POLIZEI Der mysteriöse Tod des Herrn K.
Die Freunde Florian und Marcel, acht und neun Jahre alt, spielen am liebsten Detektiv. Wenn es dunkel wird, streifen sie mit Taschenlampen durch den Park neben ihrer Wohnsiedlung und stellen sich vor, Verbrecher zu jagen wie die Privatermittler aus den Fernsehfilmen. Hinterher erzählen sie die tollsten Geschichten.
So atemlos wie an diesem regnerischen Donnerstag abend sind Florian und Marcel jedoch noch nie von ihrem Spiel zurückgekehrt. »Es gab einen echten Kampf, Mama«, ruft Florian aufgeregt, Freund Marcel ergänzt: »Wir lagen unter der Brücke, wir konnten genau zugucken.«
Zwei Männer hätten sich im Park laut gestritten, einer mit Pistole in der Hand. »Schieß doch, schieß doch«, habe der andere gerufen, dann sei aus der Pistole »richtig Feuer rausgespritzt«. Der eine Mann sei umgefallen, der andere habe ihn hinter eine Bank gezerrt.
Der Täter, ein Mann mit Baseballkappe, Bart und Brille, sei weggelaufen. Florian habe ihn noch anleuchten wollen, doch Marcel habe dem Freund die Taschenlampe ausgeknipst: »Sonst schießt der noch auf uns.«
»Hört auf zu spinnen«, entgegnet Florians Mutter ärgerlich. »Könnt ihr nicht mal was anderes spielen? Ohne Schießerei und ohne Detektive?«
Eine Stunde später sperren Polizisten den kleinen Park im Hamburger Stadtteil Schnelsen ab. Die Wiese und die drei großen Eichen werden mit riesigen Scheinwerfern taghell erleuchtet. Florian und Marcel haben richtig beobachtet.
Unter einem Baum liegt der 43jährige Jörg K., ein Geschoß des Kalibers .22 im Brustkorb. Sanitäter können den Schwerverletzten nicht retten. Einige Zeit später kommt der Leichenwagen.
Die Gewalttat vom 21. Januar gilt inzwischen als eines der mysteriösesten Verbrechen der Hamburger Kriminalgeschichte. Der Täter ist trotz intensivster Suche spurlos verschwunden. Um die Person des Opfers ranken sich zahlreiche Rätsel. Die Polizei startete eine höchst ungewöhnliche Fahndungsaktion. Und, ganz nebenbei, zeigte sich, daß nicht nur Kinder gern Detektiv spielen.
Über die Hintergründe des Falles gibt es zwei Versionen. Die Witwe des Toten, die 50jährige Hannelore K., glaubt fest, ihr Mann sei in eine Falle gelockt und im Park gezielt hingerichtet worden. Kripo-Leute gehen dagegen von einem jener absurden Dramen im Straßenverkehr aus, die in Deutschland immer wieder Menschenleben kosten. Sie sprechen vom »Parkplatz-Mord«.
Den tödlichen Schuß, vermuten die Ermittler, feuerte ein selbsternannter Verkehrsdetektiv ab, der Falschparker verfolgte. Das spätere Opfer Jörg K. hatte seinen dunkelblauen Kia Clarus auf dem Bürgersteig einer Seitenstraße abgestellt, der Wagen behinderte Fußgänger. Als K. zurückkehrte, zerschnitt offenbar gerade ein Mann den rechten Vorderreifen des Autos.
Ein Zeuge, der zufällig vorbeikam, soll den alles entscheidenden Wortwechsel gehört haben: »Du Arschloch, du stehst auf dem Gehweg!« »Du bist ja verrückt!«
Weil K., ein kräftiger, durchtrainierter Sportler, offenbar mit Schlägen drohte, soll der Verkehrsdetektiv erstmals geschossen haben, allerdings in die Luft, danach geflüchtet sein. Doch K., behauptet ein Zeuge, sei bis zum rund 250 Meter entfernten Park hinterhergelaufen, habe den Widersacher massiv bedrängt. Der habe weitere Warnschüsse abgefeuert.
»Wahrscheinlich wollte der Schütze gar nicht töten«, sagt ein Kripo-Mann, »er hatte vermutlich sogar Angst.«
Die Detektive im Hamburger Polizeipräsidium sind sich schnell sicher: Täter kann eigentlich nur ein Anwohner sein. Kein Fremder, kombinieren sie, regt sich derart heftig über Falschparker auf.
Die Kripo-Leute appellieren an den Detektiv im Nachbarn. Auf Flugblättern fragen sie nach einem bestimmten Mann: »40 - 50 Jahre alt«, »1,70 - 1,75 Meter groß«, »auffällige Falten im Gesicht«, »teilweise gräuliche Haare«, »wohnt vermutlich in der Nähe«. Ein Phantombild, gefertigt nach Angaben des Parkplatz-Zeugen, soll das Gespür für verdächtige Ähnlichkeit schärfen.
