Der Lehrer und der Amokläufer Ein Held, der keiner sein will
Der "Held von Erfurt" ("Bild am Sonntag") sieht nicht gerade wie ein solcher aus. Weder macht der kleine, untersetzte Mann in seinem schwarzen Pullover eine körperlich starke Figur, noch wirkt er besonders Ehrfurcht gebietend. In seinem kleinen, niedrigen Wohnzimmer unter dem Dach eines Mehrfamilienhauses muss der 60-jährige Geschichts- und Kunstlehrer seit Freitagnacht unablässig Reportern aus aller Welt seine Geschichte erzählen. Wie gelang es ihm, den Amokläufer Robert Steinhäuser am vergangenen Freitag zu stoppen und so weiteres Blutvergießen zu verhindern?
"Ich weiß gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht", sagt der Pädagoge mit dem akkurat geschnittenen Bart und lässt sich in einen der Biedermann-Sessel zurück fallen, die zwischen den mit Büchern vollgestopften Schränken in stehen. Die Zeitungen vom Sonntag kennt er nur von den Reportern. Doch Heise kokettiert nicht mit seinem plötzlichen Ruhm als Retter. "Ich habe nur dass getan, was mir gerade einfiel", sagt er. "Ein Held bin ich deswegen noch lange nicht, andere hätten doch genauso gehandelt".
Das Ende der 4. Stunde, Tagesthema Aquarell
Der Rummel um seine Person behagt dem Pädagogen nicht. Ständig läutet die Türglocke, auch das Telefon steht nicht still. "Langsam reicht es mir", klagt er. Doch wer ihn fragt, dem erzählt der Porzellan-Liebhaber ausführlich und in aller Ruhe, wie sie sich zugetragen hat, die lebensgefährliche Konfrontation zwischen ihm und dem Todesschützen. Es war gegen Ende der 4. Stunde, während der er mit den Schülern Aquarelle gemalt hatte, als plötzlich ein lauter Knall durch das Gebäude schallte. "Ich dachte zuerst an einen umgefallenen Schrank oder an die Bauarbeiter auf dem Hof", erinnert sich Heise. Geärgert habe er sich zunächst, schließlich fand an diesem Tag die Abiturprüfung statt, die Schüler brauchten Ruhe.
Dann aber sei alles sehr schnell gegangen: Die Tür zum Kunstraum mit der Nummer 108 im ersten Stock der Schule sei bereits offen gewesen, und die ersten seiner Schüler strömten aus dem Saal auf den Flur. "Ich schrieb gerade meine Eintragungen ins Klassenbuch, da hörte ich die nächsten beiden Schüsse", sagt Heise. Sofort sei er auf den Flur gerannt und habe schon die panischen Schüler gesehen, die aus der zweiten Etage kamen und schrien, dass im oberen Stockwerk Tote auf dem Boden lägen. "Da rennt einer rum, der schießt!", kreischten sie.
"Euch kriege ich auch noch!"
Wer Heise länger zuhört, begreift, dass der Pädagoge kein Mann ist, der schnell in Panik verfällt. Mit klarer Stimme schildert er die gefährliche Situation Schritt für Schritt, skizziert auf dem Wohnzimmertisch mit Gegenständen die Lage der Klassenräume und definiert Abstände zwischen den Türen der Klassenräume mit genauen Meterangaben.
"Ich habe überlegt, was zu tun ist, und es war klar, dass alle Schüler nach draußen mussten", rekapituliert er seine ersten Gedanken in den Minuten des Schreckens. Er sei sofort auf die Treppe gegangen und habe die verängstigten Schüler "nach unten gescheucht", dabei sei er auch laut geworden. "Manchmal geht es eben nicht anders", sagt er, gerade so, als ob er sich dafür entschuldigen müsste. Als Letzter sei er nach unten gerannt und habe die Schüler von der Tür zum Schulhof gedrängt. "Ich schrie sie an, sie sollten wegrennen."
Erst unten, vor dem Ausgang zum Hof hinter der Schule, hat Heise den Attentäter zum ersten Mal gesehen. "Ich spürte, dass jemand hinter mir stand, und drehte mich um. Ich sah den großen, ganz in Schwarz gekleideten Mann mit einer schwarzen Maske vor der Tür. In der Hand hatte er eine Pistole, und über die Schulter blitzte ein silbernes Gewehr", sagt Heise und fähr fort: "Der Mann sah aus wie ein Ninja-Kämpfer, er zielte auf die weglaufenden Schüler und brüllte: 'Euch kriege ich auch noch!'"
Offenbar war aber das Magazin der selbstladenden Pistole leer. Der Mann sah Heise an und sagte: "Scheiße, ich muss nachladen!" Als er aus seiner Tasche neue Patronen fingerte und das Magazin herausholte, rannte Heise los. "Ich wollte die Schulleitung informieren", sagt er, "Angst spürte ich in dem Moment nicht, denn der Mann hätte mich ja gleich erschießen können, hat es aber nicht getan".
Leichen im Sekretariat
Also rannte Heise zum Sekretariat im Erdgeschoss des Gebäudes, doch es war verschlossen. "Ich hämmerte gegen die Tür und die Sekretärin fragte leise, wer denn dort sein. Ich sagte: Hier ist Geschichtslehrer Heise, machen sie auf!" Die Tür ging auf, und ihm bot sich ein grauenhaftes Bild, das er wiederum verblüffend nüchtern beschreibt. Gefühle zeigt Heise nicht, kann es vielleicht auch nicht mehr. Die zweite Sekretärin Anneliese S. lag in einer Blutlache auf dem Boden, "die stellvertretende Schulleiterin Frau Hanja saß noch auf ihrem Stuhl am Schreibtisch mit dem Kopf auf dem Tisch. Auch sie war tot", sagt Heise und erklärt genau, wie die Räume aufgeteilt sind. "Ich wusste nicht, was ich tun sollte, doch ich dachte nur an weitere Schüler und rannte nach oben."
