Warninstrument Handy »Im Entengang«
SPIEGEL: Gerade hat mein Mobiltelefon schrill gepiept, wie bei vielen Menschen in Bayern und Nordrhein-Westfalen am Donnerstag. Was bringen solche Warntage mit Probealarmen?
Gerhold: Sie können dazu beitragen, dass wir etwa das Warninstrument Handy überhaupt in dieser Funktion wahrnehmen. Das Telefon lässt sich technisch über das sogenannte Cell Broadcasting recht gut ansteuern, es braucht dazu nicht unbedingt eine App. Insgesamt geht es darum, mehrere Warnkanäle in unsere Sicherheitskultur zu integrieren und zu testen.
Lars Gerhold, 46, ist Professor für die Psychologie soziotechnischer Systeme an der TU Braunschweig und wissenschaftlicher Leiter des Forschungsforums Öffentliche Sicherheit.
SPIEGEL: Bewirken die Warntage nicht das Gegenteil: dass die Vorgewarnten abstumpfen und Alarme ignorieren?
Gerhold: Aus der Forschung wissen wir, dass das vorwiegend bei Leuten passiert, die gar nicht gewarnt werden möchten oder darin keinen Sinn für sich selbst sehen. Die Mehrheit empfindet eher, dass sie zur Gemeinschaft der im Ernstfall zu Warnenden gehört. Außerdem sind die Innenstädte so digitalisiert, dass Sie dort Warnungen kaum ignorieren können, zum Beispiel auf Werbedisplays oder in öffentlichen Verkehrsmitteln.

Vier Umschläge aus Moskau
Mitten im brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine soll ein Agent des Bundesnachrichtendienstes geheime Informationen an den Aggressor geliefert haben. Geholfen haben offenbar ein russischer Unternehmer und ein Diamantenhändler. Warum haben die Kontrollmechanismen versagt?
Lesen Sie unsere Titelgeschichte, weitere Hintergründe und Analysen im digitalen SPIEGEL.
SPIEGEL: Wie sollen Warnungen am besten formuliert werden? Gerhold: Nicht abstrakt, sondern mit einer konkreten Handlungsaufforderung – zum Beispiel, für die Zeit eines Starkregens zu Hause zu bleiben, Fenster zu schließen. Dazu werden stärker maßgeschneiderte, personalisierte Ansprachen kommen, zum Beispiel für ausgebildete und registrierte Ersthelfer.
SPIEGEL: Bei allem Hightech: Viele sehnen sich danach, dass im Fall der Fälle wie früher fest installierte Sirenen heulen. Die wurden aber vielfach abgebaut. Wäre das nicht am sichersten?
Gerhold: Am sichersten ist es, verschiedene Warnwege zu kombinieren, denn das Feld der Adressaten ist sehr breit. Dazu gehören auch Menschen, die gehörlos sind, die nicht sehen können oder kein Handy besitzen. Wenn etwa eine Giftwolke austritt und über bestimmte Wohngebiete zu ziehen droht, dann können wir auch auf Lautsprecherwagen nicht verzichten.
SPIEGEL: Wovor sollen die Bürgerin und der Bürger überhaupt gewarnt werden?
Gerhold: Vor dem, was ihr Leben, ihre Gesundheit oder ihnen wichtige Güter bedrohen könnte. Es kann auch darüber hinausgehen: Man sollte den Empfängern ein Stück weit selbst überlassen, vor was sie gewarnt werden wollen, etwa in den Einstellungen der Apps.
SPIEGEL: Woran mangelt es in der deutschen Warnkultur?
Gerhold: Wir sollten über einen bundesweiten Tag des Bevölkerungsschutzes nachdenken: einen Tag pro Jahr, an dem die Sicherheit vor Ort an den verschiedensten Stellen durchdacht und erprobt wird. Was heißt es, wenn in einer Redaktion, in der Schule oder sogar im Krankenhaus die kritische Infrastruktur ausfällt? Was bedeutet es, wenn in einer Stadt der Strom weg ist oder die Supermärkte geschlossen sind? Es geht darum, dass wir in kritischen Situationen handlungsfähig bleiben. Das hat mit Alarmismus nichts zu tun.
SPIEGEL: Welche Länder machen es besser?
Gerhold: Solche Tage gibt es beispielsweise in den USA oder in Japan, in Ländern, die in der Vergangenheit häufiger von Naturereignissen getroffen wurden. In Japan lernen Schüler etwa, wie sie sich bei einem Erdbeben verhalten, wie sie durch einen Raum gehen, in welchem die Scheiben zerborsten sind: nicht mit den Händen auf dem Boden, sondern im Entengang. Es gibt dort Tools, die helfen, eine Vorstellung davon zu entwickeln, was es bedeutet, wenn ein Raum einen Meter unter Wasser steht. Da haben wir noch Nachholbedarf.