Im Stadtteil endet die Illusion, in einer Idylle zu leben. Rund um den kleinen Park, wo verkehrsberuhigte Wohnstraßen mit gepflegten Einfamilienhäusern an eine schmucke Neubausiedlung grenzen, waren viele Bewohner stolz auf das harmonische Zusammenleben. In den Geschäften wird für das »4. Nachbarschaftsfest« geworben, mit »Zauber-Clowns« und »Kicker-Turnier«. Motto: »Wir wollen wieder mit Euch feiern.«
Plötzlich entsteht eine Atmosphäre von Angst und Mißtrauen. Ähnelt der Mann auf dem Fahndungsplakat nicht dem neuen Mieter von nebenan? Warum sind die Leute von gegenüber seit dem Vorfall verreist? Hat nicht der Hausmeister eine Waffe?
Karl Groth gerät als erster ins Visier, noch am Abend der Tat. Der 53jährige Familienvater hat öfter Falschparker angezeigt, an Silvester mit einer Schreckschußpistole herumgeknallt, gilt als Einzelgänger.
Nachts um halb drei stemmen Männer eines Mobilen Einsatzkommandos mit einem Rammbock seine Wohnungstür auf. Eine Blendgranate explodiert. Maskierte Beamte stürzen sich auf die Bewohner, die in ihren Betten liegen. Groths 14jähriger Sohn Dennis bekommt eine Maschinenpistole an den Kopf gehalten, der 8jährige Andreas verkriecht sich aus Angst unter der Decke. Karl Groth wird in Handschellen abgeführt.
Am nächsten Morgen kommt er wieder frei: falscher Verdacht. Groth besitzt keine scharfe Pistole. Die Mitbewohner bleiben skeptisch. Sie grüßen seitdem nicht mehr, gucken weg. Groths Söhne haben einen Schock erlitten, müssen zur Kur. Beide werden psychologisch betreut.
»Der Mann paßte genau ins Täterprofil«, begründet eine Polizeisprecherin den harten Zugriff. Er sei als unberechenbar geschildert worden - man wisse ja nie.
Täglich kommen weitere Hinweise, die Nachbarschaftshilfe funktioniert. Viele Tips werden anonym abgegeben: Was ist eigentlich mit dem Kerl, der immer so wichtig mit Plastiktüten durch die Gegend läuft und leere Dosen aufklaubt? Wurde der Geländewagenfahrer mit den großen Hunden schon kontrolliert?
Die Beamten prüfen Dutzende Verdächtige: vergeblich. Nach Wochen mühevoller Recherchen glauben sie, die entscheidende Idee zu haben: Sie stecken ein Gebiet auf dem Hamburger Stadtplan ab und schalten ihre Computer ein. Tage später erhalten 253 Männer aus der Umgebung des Tatortes, alle zwischen 40 und 60 Jahren alt, Post von der Mordkommission:
Bitte erklären Sie sich dazu bereit, daß ein Foto von Ihnen gemacht wird, um es den Zeugen vorzulegen, und melden sich deshalb im Kindertagesheim Grothwisch 23. Bitte bringen Sie Ihren Personalausweis mit.
Die bundesweit einmalige Aktion soll den Todesschützen überführen oder zumindest irritieren: Vielleicht läßt er sich schnell noch die Haare färben. Vielleicht kauft er sich andere Kleidung. Vielleicht wird er plötzlich krank und kann nicht kommen.
»Der Mann hat sich bestimmt verändert«, mutmaßt Hauptkommissar Michael Sperling von der Mordkommission. »Wahrscheinlich ist er viel vorsichtiger geworden, zieht sich von Angehörigen und Bekannten zurück, geht nirgends mehr hin.«
Die meisten Anwohner erscheinen jedoch pünktlich zum Fototermin. Der Inhaber des Lottogeschäfts. Der Kellner des jugoslawischen Restaurants. Der Arbeitslose mit Bart. Der Frührentner ohne Bart. Der Hausmeister mit Bart und Brille.
Geknipst wird mit einer Spiegelreflexkamera. Einmal im Sitzen, einmal im Stehen. Dazu ein paar Fragen: »Wo waren Sie zur Tatzeit?« »Besitzen Sie eine Waffe?« »Haben Sie Ihr Aussehen verändert?«
Wer den Termin schwänzt, gerät unter psychologischen Druck, bekommt Hausbesuch von der Kripo. Der ehemalige Siemens-Manager Heinz-Hermann Hendrich, 59, erinnert sich an folgenden Dialog in seinem Wohnzimmer:
»Sie sind mitten in unserem Fahndungskreuz, Herr Hendrich.«
»Wieso denn?«
»Sie haben kein Alibi.«
»Meine Frau hat doch bezeugt, daß ich hier war.«
»Die zählt nicht. Außerdem behaupten Nachbarn, Sie hätten sich plötzlich Ihren Bart abrasiert.«
»Aber das ist doch schon zwei Jahre her.«
»Beweisen Sie das mal.«
Hendrich kann es beweisen. Und er läßt sich auch, unter Protest, fotografieren. Jetzt fehlten nur noch »eine Handvoll«,
* In seinem Versteck unter der Brücke.
frohlockt ein Kripo-Beamter, das Netz um den Täter werde täglich enger - womöglich eine zu optimistische Einschätzung.