Im ersten Stock angekommen, beschlich Heise doch die Angst vor dem Amokläufer. Er ging zum Fenster und sah die Polizisten, die gerade vor dem Schulgebäude vorfuhren. "Ich rief hinunter, dass Sanitäter gebraucht würden, doch die Polizisten schrien nur, ich solle aus der Schule abhauen." In diesem Moment hörte er auf dem Gang schlurfende Schritte. Sofort sei er zur Tür gegangen, um nachzusehen, ob vielleicht doch noch Schüler im Gang herumliefen.
"Robert, hast du geschossen?"
Als Heise die Tür einen Spalt öffnete, stand der schwarz gekleidete Mann direkt vor ihm. Gerade hatte er seine Maske abgezogen, und Heise erkannte ihn als seinen ehemaligen Schüler Robert. Mit schweißnassem Gesicht sah der Killer den Lehrer an und richtete die Waffe auf ihn. "Ich sah in den Lauf der Pistole und fragte ihn, ob er das alles getan habe", erzählt Heise.
Robert Steinhäuser habe nur leicht genickt, aber nichts gesagt. Für Angst habe er gar keine Zeit gehabt, sagt Heise. "Ich habe die Tür ein Stückchen weiter geöffnet und Robert angesehen, er war völlig fertig mit den Nerven und sah mich starr an." Heise sagte: "Du kannst jetzt nicht einfach gehen, wir müssen darüber reden." Doch Robert antwortete nicht, legte aber die Hand mit der Waffe auf einen Sims.
In diesem Moment, sagt Heise, habe sein Verstand wieder eingesetzt. Mit einem leichten Schubs drückte er Steinhäuser nach hinten in den Materialraum mit der Nummer 110, schlug die Tür zu und schloss von außen ab. "Ich habe gar nicht nachgedacht, ob er auf mich hätte schießen können. Ich rannte sofort nach unten ins Sekretariat und schloss mich dort ein. Bis zum Ende der ganzen Aktion habe ich mich von dort nicht wegbewegt."
Wann sich der Amokläufer mit einem Kopfschuss selbst getötet hat, weiß Heise nicht. Erst für eine Identifizierung habe er den Raum 110 noch einmal betreten und sah seinen ehemaligen Geschichtsschüler in dessen eigenem Blut liegen.
"Vielleicht habe ich den richtigen Ton getroffen."
Doch warum schoss Steinhäuser nicht auf seinen ehemaligen Lehrer? "Ich weiß es nicht", sagt Heise, der sein Glück noch immer nicht begreift. "Wir hatten kein gutes, aber auch kein schlechtes Verhältnis. Ich habe ihm die schlechten Noten gegeben, die er verdient hat. Aber ich habe ihn nie gedemütigt, sondern immer versucht, ihn zu motivieren", erinnert sich der erfahrene Lehrer. Auch als Robert Steinhäuser die zwölfte Klasse freiwillig wiederholt habe, habe er ihm gut zugeredet.
"Vielleicht habe ich bei ihm die richtigen Worte gefunden oder er hatte einfach ein bisschen Vertrauen zu mir", vermutet Heise. "Vielleicht war er am Freitag einfach nur am Ende seiner Nerven, immerhin hatte er schon 16 Menschen erschossen." Und erst jetzt lässt Heises Emotionen erkennen. Er kratzt sich am Kinn, überlegt lange, warum wohl der 19-jährige Ex-Schüler nicht auf ihn geschossen hat.
Wirklich gut kannten sich der Lehrer und der Amokläufer nicht. Im vergangenen Schuljahr war Steinhäuser im Geschichtskurs bei Heise. Einmal fuhren sie 1999 gemeinsam mit der Klasse nach Potsdam. Dort bedrohte Steinhäuser einen Biologielehrer im Alkoholrausch mit den Worten: "Dich leg ich um!". Doch niemand, auch Heise nicht, nahm diesen Spruch damals ernst: "Robert war angetrunken, da kann man das schon mal sagen." Der Biologielehrer von damals war am Freitag eines der Opfer des Amoklaufs. Doch Heise glaubt nicht, dass die Worte von der Klassenfahrt eine Ankündigung dieser Tat waren. "Das ist Quatsch", sagt der Lehrer.
Am Montag will Rainer Heise wieder in die Gutenberg-Schule zurückkehren. Ob er keine Angst hat? Heise überlegt nicht lange und wird sofort wieder der penible Lehrer, der er zu Beginn des Gesprächs war: Ein Mann, der sich gern reden hört und andere auch gern belehrt, ohne arrogant zu wirken. "Wissen Sie, es geht nicht um Angst", sagt er, "die Jugendlichen brauchen ihr Abiturzeugnis." Ohne das könnten sie ja schließlich nicht studieren oder eine Lehre machen, referiert er. Anschließend aber sorgt er sich, dass das Kollegium ja "ziemlich ausgedünnt" sei ? eine Bemerkung, die er sofort bedauert. "Ich bin eben noch nicht so geübt im Interviewgeben", sagt er zum Abschluss. Und da klingelt es auch schon wieder an der Tür.