EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Der Musterhäftling
Adam Kowalski, 1,90 Meter groß, kräftig, sitzt in einem Hamburger Café und blickt sich vorsichtig um. In seiner Wohnung wollte er sich nicht treffen; über seinen Anwalt lässt er ausrichten, dass die Telefonnummer an niemanden weitergegeben werden dürfe, unter keinen Umständen.
Kowalski ist offen und kontaktfreudig, jedenfalls im Allgemeinen, aber jener Nachmittag im Mai hat ihn misstrauisch gemacht. Er hat gelernt, dass man in Deutschland nicht vorsichtig genug sein kann.
Alles beginne mit einem Besuch bei zwei Bekannten, sagt er. Die beiden plaudern, während Kowalski im Wohnzimmer gegen einen Schachcomputer spielt. Er zieht gerade seinen Springer nach vorn, als es klingelt.
Kowalski hört das Wort »Kriminalpolizei«, er sieht im Augenwinkel, wie die beiden anderen ihre Ausweise zeigen. Schließlich kommen die Beamten, zwei Männer und eine Frau, zu ihm. Kowalski wartet, bis der Computer seinen Zug macht, 30 Sekunden, vielleicht 40, während die Polizisten neben ihm stehen. Er habe Gelassenheit ausdrücken wollen, sagt er heute.
Ein Fehler, möglicherweise.
»Ihre Personalien bitte«, sagt einer der Polizisten.
Kowalski steht auf, aber er kann seinen Ausweis nicht finden.
»Wie heißen Sie?«
»Adam Kowalski.«
»Wann sind Sie geboren?«
»24. Dezember 1971.«
Die Beamten gehen mit Kowalskis Daten auf den Balkon.
Adam Kowalski kam 1989 aus Polen in die Bundesrepublik. Die deutsche Polizei, sagt er, sei für ihn von Anfang an der Inbegriff von Pflichtbewusstsein und Korrektheit gewesen. Vor ein paar Jahren absolvierte er eine Ausbildung zum Fachinformatiker, im Herbst will er sich selbständig machen.
Nach ein paar Minuten kommen die Beamten vom Balkon zurück.
»Herr Kowalski, gegen Sie liegt ein Haftbefehl vor«, sagt einer.
Kowalski sagt, er habe sofort protestiert.
Zufällig hat er gesehen, dass der Gesuchte polnischer Staatsbürger ist, geboren in dem Ort Wysokie. Kowalski hingegen wurde in Seibersdorf geboren, das heute Zebrzydowice heißt, seit Jahren besitzt er die deutsche Staatsangehörigkeit.
Er sei unschuldig, sagt er. Das passe schon, beruhigen ihn die Polizisten, dass sie unschuldig seien, behaupteten alle. »Die Polizisten waren nett, aber taub«, sagt Kowalski. Er spricht hervorragend Deutsch; es scheint ausgeschlossen, dass die Beamten ihn nicht verstanden haben.
Auf der Polizeiwache muss Kowalski Portemonnaie, Tasche und MP3-Player abgeben. Dafür findet er seinen Personalausweis wieder, der zwischen Notizzetteln und Quittungen steckte.
Der Ausweis trägt die Nummer 1317505981, er enthält alle nötigen Informationen, um den Irrtum aufzuklären: Adam Kowalski, geboren in Seibersdorf, Staatsangehörigkeit: deutsch.
Die Beamten werfen einen kurzen Blick darauf, dann bringen sie Kowalski zurück in die Zelle.
Warum hat er nicht verlangt, einen Anwalt zu sprechen? »Ich wollte niemanden beunruhigen«, sagt Kowalski.
Nach einer Viertelstunde bringen ihn die Polizisten in eine andere Zelle. Unter der Decke hängt eine Kamera. Kowalski muss sich ausziehen, bis auf die Unterhose. Als er versucht, die Kamera mit der Matratze zu verdecken, stürmen »sechs, sieben« Beamte herein. Man kann sagen, dass Adam Kowalskis Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat in diesem Augenblick einen Dämpfer erhält.
»Man läuft im Kreis herum in der Zelle, und irgendetwas wächst in einem. Man läuft rum und denkt. Man verarbeitet. Und bekommt Wut.«
Irgendwann hämmert Kowalski gegen die Stahltür und ruft: »Ich will raus! Lasst mich raus! Ich bin unschuldig!« Möglich, dass das Wort »Foltermethoden« fällt.
Er hat jetzt Angst. »Ich bin in eine Maschine gezogen worden«, sagt er. »Jede Aktivität führt nur dazu, dass sich die Lage verschlechtert. Wenn man sich gegen die Maschine wendet, wird man kleingeklopft.«
Die Beamten schleppen ihn in die Isolationszelle. Die folgenden neun Tage verbringt Kowalski allein, in Unterhose, mit einer Wolldecke. »Die Zelle hatte die weißesten Wände, die ich je gesehen habe.«
Schließlich wird er ins Gefängnis Billwerder verlegt, da hat er längst aufgehört, sich zu wehren. »Man passt sich an. Man wird angepasst. Ich hatte wirklich Angst um mich.«
Adam Kowalski ist zum Musterhäftling geworden.
Als er zum ersten Mal einen Brief schreiben darf, bittet er seine Mutter um Hilfe. Die wendet sich an den Hamburger Rechtsanwalt Manfred Getzmann, der rasch herausfindet, dass es tatsächlich einen Strafbefehl gibt, gegen Adam Kowalewski, wegen Zigarettenschmuggels. Ein Beamter in Cottbus hatte sich bei der Eingabe des Namens in den Computer vertippt. Kowalewski wurde ebenfalls am 24. Dezember 1971 geboren.
Am 26. Mai wird Kowalski entlassen, nach 22 Tagen. Niemand habe sich bei ihm entschuldigt, sagt er.
Sein Anwalt kämpft um Schmerzensgeld, 250 Euro für jeden ange-fangenen Tag. Gegen die Polizisten und Justizbeamten wird ermittelt.
HAUKE GOOS