Die Witwe und Freunde des Opfers etwa sind sicher, daß die Polizei bei der Suche nach dem geheimnisvollen »Parkplatz-Mörder« eine falsche Spur verfolgt. »Mein Mann muß seinen Mörder gekannt haben«, behauptet Hannelore K. Als Motiv vermutet die Frau einen Racheakt im kriminellen Milieu.
Ihre Geschichte ist die Geschichte eines gescheiterten Resozialisierungsversuchs. Jörg K. saß wegen professionell verübter Serieneinbrüche in der berüchtigten Hamburger Haftanstalt Fuhlsbüttel. Bei der Justiz galt er als Rückfalltäter. Doch als er nach seiner Entlassung 1997 heiratet, verspricht er seiner Frau, die sich an der Vergangenheit nicht stört, nie wieder kriminell zu werden. Hannelore K., die ihn während eines Hafturlaubs kennengelernt hat, glaubt ihm.
Doch weil er in seinem erlernten Kaufmannsberuf keine Stellung findet, weil die Hilfsjobs auf dem Bau zu wenig einbringen, rutscht K. erneut ab. Er soll wieder heimlich auf Einbruchstouren gegangen sein, in Hehlerkneipen gestohlenen Schmuck angeboten haben. Seine Frau, die wegen des häufigen Fernbleibens mißtrauisch wird, beruhigt er mit Ausflüchten.
Zuletzt, berichten Bekannte, wollte K. sogar beim extrem gefährlichen Geschäft mit russischen Prostituierten mitmischen. Er habe befristete Aufenthaltsgenehmigungen besorgt, günstige Appartements gesucht, in der Szene nach dem Preis von Scheinehen gefragt. In seinem Auto wurden Frauenfotos und eine Adresse aus St. Petersburg gefunden.
»Für so was war Jörg nicht hart genug«, urteilt ein ehemaliger Kumpel, »das war eine Nummer zu groß für ihn.« Seine Vermutung: Im Park gab es Streit mit einen Mädchenhändler, der Konkurrenz witterte und Jörg K. erschoß - eine Theorie, die auch von der Witwe geteilt wird, die Kripo-Leute jedoch als unwahrscheinlich verwerfen.
Allerdings: Auch die Beamten konnten bislang nicht herausfinden, was Jörg K., der am anderen Ende Hamburgs wohnte, nach Schnelsen führte. Lebt dort jemand, den er kannte? Sollte im Park ein Treff stattfinden? Wollte K. einen Einbruch ausbaldowern?
Die Polizei sucht jedenfalls weiter nach einem bewaffneten Verkehrsrowdy, nach dem Parkplatz-Mörder - auch wenn die Jagd einen Rückschlag erlitten hat: Phantombild und Personenbeschreibung sind vermutlich falsch. Drei Monate nach dem Verbrechen sammeln die Polizisten ihre Fahndungsplakate wieder ein.
Grund: Der Hauptzeuge, der den Streit am Auto sah, prägte sich offenbar in der Hektik nicht das Aussehen des Täters, sondern das des späteren Opfers ein. Die Phantomzeichnung gleicht deshalb verblüffend den Gesichtszügen von Jörg K.
Der Sinn der aufwendigen Fotoaktion ist seitdem ebenfalls fraglich. Denn wie soll dieser Zeuge auf Hunderten von Bildern Ähnlichkeiten zu einem Mann entdecken, den er womöglich nicht genau gesehen hat?
Die Profis von der Mordkommission hoffen jetzt statt dessen auf die Kinderdetektive Florian und Marcel - eine Wendung, die aus einem Roman von Erich Kästner stammen könnte.
Marcel glaubt nämlich, daß er den Mann mit der Pistole im Park wiedergesehen hat. Das hat er jedenfalls seinem Freund Florian erzählt. Der berichtete die Neuigkeit seiner Mutter, die erzählte sie einem Kripo-Beamten weiter.
Gesucht wird jetzt auch ein Mann mit Baseballkappe, Bart und Brille, der womöglich häufig in Schnelsen spazierengeht.
[Grafiktext]
kurzer Entfernung Das Verbrechen im Park 1 Jörg K. kommt zu seinem parkenden Auto. Ein Unbe- kannter schießt nach einem Streit in die Luft. Wegstrecke der beiden streitenden Männer. 2 Jörg K. wird aus kurzer Entfernung erschossen. 3 Zwei Jungen be- obachten die Tat.
[GrafiktextEnde]
* In seinem Versteck unter der Brücke.