NAZI-VERBRECHEN Der Doktor und sein Opfer
Ob er ihm die Hand geben würde? Das hat er sich immer wieder gefragt, nachts, wenn er nicht schlafen konnte, wenn die Bilder wieder kamen, in seiner windigen, nach Eukalyptus riechenden Neubausiedlung zu Hause in Haifa. Die Hand geben - wäre das Verzeihen? Oder Höflichkeit? Oder Schwäche?
Als der 74jährige Imre Gönczi um zwei Uhr morgens ins Taxi zum Flughafen stieg, um zum erstenmal wieder in ein Land zu reisen, von dem er nur die Lager kannte und die Gerichtssäle, da wußte er nicht, was passieren würde. Noch als er in München landete, wußte er nicht, ob er diesem Mann, dessentwegen er die Reise machte, die Hand reichen oder ob er ihn erwürgen würde. Er wußte eigentlich nur, daß es sein mußte: »Ich will ihn noch einmal sehen.«
Manche Erinnerungen schlummern nur. Dann brechen sie plötzlich aus, entwischen und jagen einen wie ein böses Virus. Im September war im SPIEGEL (40/1998) ein Porträt des letzten noch lebenden Auschwitz-Arztes, Dr. Hans Münch, zu lesen. Der Artikel wurde im Ausland nachgedruckt. Der staatliche französische Rundfunksender »France Inter« brachte eine Woche lang täglich eine einstündige Sendung über Münch, und das israelische Fernsehen sendete einen Beitrag zur besten Zeit, an einem Freitagabend um 20 Uhr, als auch der Zahnarzt Dr. Imre Gönczi in Haifa vor dem Fernseher saß, ein Mann, der acht europäische Sprachen spricht und eine Nummer auf dem linken Unterarm trägt. Ein Überlebender.
Da war er, der Doktor Münch. Die gleiche Wortwahl, die gleichen Überzeugungen, die gleichen hellen Augen. Der »gute Mensch von Auschwitz«, der Häftlinge gerettet hatte und nach dem Krieg freigesprochen worden war. Gönczi hatte nicht gewußt, daß der Doktor noch lebte. Er hatte nur jedesmal an ihn denken müssen, wenn er tief einatmete oder die linke Hand hob. Dann spürte er die Stiche. Das waren die Experimente, die der Doktor an ihm gemacht hatte, damals im Lager.
In den Alpträumen war dieser SS-Mann
im weißen Kittel immer gleich jung und
* In Roßhaupten im Allgäu.
schön geblieben, während er, Gönczi, älter wurde. Und auch als der Doktor nun auf dem Bildschirm zu sehen war und seine Tätigkeit in Auschwitz rechtfertigte, wie er von »idealen Arbeitsbedingungen« sprach - da schien es Gönczi, als hätte die Zeit einen Bogen geschlagen. Da paßte es zu dem Bild, das er 55 Jahre in sich getragen hatte: »Er war derselbe wie damals.«
In diesem Moment spürte er nur einen Wunsch: »Mich vor ihn hinstellen und sagen: Erinnerst du dich? Der kleine Emmerich? Der lebt noch. Das bin ich.«
Und jetzt steht Imre Gönczi vor der Tür eines weißen Hauses in Roßhaupten im Allgäu, hat geklingelt, hört Schritte und weiß nicht, was geschehen wird.
»Guten Tag, Herr Doktor Münch«, hört er sich sagen. »Erinnern Sie sich noch an mich? Ich bin der Emmerich gewesen. Der kleine Nährbodenkoch.« Ein großer weißhaariger Mann steht in der Tür.
Er hat ihm die Hand gegeben. Als sie sich zum letztenmal gesehen haben, war es nicht üblich, sich die Hand zu reichen. Man sagte auch nicht »Herr Doktor«, sondern »Häftling Vierundvierzignulldreifünf zur Stelle, Herr Untersturmführer.«
Die Zahl ist noch zu lesen auf Gönczis Unterarm. Nur das Dreieck, das ihm als Juden eingebrannt worden war, ist verschwunden. Nach dem Abmarsch aus Auschwitz waren sie ins Lager Ebensee gebracht worden, in einen Duschraum. Als aus den Öffnungen kein Gas kam, sondern wirklich Wasser, hat er sich das Dreieck an einer Heizung herausgebrannt. Da war er kein Jude mehr.
