anderen, die Spiegelung der eigenen Gestalt im Gegenüber. Vorerst nicht ausgeräumt ist schließlich die Vermutung, daß es tief im Verborgenen eine Sehnsucht nach verläßlichen Beziehungen gibt und der einzelne, wie der Schweizer Psychiatrieprofessor Jürg Willi einwirft, »nicht so einmalig und unabhängig« ist, »wie das in den letzten Jahrzehnten gesehen werden wollte": Sein Seelenleben sei »weit mehr mitmenschlich verflochten, als es viele wahrhaben möchten«.
Eine geradezu boshafte Idee hat jüngst der Konstanzer Sozialforscher Michael Wehrspaun vorgetragen. Da ja nun nicht mehr von vorgegebenen Maßstäben bestimmt werde, »was in der alltäglichen Praxis eine autonome Person ausmachen soll«, führe die Suche nach dem Selbst zwangsläufig zu dem Ergebnis, daß dies nichts weiter sei als eine selbstgebastelte Figur.
So stehe denn »der in der Wendezeit lebende Mensch vor der Aufgabe, die Konstruktion seiner Identität in dem Bewußtsein voranzutreiben, daß er dabei an einer Konstruktion arbeitet«, und »keine einmal gefundene Lebensform ist vor der Infragestellung sicher«. Wo bleibt dann die Verwirklichung? o