​"Erwache Rumäne, aus deinem Todesschlaf": Wir haben Demonstranten in Bukarest begleitet

Dieser Beitrag wurde am 13.02.2017 auf bento.de veröffentlicht.

Es ist Sonntag, der 13. Tag des Protests, die Temperaturen nur knapp unter Null, aber der Wind weht eisig über den Piata Victoriei in Bukarest, Rumänien. Rund 50.000 Menschen haben sich heute Abend hier versammelt, eingepackt in Winterjacken und Schneeanzügen, umgeben von Ständen, die Plastikbecher mit heißem Tee verteilen.

"Springt, springt gegen die Kälte", rufen die Demonstranten, und die Menschen hüpfen auf und ab, danach singen Tausende die rumänische Nationalhymne, deren erste Strophe nicht besser zu den Forderungen der Demonstranten passen könnte:

Erwache Rumäne, aus deinem Todesschlaf, in welchen dich barbarische Tyrannen versenkt haben! Jetzt oder nie, webe dir ein anderes Schicksal.

Seit 27 Jahren wurde die Nationalhymne nicht so laut und gemeinschaftlich gesungen wie in diesen Tagen. Vor allem für viele jungen Rumänen ist es ein neues Gefühl, gemeinsam etwas bewegen zu können und für eine bessere Zukunft zu kämpfen. Sie sind froh, dass Rumänien endlich erwacht und die Menschen sich wehren, gegen eine korrupte Regierung.

Viele Rumänen tragen kreative Plakat: Aus "The Lion King" machten sie "The Liar King", aus dem Löwen den PSD-Parteichefs Liviu Dragnea. Andere Plakate zeigen den Staat als Dieb, der einen riesigen Geldsack aus dem Land schafft. Einige Demonstranten bringen eine Toilettenschüssel mit, in der sie Fotos von rumänischen Politikern "herunterspülten", andere kommen mit Toilettenpapier und Plakaten auf denen Kothaufen abgebildet waren.

Neben der Fahne Rumäniens, schwenken die Demonstranten auch die europäische Flagge, ein überraschendes Bild in Zeiten des Brexits. Einer von ihnen ist der 29-jährige Grafikdesigner David: "Europa steht für mich für Menschenrechte, Gleichberechtigung und einen fairen Umgang mit seiner Bevölkerung", sagt er. "Diese europäischen Werte fordere ich auch von unserer Regierung ein". Schließlich ist Rumänien Teil der Europäischen Union.

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Die überwiegende Mehrheit der jungen Demonstranten steht für die europäische Idee, sie haben sich weiterentwickelt, im Ausland gelebt, sprechen oft mehrere Sprachen. Hingegen ist die politische Führung stehen geblieben, so sehen es zumindest viele der Demonstranten.

Zu Beginn der Proteste im Januar wehrten sie sich zunächst gegen eine Eilverordnung. Sie sah vor, dass Amtsmissbrauch und Korruption dann nicht mehr mit Gefängnis bestraft wird, wenn der Schadenswert unter umgerechnet rund 44.000 Euro liegt.

Die sozialdemokratische PSD-Regierung zog nach den heftigen Protesten das Dekret vorläufig zurück. Was viele besonders ärgert: Dem PSD-Parteichef Liviu Dragnea hätte dieses Dekret genutzt, denn er steht wegen mutmaßlicher Anstiftung zum Amtsmissbrauch vor Gericht. Mittlerweile fordern die Demonstranten den Rücktritt der Regierung.

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Rumänien Proteste neu

Denn in Rumänien ist eine neue Generation herangewachsen, die Dinge anders machen will als ihre Eltern und Großeltern. Sie wollen zum Beispiel nicht in das europäische Ausland fliehen, um Geld zu verdienen. Viele der jungen Demonstranten berichten, dass sie gute bezahlte Jobs im Ausland aufgegeben haben, um in ihr Heimatland zurückzukehren.

So hat die 27-jährige Roxana drei Jahre in Wien gearbeitet, sich aber dafür entschieden, in Bukarest zu leben: "Ich will versuchen, mir ein Leben mit meinem Mann in Rumänien aufzubauen", sagt sie. "Dafür muss ich auf viele materielle Dinge verzichten, die ich mir in Österreich leisten konnte. Aber das opfere ich gern, um in meiner Heimat zu leben."

Gemeinsam mit ihrem Mann Razvan, einem 30-jährigen Architekten, kämpft sie täglich auf dem Victoriei Platz für eine bessere Zukunft. Razvan will nicht nur die aktuelle Regierung zu stürzen, sondern einen strukturellen Wandel anstoßen. Er schreit in die Nacht: "Nach 70 Jahren holen wir uns unser Land zurück."

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Rumänien kommunistisch, Industrie und Landwirtschaft wurden verstaatlicht. Razvan und viele andere Demonstranten haben das Gefühl, dass sich in den vergangenen rund 30 Jahren, seit Fall des Eisernen Vorhangs, politisch nichts geändert hat, die gleichen Seilschaften wie früher bestimmen die Politik.

Jetzt halten sie Transparente in die Luft: "The Rumanian Spring will come", sie signalisieren der Regierung, dass sie nicht aufgeben werden. Sie wollen die Geschichte des Tahir Platzes in Kairo fortsetzen und so lange durchhalten, bis die Regierung gestürzt wurde.

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