»Jesses, Jesses, Jesses! Emmerich! Ja, Gott, ist denn das möglich?«, hat der weißhaarige Mann gesagt und ist ihm fast um den Hals gefallen. Als würde ein alter Schulfreund vor der Tür stehen. Aber er ist es.
»Ja, legen Sie ab, kommen Sie doch herein.« Der Doktor Münch trägt eine Strickjacke mit geschnitzten Holzknöpfen. Mit dem weißen Spitzbart und dem Haar, das er ein wenig länger in den Nacken wachsen läßt als nötig, erinnert der Doktor an die Fotografie des alten Buffalo Bill. Ein stattlicher Mann. Gönczi sieht alles ganz genau. Die Krippe, die noch im Wohnzimmer aufgebaut ist, die Zeitung auf dem Teetisch. Es ist die »Weltwoche«, eine liberale Zeitung aus der Schweiz. Es gibt ein Panoramafenster, durch das man auf einen See schaut und auf die Berge.
»Ja, setzen Sie sich doch, bitte. Nein, Sie stören nicht. Darf ich Ihnen meine Frau vorstellen. Wir kennen uns aus ...«
»Auschwitz?«
»Ja. Und zwar aus Rajsko direkt.« Nein, sagt der Doktor, Auschwitz könne man nicht vergessen, »ganz egal, wo und wie man es erlebt hat«.
Gönczi hat sich vorgenommen, nur Fragen zu stellen und nicht anzuklagen. Auch wenn es weh tut zu sehen, wie ein ehemaliger SS-Arzt in Roßhaupten am Forggensee seine Rente genießt und einen guten Schlaf hat. Gönczi wird ein höflicher Gast sein. Er weiß, daß er sich verstellen kann. Er hat immer den lustigen Imre gespielt, der gern Rabbi-Witze erzählt in diesem drolligen Deutsch, und er hat so gut gespielt, daß sein Gesicht ganz fröhlich geworden ist, voller Lachfalten mit aufgerissenen hellen Augen.
Ohne die Gabe der Verstellung hätte er nicht überlebt. Als sie einen Tischler brauchten im Lager, war er ein Tischler. Als sie einen Mediziner brauchten, war er ein Mediziner. Im SS-Hygiene-Institut im Lagerblock 10 nannte Dr. Münch ihn »Emmerich«, weil er Imre nicht aussprechen mochte.
»Ich war sehr jung damals, Herr Dr. Münch, 17 Jahre alt. Ich hatte mich als Medizinstudent ausgegeben. Dabei bin ich erst nach dem Krieg ein Zahnarzt geworden.«
»Da haben Sie von Bakterienkunde einiges mitbekommen, nicht wahr?«
Am Abend zuvor im Hotel hat Gönczi diese Szene probegespielt. Sie würden sich setzen, und es würde gemütlich sein. Sein Arzt, daheim in Haifa, hatte gemeint, das Herz würde die Reise nach Deutschland schon durchstehen. Dennoch hat Gönczi Angst, daß die Bilder wieder hochkommen. Vor allem dieser 7. Juni 1942, als ein SS-Mann den Vater vor seinen Augen erschoß und Imre zwang, den Körper in die Baracke zu schleppen: »Ich kann mich erinnern, wie sein warmes Blut herunterrann. Erschieß mich auch, sagte ich zu dem SS-Mann. Du stinkender Jude, sagte der, du wirst langsam krepieren.«
Imre beschloß zu leben, um seinen Vater zu rächen. Und das tat er auch. Später erhielt er 5000 Mark Entschädigung für den toten Vater.
