Der digitale Osama
Allah sei Lob, ich mahne die Jugend des Islam zum Dschihad an. Allah sei Lob, unser Leben endet eines Tages, und danach ist unser Unterhalt im Himmel. Also lautet die Botschaft des Osama Bin Laden, im Sechsten Brief an die Gemeinschaft der Gläubigen, verfasst in Chorasan, Afghanistan, am 4. Januar 2004. Verlesen in Celle, Niedersachsen, von einem Gerichtsdolmetscher in Saal 94.
Es lauschen vier Richter, zwei Bundesanwälte, ein Strafverteidiger, zwei Polizisten. Es lauscht ein Mann mit Bart und dunklen Augen, Ibrahim R., 1970 geboren in der nordirakischen Stadt Kirkuk, angeklagt der Werbung um Mitglieder für eine terroristische Vereinigung. Er soll die Rede Bin Ladens im Netz verbreitet haben und noch zwei Dutzend mehr.
Ein »Cyber-Terrorist«, so heißt es, der vor Gericht steht, in Deutschland der Erste seiner Art.
Bewaffnete sichern das Oberlandesgericht Celle, Panzerglas, Videoüberwachung, der Staatsschutzsenat verhandelt im Hochsicherheitstrakt, man rechne mit »Störungen«, steht in den Besucherinformationen, man sei gerüstet dafür. Doch der Zuschauerraum bleibt leer.
Es spielt im Abseits, dieses Grundsatzverfahren, und trifft doch das Zentrum einer aktuellen Debatte in der Politik. In einer Zeit, in der das Internet so gefährlich erscheint, dass das Bundesverfassungsgericht sich mit Online-Durchsuchungen beschäftigen muss; in der gefragt wird, wie man sich wehren kann gegen eine Gefahr, die Internet-User zu Terroristen macht: Wie ist er zu werten, der virtuelle Dschihad? Als Meinungssache? Als Verbrechen, das zurückwirkt in die reale Welt?
»Der Westen versucht heutzutage verzweifelt, den Dschihad zu diffamieren und jeden, der unter seinem Banner kämpft, im Namen der Terrorbekämpfung zu töten.« Der Dolmetscher liest, Ibrahim R. sitzt stumm. Er hat noch nichts gesagt im Prozess. Er trägt Kopfhörer, besonders gut Deutsch kann er nicht. 1996 kam er nach Bayern, als Flüchtling, durfte bleiben und geriet nach dem 11. September 2001 ins Visier der Staatsanwaltschaft München II. Er kannte Männer, gegen die ermittelt wurde. Nachzuweisen war ihm nichts.
Er zog nach Norden, in die Nähe von Osnabrück. Heiratete islamisch, wurde dreimal Vater und ein viertes Mal, als er dann in Haft saß. Wurde überwacht und am Telefon abgehört, verlor seinen Job in einer Zeitarbeitsfirma und fand keinen mehr, hatte zu viel Zeit und verbrachte sie im Netz, vor allem in einem Chatroom, der »al-Ansar« heißt: die Unterstützer. Von dort aus, sagt die Anklage, hat er Botschaften von Bin Laden, Sarkawi und Sawahiri, von al-Qaida also, ins Netz gestellt oder neu verlinkt.
Im Oktober 2006 wurde er verhaftet.
Im Mai 2007 überprüfte der Bundesgerichtshof den Haftbefehl, verwarf einige der Haftgründe, ließ andere bestehen und machte die Sache komplizierter für die Ankläger.
Reine »Sympathiewerbung« sei erlaubt, befand der BGH. Also auch die für den Dschihad. Strafbar aber sei die Werbung um Mitglieder für eine Terrororganisation. Wer die Rede eines Terroristen verschicke, könne das auch zu Informationszwecken tun. Das sei gestattet. Wer sie aber als »eigenes werbendes Eintreten« verstanden wissen wolle, der mache sich strafbar. Es sei die Absicht, die zählt.
Die Gesinnung also. Das, was sich im Kopf abspielt. Aber wie schützt sich ein Staat vor Gesinnung? Darf er das?
Ein Wichtigtuer, der im Internet seine Phantasien austobt, so ungefähr sieht ihn sein Anwalt Klaus Rüther, ein Pflichtverteidiger, der in diesem Fall mehr sieht als seine Pflicht. Gesinnungsjustiz. Er mag so etwas nicht.
Ein ernsthafter Streiter für echten heiligen Krieg, das ist R. in den Augen von Monika Harms, der Generalbundesanwältin, die die Anklageschrift unterschrieb.
So hat sich der Prozess zu einem Seminar für politische Bildung entwickelt, schnell geht es nicht. Dies ist die 14. Botschaft, die im Verfahren zum Vortrag gebracht wird, sie heißt »Anspornen und Antreiben zum Dschihad«. Es ist ein Prozess um Worte, um Auslegung, um Weltanschauung und ihre Folgen, ein mühsamer Prozess, den ein Staat führt gegen einen Mann, der sich beruft auf die Grundrechte einer Gesellschaft, die er, möglicherweise, gern in die Luft sprengen möchte. Oder doch nicht?
Ein Richter blättert, einer kritzelt, einer schaut ergeben vor sich hin. Bin Laden schlägt die Schlachten von 2500 Jahren, gegen den Westen, gegen die Kreuzritter, die arabischen Verräter und die Demokratie. Ein klein wenig Licht fällt durch Fensterschlitze, draußen muss ein schöner Tag sein. Der Dolmetscher kommt jetzt zu Fußnote 92.
Er liest, trägt vor, wach und präsent und nicht mühsam die Augen offen haltend wie manch anderer im Saal, er schiebt manchmal ein arabisches Originalzitat dazwischen, in der Kaffeepause sagt der Übersetzer: »Verstehen Sie mich bitte, das Original ist sprachlich einfach wunderbar.«
Die Rhetorik des Osama Bin Laden. Ein Meisterwerk, sagt er. Ein gefährliches, millionenfach verbreitetes Meisterwerk, überall gibt es die Reden im Netz, nicht nur über den Chatroom al-Ansar.
Wenn Bin Laden der Brandstifter ist, was ist dann Ibrahim R.? Ein echter Zündler? Und ab wann darf man einschreiten gegen so einen zündelnden Agitator? Es ist ein Musterprozess über Freiheit und Sicherheit, er dauert schon fünf Monate und wird sich noch über Monate ziehen.
Man kann nicht wissen, was der Angeklagte denkt. Er sagt ja nichts. Vielleicht wird er irgendwann etwas sagen, aber bisher lässt er sich nur betrachten, sein Bart ist etwas länger als früher, auf dem Kopf trägt er das Käppchen des frommen Muslim.
Früher, vor der Verhaftung, war er eher mit Baseballkappe zu sehen. BARBARA SUPP