Gönczi sieht sich auf der Sofakante sitzen. Ein kleiner Mann in grauem Wollanzug mit Fischgrätenmuster und einer Krawatte, auf die Mohnblumen gedruckt sind. Er hat sich vorgenommen, nur zu fragen. Doch jetzt spricht er viel, erzählt, wie er einmal versehentlich eine Bakterienkultur verdorben hat und wie der Doktor ihn habe »Sport machen« lassen. Das war in Auschwitz die Bezeichnung für eine besondere Art der Folter. Ausgemergelte Häftlinge Turnübungen machen zu lassen, bis sie tot umfielen: »Sie haben mich auf den Hof treiben und Kniebeugen machen lassen, bis ich ohnmächtig umgefallen bin. Ich dachte: Der will mich erledigen.«
Es ist ein sonniger Tag. Zwei ältere Herren sitzen in Roßhaupten im Allgäu und reden über alte Zeiten. Münchs Erinnerung ist nicht so gut: »Ich kann mich nicht erinnern, daß ich jemals einen Sträfling habe Sport machen lassen. Es sei denn, jemand war gefährdet, so daß man gesagt hat, nun mach mal Sport mit ihm, damit eine Ruhe ist. Das schlimmste ist, einem Menschen, der etwas falsch gemacht hat, das immer wieder anzuhängen. Wenn aber mal ein Sport dazwischen war, dann war die Sache fertig und abgeschlossen. Das war meine Philosophie. Die Verhältnisse waren so außergewöhnlich, die kann man überhaupt nicht klassifizieren.«
Es war eine Welt jenseits von Gut und Böse, und er gehört in diese Welt. Die Kinder des Doktors waren nicht einverstanden, daß über das Gespräch ihres Vaters mit Gönczi geschrieben wird. Sie sagen, ihr Vater sei nicht mehr Herr seiner Worte. Münch entschuldigt sich für diese Bedenken. Er möchte über diese »außerordentliche Zeit« in seinem Leben reden, und er tut es auch heute klar und ohne jedes Zeichen von Verwirrung. Nie hat er geschwiegen. Auch mit Überlebenden hat er immer gern geredet. Sie waren ihm dankbar. Das tat gut. Auschwitz ist die wichtigste Zeit in seinem Leben gewesen, und er schaut gern zurück.
Warum auch nicht? Beim Krakauer Prozeß 1947 ist er freigesprochen worden, als einziger, obwohl er fast so lange im Lager gearbeitet hatte wie Josef Mengele. Häftlingsfrauen hatten ausgesagt, er habe sie für Experimente angefordert und so vor dem Gas gerettet. Er freut sich, wenn Überlebende zu ihm kommen, zumal noch Medizinerkollegen wie dieser Herr Gönczi, der so fabelhaft deutsch spricht.
»Ich war«, sagt Münch, »bakteriologisch interessiert und hatte das Unglück, bei Kriegsbeginn aufs Land versetzt zu werden.« Er habe nicht in der Provinz versauern wollen und deshalb 1943 die erste Gelegenheit ergriffen, wieder in einem Forschungsinstitut zu arbeiten. Daß die postalische Adresse des Instituts »KL Auschwitz I« lautete, war ein Nebenaspekt. Wichtig war, mit wissenschaftlichen Kapazitäten zusammenarbeiten zu dürfen wie dem Dr. Josef Mengele. Wichtig waren die »idealen Arbeitsbedingungen«.
So hat er es gesagt, dem SPIEGEL gegenüber: »Ich konnte an Menschen Versuche machen, die sonst nur an Kaninchen möglich sind.« Es gab Versuchskaninchen jeden Alters, jeder Blutgruppe, jeder Hautfarbe. Eines ist heute gekommen in der vagen Hoffnung, eine Antwort zu erhalten: Warum?
Gönczi arbeitete als »Nährbodenkoch« im Hygiene-Institut der SS. Er mußte gekochtes Fleisch filtrieren, sterilisieren und den Extrakt auf Kolbenflaschen füllen, als Nährboden für Bakterien - »Bouillon« nannten das die Ärzte. Anfangs wurde noch Rindfleisch verwendet.
»Eines Tages nehme ich ein Stück Fleisch, vielleicht zwei Hände groß. Ich sehe ein Stück behaarte Haut. Da wußte ich Bescheid.« Die SS hatte das Rindfleisch für ihre Kantine requiriert. Ein halbes Jahr lang benutzte der Doktor für seine bakteriologischen Experimente Nährböden, die aus Häftlingsleichen gewonnen waren.
Gönczi hat dieses Gespräch schon Dutzende Male geführt, nachts in Haifa, wenn die Bilder ihn nicht schlafen ließen. Jetzt ist der Moment gekommen zu fragen: »Wie konnten Sie auf die Idee kommen, für Ihre Versuche Menschenfleisch zu verwenden?«
Der Doktor hat die Erzählungen immer wieder mit »ja, natürlich« oder »ja, ja« unterbrochen. Wie ein Arzt die Schilderungen seines Patienten. Dabei hat er an den Knöpfen seines Jeanshemds genestelt.
Münch sagt, er habe die Verwendung von Häftlingsfleisch nur geduldet: »Sofern es nicht von Vergasten gewesen ist. Denn dann konnte man es nicht verwenden. Es ist absolut unästhetisch, es ist auch unmoralisch, aber geschadet hat es niemandem.« Der Doktor sitzt in seinem Ohrensessel am Fenster. Er wirkt bisweilen ein wenig unkonzentriert, spricht dann wieder sehr klar, führt die Gedanken zu Ende und stutzt, wenn er merkt, daß ihm die Syntax zu entgleiten droht. Die Wachmannschaften, sagt er, und die Häftlinge selbst seien übereingekommen, das Rindfleisch nicht den Bakterien zu überlassen: »Das sind so schöne Stücken Fleisch, jetzt mach'' ich mir mal ein Schnitzel draus.«
Das letzte Mal hat Gönczi den Doktor im Häftlingskrankenbau gesehen. Es muß im Spätsommer 1944 gewesen sein. Das war nach den Experimenten gewesen. Münch war kurz hereingekommen, hatte sich die Fieberkarte angeschaut und war grußlos hinausgegangen.
Gönczi hat dem Doktor zwei Röntgenaufnahmen mitgebracht. Münch hält die Bilder vor das Panoramafenster. Von den Lechtaler Alpen kommt Föhn herunter, und im hellen Licht kann er die Verwachsungen gut erkennen. »Ein dicker Hund. Massive Pleuraadhäsionen«, sagt der Doktor. Der linke Lungenflügel ist auf die Hälfte geschrumpft und hat das Herz nach links gedrückt. »Also da hat sich in der Lunge selbst eine abgekapselte Entzündung gebildet.«
»Herr Dr. Münch, erinnern Sie sich nicht? Sie haben gesagt: Emmerich, du bist gesund, und ich werde mit dir ein Experiment machen. Ich hatte das Gefühl, Sie wußten, daß ich zuviel gesehen habe. Deswegen die Experimente. Da konnten Sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Sie wußten, wenn ich gehe, wird niemand um mich weinen.«
Münch sagte damals, er werde ihm etwas ganz Unschädliches spritzen und beobachten, wie sein Körper reagiere. Er injizierte ihm Streptokokken in den Unterarm. Gönczis Hand schwoll an, und er bekam Fieber. »Siehst du, es war nicht schlimm«, sagte Münch. »Wir geben dir etwas Stärkeres.« Diesmal wurde Gönczi Zahneiter ins Rippenfell gespritzt. »Ich hatte 40 Grad Fieber und konnte kaum noch atmen. Es hat mich fast getötet. Nur durch meine Kontakte im Lager wurde ich gerettet.«
Der Doktor hört es sich an, nur seine Finger klopfen bisweilen etwas heftiger auf die Armlehne des Sessels. Die Versuche habe er aus eigenem Interesse, nicht auf Anweisung Berlins gemacht. Er sagt, es habe ihn als Wissenschaftler »selbst interessiert, wie ein artfremdes Eiweiß« im Körper reagiere. So wie es ihn interessiert hat, Menschen in den Gaskammern beim Sterben zu beobachten. Immer wieder hat er es sich angesehen und gehört, wie es »summte wie in einem Bienenstock« und dann verstummte.
Gönczi knöpft seinen Hemdärmel auf, schiebt den Ellbogen frei, und der Doktor beugt sich aus dem Sessel herüber. Altersfleckige Hände tasten über die bleiche Innenhaut, um zu spüren, wo der Einstich war. Es sind die gleichen Hände wie damals. Auf dem Unterarm wäre auch die eingebrannte Häftlingsnummer zu sehen, würde man den Arm umdrehen. Aber der Doktor dreht den Arm nicht um. Er sagt: »Ja, das ist eindeutig eine Injektion. Hier habe ich eine Quaddel gesetzt, das heißt, man geht mit der Nadel nicht unter die Haut, sondern in die Haut. Verstehen Sie?« Es ist ein behandelnder Arzt, der spricht.
Plötzlich rumort es auf dem Flur. »Ja, wer sind Sie denn?«, fragt die Haushälterin, Frau Weber. Wenn ein fremdes Auto vor dem Haus des Doktors steht, alarmieren sich die Nachbarn und schauen nach, ob alles in Ordnung ist. Die Dorfbewohner wehren sich gegen das, was sie die Belästigungen nennen. Sie halten ihren Landarzt in Ehren. Er hat seinen Beruf mit Hingabe ausgeübt und habe vielen das Leben ge-
* Herausgebrannte Häftlingstätowierung.
rettet. Hans Münch ist geachtet und beliebt im Ort, und die Haushälterin Frau Weber wischt sich die Augen, als sie sagt: »Ja warum lassen Sie ihn denn nicht in Ruhe? Denken Sie doch an seine Kinder.« Ist er denn nicht freigesprochen worden, damals bei dem Prozeß, zumal noch von den Polen? »Was wollen Sie denn noch, er ist doch schon so alt.«
Es ist schwer zu erklären, was man will, wenn einen nach 55 Jahren noch die Erinnerung jagt, wie es Gönczi nachts geschieht: »Ich höre noch die Töne, wenn wir die Leichen hinuntergeworfen haben wie Holz. Ich habe nachts immer das Radio an, um mein Gehirn zu entspannen. Sonst möchte ich verrückt werden.«
Man müßte vieles erzählen. Auch von Artur Radvanský, einem Freund Gönczis. Radvanský, der 26 Familienmitglieder im Lager gelassen hatte und später auf dem jüdischen Friedhof in Prag arbeitete. Der den Besuchern Kafkas Grab zeigte, und wenn sie ihn fragten, woher er so gut Deutsch könne, sich schämte, es zu sagen.
Radvanský hat ebenfalls ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Er weiß noch, daß es 2078 Tage waren, die er in Lagern war. Daß es vier Selektionen waren, bei denen er auf die richtige Seite gewinkt wurde. Und er hat sich an den Doktor Münch erinnert.
In Auschwitz war Artur Radvanský der Putzbursche von Standortarzt Eduard Wirths. In dessen Büro fanden ein-, zweimal im Monat die Beratungen aller Lagerärzte statt. Da wurde die Dienstverteilung gemacht, auch für den Rampendienst. Das Dienstbuch der SS-Ärzte ist verschollen. Radvanský erinnert sich, daß es auf dem Schreibtisch von Wirths gelegen hatte. Er hatte vergessen, es wegzusperren. Da stand auch der Name Münch. Von Mitte 1943 bis zuletzt war er immer wieder auf der Liste verzeichnet.
Als Mitarbeiter des Hygiene-Instituts unterstand Münch nicht dem Standortarzt Wirths. Daher, so Münch, habe er sich dem Rampendienst entziehen können. Auch Radvanský hat Münch nicht auf der Rampe gesehen, aber er sagt: »Er hat sich vielleicht ein-, zweimal weigern können. Aber nicht über einen so langen Zeitraum. Da hätten die anderen Ärzte sich gewehrt. Und wenn er sich geweigert hätte, wieso ist er zum Untersturmführer befördert worden?«
Radvanský hatte auch von seiner Frau erzählt, der es nicht gutginge, seit die Leute von der Spielberg-Stiftung sie »vernommen« hätten. Sie seien in die Prager Wohnung gekommen und hätten die Videokamera aufgebaut: »Erzählen Sie uns über Auschwitz.« Seine Frau hatte nie über das Lager sprechen wollen. Jetzt tat sie es und konnte nicht mehr aufhören. Sie redete, erinnerte sich, suchte nach Worten, erzählte und redete weiter, auch als die Videokamera schon ausgeschaltet und das Spielberg-Team gegangen war. Sie sprach den ganzen Abend und die Nacht, vergrub sich immer mehr in ihrer Vergangenheit, bis sie keinen Weg mehr heraus fand: »Sie spricht nachts und fühlt sich verfolgt von der SS. Sie redet vom Sicherheitsdienst«, hat Artur Radvanský gesagt.
All das müßte jetzt erzählt werden. Aber es ist keine Zeit: »Bitte gehen Sie jetzt«, drängt die Haushälterin.
Nur eine Frage noch, jene Frage, wegen der Dr. Imre Gönczi die Reise von Haifa nach Roßhaupten auf sich genommen hat: »Warum haben Sie das getan? Ich war doch nur ein Kind, 17 Jahre, und Sie waren ein schöner Mann, ein Offizier von 30 Jahren.«
Der Doktor sagt, natürlich könne er zu den Experimenten stehen, auch heute noch. Er sagt: »Gestorben wären Sie in Auschwitz praktisch sowieso. Aber es war auf keinen Fall einkalkuliert. Es war ein absolut harmloses Experiment.«
Gönczi: »Hätte ich daran sterben können?«
Münch: »Ja natürlich. Über eine allergische Reaktion ist man immer sehr gefährdet. Das war aber nicht einkalkuliert. Ich habe Ihnen ja nicht den lebendigen Eiter gespritzt, sondern einen Extrakt von dem Eiter. Der war steril.«
Gönczi: »Sie hatten doch den hippokratischen Eid abgelegt: einem Patienten niemals zu schaden?«
Münch: »In Auschwitz gab es keinen hippokratischen Eid.«
Gönczi: »Ich konnte mich damals nicht wehren.«
Münch: »Nein. Und wenn man Ihnen gesagt hätte: Es könnte dir an den Kragen gehen dabei, aber du kriegst 14 Tage lang Sonderernährung - dann wissen Sie auch nicht, was Sie gesagt hätten.«
»Bedauern Sie es, Herr Doktor? Würden Sie es noch einmal machen?«
Es wäre einfach, jetzt einen Satz zu sagen wie: »Herr Gönczi, wir sind zwei alte Männer. Was geschehen ist, ist geschehen. Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an für das, was ich Ihnen zugefügt habe.«
Der Satz bleibt ungesprochen. Münch sagt: »Ich glaube schon. Ich behaupte, keine Experimente gemacht zu haben, die für den Menschen ein wirkliches Risiko waren.«
Er hat wohl ein reines Gewissen, und kein Besucher aus der Vergangenheit wird es ihm ausreden können. Jedenfalls kein ehemaliger Häftling, der ihn vielleicht als Peiniger sieht, obwohl ihn doch die Versuche vor dem Gas gerettet haben. Schließlich lebt Herr Gönczi noch.
Münch sieht sich als Engel in der Hölle. Dabei war er viel mehr: Er war Gott. Er hatte wie jeder SS-Führer die Macht, Leben zu nehmen und zu schenken. Es waren seine Häftlinge, und er konnte mit ihnen experimentieren, wie er es für richtig hielt. Nirgendwo ist es leichter, ein Leben zu retten als bei der Selektion. Man braucht nur den Daumen zu heben. In Auschwitz war es leicht, ein guter Mensch zu sein.
Zum Abschied steht der Doktor auf der Treppe seines Voralpenhauses und winkt. Der Besuch war keine Ruhestörung für ihn, er wird weiterhin gut schlafen. Auch Gönczi winkt aus dem Auto heraus, dann sagt er »Schurke« zur Windschutzscheibe. Warum erst jetzt? Warum hat er versprochen, ja, man wolle in Kontakt bleiben?
»Ich habe Theater gespielt. Es ging nicht anders. Entweder Spielen oder Angreifen. Der Angriff ist nicht passiert, also habe ich gespielt.« Sagt er und bittet um eine Zigarette. Er ist Nichtraucher. Nur wenn man ihn anfaßt, spürt man jetzt das Zittern.
Übermorgen wird Gönczi wieder in Haifa sein, bei seiner Frau, die nicht mehr laufen kann, auf dem Sofa sitzt und, wenn Besuch aus Deutschland kommt, zur Begrüßung nur sagt: »Auschwitz, Theresienstadt, Mauthausen, Freiberg in Sachsen. Dort habe ich Deutsch gelernt.«
Er wird ihr erzählen von der Reise in eine Welt voller Erklärungen und ohne Alpträume. Eine Antwort hat er dort nicht gefunden. Vielleicht wird er dennoch besser schlafen. Weil sich mit dem Namen des Doktors jetzt andere Bilder verbunden haben. Das eines großen, gutaussehenden alten Herrn in einer Wolljacke im kalten Föhnlicht, der auf der Treppe seines Voralpenhauses steht und zum Abschied winkt. Vielleicht auch das freundliche, etwas greisinnenhafte Gesicht der Frau Doktor, als sie sagte: »Es ist angenehm, sich über Sachen zu unterhalten, die man gemeinsam erlebt hat.«
* In Roßhaupten im Allgäu.* Herausgebrannte Häftlingstätowierung.